Charilaos

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Nachdem sie ihren letzten Satz beendet hatte, ging sie fort. Den alten Mann hatte sie nicht gegrüßt, die Tür stand noch immer offen. Silas ließ seinen Blick eine Zeit lang auf den Abdrücken ruhen, welche die Sandalen der Ägypterin im Sand hinterlassen hatten. Unwillkürlich musste er an die Geschichte von Josef denken, wie er sie aus der Torah kannte. Josef war von seinen Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft worden, hatte aber das Wohlwollen seines Herrn, Potifar, gewinnen können. Allerdings hatte er das Pech, von Potifars Frau begehrt zu werden. Wütend darüber, von Josef zurückgewiesen zu werden, hatte sie ihn verleumdet und in den Kerker werfen lassen.

Bei mir war es bis jetzt anders, dachte Silas. Ich bin von meinen Feinden verkauft worden, habe es gleich geschafft, den Zorn meines Herrn auf mich zu ziehen und bin von der Tochter des Hauses mehr oder weniger gerettet worden. Von draußen drangen laute Stimmen zu ihnen herein, dann ein dumpfes Geräusch wie von einem Schlag, der mit der Hand oder mit einem breiten Gegenstand ausgeführt worden sein musste. Nicht nur gerettet, sagte sich Silas. Nayla hatte ihn getröstet, ihm einen Heiler geschickt, damit seine Wunden versorgt würden. Sie war sanft, man konnte mit ihr lachen und sie schien ihm seine Frechheit zu verzeihen. Und doch war sie gefährlich. Silas musste sich vor ihr in Acht nehmen, wenn er überleben wollte, das wusste er. Vor ihr wie vor ihrem Bruder, wenngleich aus ganz unterschiedlichen Gründen.

„Befinden wir uns im Herrenhaus?" fragte er den alten Mann, denn er wollte nicht mehr an seine Herrin denken und daran, welche eigenartige Mischung von Gefühlen sie in ihm auslöste.

„Nein", antwortete Charilaos. „Das ist nur eine Sklavenbaracke. Im Palast sind die Wände gemauert und die Böden aus Marmor." Während der Alte sprach, bemerkte Silas, wie sauber und akzentfrei sein Griechisch war. Auch trägt er einen griechischen Namen, überlegte Silas und wunderte sich, warum ihm das nicht zuvor schon aufgefallen war.

„Seid ihr Grieche?" erkundigte er sich.

„Ja, das bin ich. Ich stamme aus Naxos. Aber gar so höflich brauchst du mit mir nicht zu sprechen, Junge. Ich bin in diesem Haus nur ein Sklave wie du."

„Wie das?" entfuhr es Silas und ihm war zugleich bewusst, dass seine Frage reichlich überflüssig war. Warum sollte ein Bürger von Naxos nicht als Sklave in einem ägyptischen Haushalt dienen? Es gab viele Gründe, warum einer als Sklave verkauft werden konnte. Vielleicht hatte er seine Schulden nicht bezahlen können, war Piraten zum Opfer gefallen oder hatte ein Verbrechen begangen.

„Ich bin als Kriegsgefangener hergekommen", sagte Charilaos ausdruckslos.

Dabei legte er Silas die letzte Binde über die Schultern. Das Brennen, das von seinem Rücken ausging, war derart grenzenlos, dass es Silas vorkam, als hätte sein ganzer Körper Feuer gefangen. Kurz überlegte er, ob seine Qualen vor der Behandlung nicht vielleicht sogar erträglicher gewesen waren. Die Frage war schwer zu entscheiden. Allerdings begriff er allmählich, dass er den Schmerz jetzt besser annehmen konnte. Denn er wusste, dass der Weihrauchharz seine Wirkung zeigen würde, dass er die Wunden reinigen und die Heilung beschleunigen würde. Die beißenden Stiche, mit denen die Tinktur in die aufgerissene Haut eindrang, hatten etwas Gutes, sie waren dazu da, dass seine Verletzungen heilen konnten.

Als kleiner Junge hatte er sich einmal in einer Truhe versteckt, um einer Magd bei der Geburt ihres Kindes zuzusehen. Danach hatte er seine Mutter gefragt, ob es nicht in Wahrheit die Frauen seien, die den Männern an Tapferkeit weit überlegen wären. Seine Mutter hatte gelacht und ihm gesagt, dass ein Schmerz, der zu etwas Gutem führt, leichter hinzunehmen sei als ein Schmerz, der nur Zerstörung und Tod bringt. Beim Gedanken an seine Mutter wurde Silas wehmütig.

