Im Kerker

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Der Keller der Baris, jener gewaltigen Festungsanlage, welche die Nordmauer des Tempelbezirkes vor Angreifern schützte, war feucht. Von der Decke tropfte das Wasser und an den teils schimmligen, teils mit Moos bewachsenen Wänden lehnte ein knappes Duzend Männer, die sich allesamt mit Silas eine Kerkerzelle teilten. Es waren Taschendiebe, Wucherer, Mörder oder einfach nur arme Narren, die aus irgendeinem Grund das Missfallen der Römer auf sich gezogen hatten. Es gab Alte und Junge, manche stumm, andere, die man erst unlängst gefoltert hatte, stöhnten oder schrien vor Schmerzen. Die einen schienen in einem irren Wahn, die anderen verharrten in stumpfer Resignation. Silas hatte sich bis jetzt nicht hingesetzt, denn der Boden war von Exkrementen bedeckt und er war noch unentschlossen, ob es ihn mehr vor dem Kot der anderen Gefangenen oder vor den Ratten ekelte, die über die Füße der Männer huschten. Er hatte die letzten vier Tage an einen Pfahl gekettet im Hof des römischen Vorpostens verbracht, kaum getrunken und noch weniger gegessen. Am Tag war er der sengenden Sonne schutzlos ausgeliefert gewesen, in der Nacht der Kälte. Schließlich hatte ihn der Fußmarsch nach Jerusalem, zu dem man plötzlich in aller Eile aufgebrochen war, völlig entkräftet, weshalb er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Während er unschlüssig dastand und seinen Blick von einem Häftling zum anderen wandern ließ, wurde draußen an der Gittertür hantiert.

„Du da, mit den hellen Haaren", rief ein Soldat und einer der Gefangenen nickte ihm auffordernd zu. Silas drehte sich um und bemerkte, dass tatsächlich er gemeint war. Er machte ein paar Schritte auf die Tür zu. Die öffnete sich einen kleinen Spalt, wurde zugleich jedoch durch die Lanzen der Legionäre gesichert. Hände griffen nach ihm und zerrten ihn grob aus der Zelle. Dann wurden ihm die Arme auf den Rücken gerissen und mit einem Seil fixiert. Das tanzende Licht der Fackeln ließ die Szene unwirklich erscheinen, doch Silas wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich in Tagträume zu flüchten. Dass die Römer ihn geholt hatten, konnte ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sein, und wie auch immer, er würde es bald herausfinden. Unsanft wurde er einen Gang entlang gestoßen. Der Soldat hinter ihm trat ihm dabei immer wieder mit der Ferse gegen den Unterschenkel. Er trug genagelte Sandalen und Silas kam es vor, als könnte er jeden einzelnen Nagelkopf in seinen Waden spüren.

Schließlich schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Eine Tür wurde aufgestoßen und sie betraten einen kleinen dunklen Raum mit einem einzigen schmalen Fenster. An den Wänden hingen verschiedene Foltergeräte. Was können sie von mir wollen, überlegte Silas und er spürte, wie ein Gefühl von Panik sich in ihm ausbreitete. Informationen über den Maskil? Doch warum hatten sie dann all die anderen Gefangenen mit Ausnahme von Jonathan und ihm abgeschlachtet, anstatt sie zu verhören? Die Tür wurde geschlossen. Ihm gegenüber standen zwei Soldaten. Einer hielt eine Hasta in der rechten Hand.

Er kam auf Silas zu und deutete ihm sich vorzubeugen. Silas gehorchte. Dann schob der Legionär die Lanze unter seiner rechten Achsel hindurch, führte sie hinter seinem Rücken vorbei und ließ sie unter der linken Achsel wieder hervortreten. Er zog Silas Arme brutal nach unten, verbesserte die Fesseln, griff nach dem Seil, das von der Decke herabhing, und befestigte es in der Mitte der Hasta. Dann nickte er dem anderen Soldaten zu. Der straffte das Seil, sodass Silas in die Höhe gezogen wurde und den Boden unter den Füßen verlor. Silas schrie vor Schmerz laut auf. Durch das Gewicht war der Schaft tiefer unter seine Achseln gerutscht. Die gewaltsam nach hinten gerissenen Oberarme brannten unerträglich und sein Brustkorb schien unter der Tortur zu zerreißen. Silas atmete heftig. Er hatte Angst, das war sinnlos zu leugnen. Alles in ihm drängte danach, die Soldaten um Gnade anzuflehen. Doch er hatte sein ganzes Leben von der Tapferkeit geträumt und so blieb er stumm und biss lediglich die Zähne fester aufeinander, so fest, dass er zwischen den Kauflächen ein leises Krachen hören konnte. Wieder schien der Soldat ein Zeichen zu geben, woraufhin der andere das Seil ein kleines Stück frei gab.

Silas konnte nun den Boden berühren, mehr noch, er konnte auf den Zehenspitzen stehen und auf diese Weise vor dem höllischen Schmerz ausweichen. Er bemühte sich, einen sicheren Halt zu finden, denn er wusste, dass jedes Wanken, jeder Verlust an Boden ihn der Tortur erbarmungslos ausliefern würde. Es ist erträglich, sagte er sich und hoffte damit das Rasen seines Herzens beruhigen zu können. Die Soldaten standen jetzt nebeneinander, ihm zugewandt. Sie hatten die Handgriffe so mechanisch ausgeführt, als gäbe es nichts Alltäglicheres, als einem Menschen Höllenqualen zuzufügen. In ihren Gesichtern zeigte sich keine Regung. Silas wusste nicht, was sie mit ihm vorhatten, doch er wusste, dass sie jeder Zeit bereit waren, das Seil anzuziehen und die Marter wieder aufzunehmen. Ich muss mich ablenken, ermahnte er sich. Nicht daran denken, was auf mich zukommt. Doch das war schwierig, denn wohin er seinen Blick auch richtete, entdeckte er doch nichts als weitere Foltergeräte. Blieben nur die Legionäre in ihrer sauberen unbeteiligten Rüstung. Silas zwang sich also, seine Konzentration auf die Kleidung der Legionäre zu richten und da er es vermeiden wollte, ihnen in die Augen zu sehen und sie damit womöglich zu provozieren, begann er erst bei der Schulterdoppelung und den kurzen Scheinärmeln ihrer Kettenhemden. Darunter trugen sie ein gepolstertes Subarmalis, das in demselben satten Rotton gehalten war wie ihre Tunika. Die überkreuzt geschnürten Gürtel boten sowohl dem Kurzschwert als auch dem Dolch Halt und mit den genagelten Sandalen der Legionäre schließlich hatte Silas bereits Bekanntschaft gemacht.

Da wurde hinter seinem Rücken die Tür geöffnet. Silas wusste sofort, dass die schweren Schritte nur dem Mann gehören konnten, auf den die Soldaten die ganze Zeit über gewartet hatten. Und er wusste auch, was dies für ihn bedeuten musste: Das Verhör würde nun beginnen. Die Legionäre grüßten steif. Angsterfüllt beobachtete Silas die Hände des einen Soldaten und tatsächlich, er zog mit einem kräftigen Ruck an dem Seil. Obwohl die Tortur jetzt, wo er bereits längere Zeit in der so qualvollen Haltung verharrt hatte, noch unerträglicher war, hatte sich Silas diesmal innerlich vorbereitet und es gelang ihm, ein Schreien zu unterdrücken. Stattdessen verzog er nur gequält die Mundwinkel.

„Danke, aber das wird nicht nötig sein", sagte die Stimme hinter ihm und Silas begriff sofort, dass der Mann, der sich mit ihm unterhalten wollte, Jonathans Vater war.

Im selben Moment wurde das Seil gelockert und er konnte mit den Zehenspitzen wieder den Boden berühren. Schlomo stand jetzt vor den Legionären, schenkte Silas selbst aber nach wie vor keine Beachtung. Er nahm dem Soldaten das Seil aus der Hand und ließ es noch ein Stück nach oben gleiten, sodass Silas auf den ganzen Fußsohlen stehen konnte. Erleichtert atmete er auf, doch sehr viel Spielraum ließen die Fesseln seinem Brustkorb auch so nicht. Schlomo bückte sich und führte das Seilende durch einen eisernen Ring am Boden, den Silas erst jetzt bemerkte. Dann knotete er das Tau mit ein paar sicheren Handgriffen fest und richtete sich wieder auf. Als ob er mir zeigen wollte, dass er mir nichts Böses will, sagte sich Silas und wusste dabei nicht, ob sein Gedanke einer realistischen Einschätzung der Lage entsprach oder nicht vielmehr einem verzweifelten Suchen nach einem Schimmer an Hoffnung.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt