Die Tränen des Mohns

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„Nein!", rief er und nochmals „Nein!", während er Tabitha daran hinderte, sich an ihm vorbei zu drängen. „Ihr könnt nicht hinein, es ist alles voller Blut", fügte er wie zur Entschuldigung hinzu.

„Er ist mein Mann und ich werde zu ihm gehen", stellte Tabitha fest und sah Kyron dabei entschlossen in die Augen. Sie sprach wie die Herrin, die sie war, es war kein Zweifel in ihrer Stimme, nicht einmal die Möglichkeit, dass sie ihren Willen nicht durchsetzen würde, schien in ihrer Vorstellung zu existieren. Doch auch Kyron war entschlossen, selbst wenn seine Haut noch blasser wirkte als sonst und seine blauen Augen genau zu wissen schienen, dass der Ungehorsam, den er gerade zeigte, ganz und gar unerhört war. So verharrten sie eine Weile unbeweglich. Keiner von ihnen konnte sich bewegen, ohne den anderen anzufassen und wegzuschieben. Und da das für beide gleichermaßen unschicklich gewesen wäre, verharrten sie bloß in ihrer Position und starrten einander stumm an. Schließlich war Kyron der Erste, der einen Hauch von Schwäche zeigte, indem er für einen kurzen Moment den Blick abwandte. Tabitha nützte die Gelegenheit, machte einen Schritt auf ihn zu und drängte sich geschickt an seiner linken Schulter vorbei durch die Tür, die sie mit einem entschlossenen Fußtritt aufgestoßen hatte.

Als sie den Raum betrat, wandte der Großteil der Anwesenden sich ihr erschrocken zu. Bei den meisten handelte es sich um Soldaten aus Eleazars Garde. Sie hatten sich in den vier kleineren Verwaltungsräumen, welche den zentralen Raum symmetrisch umgaben, in Grüppchen zusammengefunden, schwiegen oder wechselten mit gedämpfter Stimme ein paar Sätze und schienen insgesamt zu warten, dass sie früher oder später aus dem unmittelbar angrenzenden Schlafgemach ihres Befehlshabers eine Nachricht erreichen würde. Tabitha atmete tief durch, doch der intensive Geruch von Weihrauch bot ihr keine Erleichterung. Mirjam hat Recht, sagte sie sich, ich bin noch zu schwach. Ihr Blick fiel auf einen Korb voll mit von Blut getränkten Tüchern, das zwei Mägde gerade hinaustrugen. Wieder spürte sie den Schwindel zurückkehren, war unsicher, ob ihre Beine sie tragen würden.

Sie wollte sich stützen, aber dann hätte sie ihren Weg nicht fortsetzen können. In dem Moment spürte sie eine zaghafte Berührung an der Schulter. Es war Kyron, der ihr seinen Arm anbot. Den Blick hielt er gesenkt.

„Ich kann nur beten, dass ihr mir verzeihen mögt", flüsterte er so leise, dass Tabitha nicht einmal zu entscheiden vermochte, ob er die Worte gesprochen oder sie sie sich bloß eingebildet hatte. Jedenfalls war sie dankbar für seine Anwesenheit, ließ sich bereitwillig von ihm unter den Arm fassen und sie legten gemeinsam die letzten Schritte bis zu Eleazars Bett zurück.

„Es gibt nichts zu verzeihen, Kyron. Ich weiß, dass du mich beschützen wolltest", erwiderte sie freundlich, auch wenn es ihr schwerfiel, in ihren Gedanken etwas andere zuzulassen als einen einzigen Namen. Eleazar, hallte es in ihr, immer wieder nur Eleazar.

Der Raum schien ihr schwer. Die Tränen des Mohns, sagte sie sich und wusste zugleich, dass der Medicus, welcher an der Seite ihres Mannes stand und ihr damit die Sicht auf ihn verstellte, die Weihrauchsalbe eingesetzt haben musste, um Eleazars Wunden zu reinigen und die Blutung zu stillen. Am Boden kniete Kaleb. Er trug noch immer den Brustteil seiner Rüstung, etwas oberhalb seines Ellbogens klaffte eine nicht allzu tiefe, dafür aber lange Fleischwunde, die offensichtlich noch niemand für der Mühe wert befunden hatte, versorgt zu werden. Er hielt die Hand seines Herrn, schien ganz in die Berührung vertieft. Sein Kopf war gesenkt. Wie damals, dachte Tabitha, als ich ihn geschlagen habe. Dann sah sie sein Gesicht. Er weinte. Instinktiv wich Tabitha einen Schritt zurück, denn es gab nichts, was sie von dem ansonsten so lauten und brutalen jungen Mann, der seinem Mentor an Härte kaum nachstand, weniger erwartet hätte.

Jetzt wandte der Arzt sich von Eleazar ab. Das Licht der Fackeln tanzte wild und verwandelte das müde verschwitze Gesicht des Alten in eine eigenartige Fratze. Er hatte einen Holzkoffer bei sich, unter dem rechten Arm blitze eine etwa zwei Ellen lange Säge hervor. Er verbeugte sich knapp. Oder zumindest hatte Tabitha den Eindruck, denn die Bilder in ihrem Kopf hatten sich längst zu drehen begonnen und sie wusste nicht, ob der Raum, den sie wahrnahm, in irgendeiner Weise der Wirklichkeit entsprach. Doch Kyrons Griff, der die ganze Zeit schon das einzige war, was sie noch auf den Beinen hielt, war kräftig und unbeirrt, und so zwang sich Tabitha auch weiterhin bewusst zu atmen und sah dem Medicus, anstatt seinen Gruß zu erwidern, forschend in die Augen.

„Ich konnte die Hand nicht erhalten", meinte der Mann stumpf. Die Sachlichkeit, mit der er sprach, stand in einem eigenartigen Widerspruch zu der Bedeutung seiner Worte. Tabitha sah ihn entsetzt an, dann richtete sie ihren Blick wieder auf Kaleb und erst jetzt bemerkte sie, dass er zwar die linke Hand ihres Gatten fest umschlungen hielt, Eleazars rechter Arm dagegen in einem mit dichtem weißem Leinen umwickelten Stumpf mündete. „Die Verletzung war zu tief", setzte der Medicus fort. „Wer die Genesung will, tut besser daran, dem Patienten etwas Gesundes wegzunehmen, als von dem Verletzten und Entzündeten etwas stehenzulassen."

Tabitha nickte stumm und musste ein Würgen unterdrücken. Ein Lehrsatz der Medizin, schoss es ihr durch den Kopf. Sie musste ihn schon einmal gehört haben. Mechanisch gab sie Kyron nach, ließ zu, dass er sie zu dem Scherensessel führte, den man für sie bereitgestellt hatte. Schweigend nahm sie darin Platz, trank mit einem Schluck den Kelch leer, den ihr der Arzt reichte. Es war eine zähe bittere Flüssigkeit, die sie ganz mit Ekel erfüllte. Sie beugte sich vor, denn sie wollte Eleazar näher sein, und doch hielt sie etwas davor zurück ihn zu berühren. Seine Augen waren geschlossen, das Haar vom Blut verklebt, die Schürfwunden in seinem Gesicht und der Schnitt oberhalb der linken Augenbraue dagegen mussten bereits gesäubert worden sein.

„Lasst uns allein!", scharf und kalt durchdrang der Befehl die gedrückte Stille. Sofort kam Bewegung in den Raum, nur Kaleb und Kyron zögerten, dem Kommando nachzukommen. „Das gilt gefälligst auch für euch!" Die Stimme klang nun drohend.

Mit einem sicheren Handgriff packte der Mann Kyrons volles Haar und zwang ihn damit, den Platz an Tabithas Seite, wo er in sich zusammengesunken kauerte, aufzugeben. Kaleb dagegen verscheuchte er mit zwei kräftigen Fußtritten. Tabitha wandte sich dem Mann zu. Es war Herodes. Sein Brustpanzer war aus Bronze, er spiegelte das Lodern des Feuers. Das schulterlange schwarze Haar war gelockt und wurde von einer Stirnbinde zusammengehalten.

„Er wird wieder gesund," sagt er, mit einem Mal wohlwollend und weich. „Seid zuversichtlich." Während er sprach, schob er einen weiteren Sessel an das Bett heran und setzte sich. Tabitha war noch immer wie erstarrt. Es gab so viele Fragen, die sie hätte stellen wollen, doch sie hatte kein Vertrauen, dass ihre Stimme ihr gehorchen würde. „Ich kenne keinen, der es versteht zu kämpfen wie er", meinte stattdessen Herodes. „Ihr werdet sehen: Wie er sich am Feld dem Feind entgegenstellt, wird er jetzt dem Tod widerstehen."

Tabitha nickte. Jetzt endlich streckte sie die Hand nach ihrem Gatten aus, strich vorsichtig über das verkrustete Haar, jetzt erst gelang es ihr zu weinen.

„Ich könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren", stieß sie unter Schluchzen hervor.

„Ich weiß", gab Herodes sanft zurück. Kurz zuckten seine Wimpern. „Er ist in der Nähe von Alexandreion verwundet worden", fuhr er fort, „der Weg nach Jericho war beschwerlich, aber in jedem Moment", er unterbrach sich kurz, wirkte unsicher. „In jedem Moment, wo er nicht bewusstlos war, hat er von euch gesprochen."

Kurz blieb es still. Tabitha rückte ihren Sessel noch näher an das Bett heran. Dann legte sie ihren Kopf vorsichtig auf Eleazars Schulter. Sie hörte ein Herz schlagen, aber sie wusste nicht, ob es ihr eigenes war oder das seine. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ruhten auf Herodes, auch wenn der weder etwas sagte noch etwas tat. So verharrten sie eine Weile.

„Vielleicht", meinte Herodes schließlich, „vielleicht, habe ich dabei gedacht, gibt es das doch, was das gemeine Volk Liebe nennt. Und ausgerechnet Eleazar musste es mich lehren."

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