„Aber du bist ein Heiler?" fragte er daher schnell, wie um sich abzulenken.

„Ich bin ein Arzt", korrigierte ihn Charilaos. „Ich habe den Eid des Hippokrates geschworen." Es entstand eine kurze Stille. „In diesem Haus arbeite ich auch als Lehrer", fügte er dann tonlos hinzu. Er begann seinen Beutel einzuräumen. „Eine Sklavin wird dir zu essen bringen." Charilaos wandte sich zum Gehen.

„Warte, bitte", rief Silas beinahe bestürzt. „Erzähl mir vom Hausherrn, vom Leben hier."

„Jetzt nicht", erwiderte der Alte. „Ich habe noch zu tun. Vielleicht morgen, wenn ich deine Verbände wechsle."

In den nächsten Tagen hatte Silas noch öfter die Gelegenheit, sich mit dem griechischen Arzt zu unterhalten. Denn Charilaos nahm seine Aufgabe sehr ernst und wechselte Silas Verbände morgens und abends. Was den Hausherren betraf, war der alte Mann allerdings nicht besonders gesprächig. Er lobte Harendotes für seine Klugheit, Gerechtigkeit und Güte. Aber da er alles in allem auch über den jungen Herrn, dessen Bekanntschaft Silas bereits gemacht hatte, nur Gutes zu sagen wusste, war anzunehmen, dass Charilaos sich in erster Linie keinen Ärger einhandeln wollte. Nachdem Silas es also aufgegeben hatte, etwas Brauchbares aus dem Alten herauszubekommen, versuchte er ihn zu überreden, ihm Demotisch beizubringen. Aber auch damit hatte er keinen großen Erfolg. Wann immer Silas einen Versuch startete, tat Charilaos so, als habe er größte Mühe seine Worte zu verstehen, mehr noch zu begreifen, was Silas eigentlich von ihm wollte. Das wiederum führte Silas auf den Stolz zurück, den der Grieche trotz der vielen Jahre der Sklaverei noch immer in sich trug. Nicht zuletzt, da er ihm einmal gesagt hatte, dass es nur eine Weltsprache gäbe und für immer nur die eine geben werde.

Ergiebiger waren dagegen ihre Gespräche über die griechische Philosophie. Thales, Parmenides, Demokrit, der Arzt kannte sie alle, und wenn das Thema auf ihre Schriften kam, erstrahlte mit einem Mal das alte graue Gesicht, die Augen begannen zu leuchten und der trockene unbehaarter Schädel zeigte die Mimik wie von einem in leidenschaftlicher Liebe entbrannten Jüngling. Gemeinsam zitierten sie aus der Atomlehre, dachten über den Urgrund aller Dinge und über das Unbegrenzte nach. Da es Silas noch immer große Mühe bereitete sich aufzurichten, lag er die meiste Zeit ausgestreckt am Boden, hörte Charilaos mit klarer, wacher Stimme sprechen und beobachtete dabei die geschwollenen alten Hände, die nach getaner Arbeit ruhig im Schoß des Arztes ruhten. Der hockte neben ihm am Boden in einer schäbigen Sklavenbaracke und wählte seine Worte doch mit solcher Sorgfalt, als würde er in Athen auf dem Pnyxhügel am Rednerpult stehen und eine Ansprache halten.

Einmal erhielt Silas Besuch von Nayla. Doch er stellte sich schlafend und so blieb sie nur einen kurzen Moment, sprach leise ein paar Worte, die er nicht verstand, und strich ihm sanft über das Haar. Ihre Berührung tat ihm gut, und es kostete ihn viel Kraft, die Augen nicht zu öffnen. Sie ist ein reiches verzogenes Mädchen, sagte er sich, nichts weiter. In einem Moment hat sie Freude an ihrem Spielzeug, im nächsten stößt sie es mit Verachtung von sich. Als Nayla gegangen war, spürte Silas eine Leere in seinem Herzen und ärgerte sich zugleich, dass es ihr offensichtlich so leicht gelang, ihn aus seiner selbstgewählten Gleichgültigkeit herauszureißen.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt