Irgendwann später brachen sie auf. Gemeinsam mit neun anderen Sklaven folgte er einem groß gewachsenen, in helles Leinen gekleideten Mann, der wohl eine Art Verwalter sein musste. Er wurde von vier Aufsehern begleitet, die neben den Peitschen auch Stöcke trugen, einer von ihnen sogar eine Lanze. Ein kleiner Bursche führte einen Esel, der einen mit Getreidesäcken beladenen Karren zog. Als erstes passierten sie die Agora, vorbei an den massiven Mauern des Isistempels. Silas versuchte, die Abbildungen der Göttin auf der nördlichen Außenwand zu erkennen, doch der Aufseher, der direkt neben ihm ging, behinderte seine Sicht. Auch war die breite gerade Straße an ihren Rändern von Kaufleuten und Ständen gespickt, sodass Silas letztlich weder vom Tempel noch vom Gymnasion, das kurz darauf zu ihrer Linken auftauchte, viel erkennen konnte. Er beschränkte sich also darauf, die Querstraßen zu zählen. Nach drei eher schmaleren Gassen kam eine vierte, die der Hauptstraße, auf der sie in der immer heißer werdenden Sonne ihrem ungewissen Ziel entgegengingen, an Breite um nichts nachstand. Sie bogen nach links ab, passierten zwei Anwesen und wurden schließlich in den Innenhof eines weiteren besonders prächtigen Palastes geführt.
Soweit man es vom Hof aus erkennen konnte, schien das Herrenhaus zweistöckig zu sein. Das Erdgeschoß besaß mehrere Eingänge und war von schlanken Säulen umgeben, zu deren beiden Seiten sich hüfthohe Sockel befanden, auf denen wiederum zierliche kleine Sphinxstatuen thronten. Wo die Säulen in die Metopen übergingen, war der helle Sandstein mit kunstvollen bunten Bildern bemalt. Eine Gruppe von Reitern, die einer Göttin huldigten, dahinter der blaue Himmel. Wann habe ich zuletzt etwas so Schönes gesehen, fragte sich Silas und ermahnte sich sogleich, seine Aufmerksamkeit mehr auf Dinge zu richten, die für ihn in Zukunft wichtig sein könnten.
Er löste seinen Blick also von der Architektur des Palastes und musterte nun die Personen, die sich im Innenhof der Anlage aufhielten. Neben einem guten Duzend an Sklaven, die sich unterdessen daran gemacht hatten, die Waren von dem Karren zu laden, fiel ihm ein junger aufwändig gekleideter Mann auf, der mit herablassender Miene die mitgeführten Güter musterte. Für einen Hausherren ist er nicht alt genug, sagte sich Silas, vielleicht sein Sohn.
„Ich hoffe, ihr habt mir etwas Schönes mitgebracht", hörte er da eine helle, herrische Frauenstimme. Sie gehörte zu einer schlanken jungen Frau, die, von zwei kleineren Mädchen begleitet, mit erhabenem Schritt den Hof überquerte und zielstrebig auf den Verwalter zuging. Obwohl in ihren Worten kein Vorwurf lag, bemerkte Silas, wie die Anwesenheit der Herrin den Mann nervös machte.
„Das habe ich, Nebet", erwiderte er höflich, griff nach Silas rechtem Oberarm und führte ihn ein Stück aus der Gruppe der Sklaven heraus. „Einen Sklaven mit goldenem Haar und blauen Augen." Nebet, wiederholte Silas für sich. Er hatte das Wort am Markt mehrmals gehört, es musste eine Art höfliche Anrede für eine höhergestellte Frau sein.
Für einen Augenblick schienen die Geräusche um ihn herum zu verstummen. Einzig die Schritte der jungen Frau hoben sich klar von der Stille ab. Da Silas sein Haupt gesenkt hielt, fiel sein Blick auf die zierlichen, mit Henna bemalten kleinen Füße und auf die kunstvoll bestickten Sandalen. Jetzt da er den Geruch von gestocktem Blut, Exkrementen und Erbrochenem am Hafen zurück gelassen hatte, konnte er den Duft des Mädchens wahrnehmen. Mandelöl, dacht er, mit einem Hauch Limette. Beides Düfte, die auch seine Mutter schätzte.
„Du bist also unser neuer Sklave", sagte das Mädchen und im ersten Moment versetzten ihm ihre Worte einen Stich ins Herz. Dann erst bemerkte er, dass der Klang ihrer Stimme nunmehr freundlich war, beinahe wohlwollend.
„Lass mich deine blauen Augen sehen", setzte sie zu sprechen fort, legte dabei ihren Zeigefinger unter sein Kinn und hieß ihn mit sanftem Druck, den Kopf zu heben. Silas spürte, wie sein Herz schneller schlug. Die Versteigerung, die Eindrücke am Hafen, die Not der letzten Wochen, die Sorge darüber, was ihn erwarten würde, all das stieg mit einem Mal in ihm hoch, drohte seine Brust zu zerreißen. Doch die Berührung der jungen Frau gab ihm eine eigenartige Ruhe. Ihre Haut war weich und es lag nichts Erniedrigendes in ihrer Geste. Kurz trafen sich ihre Blicke. Ihre Augen waren dunkel, beinahe schwarz, tief und von einer rücksichtslosen Neugierde. Dann griff sie mit der linken Hand nach dem Holztäfelchen und drehte es ein wenig, sodass sie die Inschrift lesen konnte.
„Gehören diese blauen Augen einem gefährlichen Mörder?" fragte sie, scheinbar teilnahmslos.
„Ich bin kein gefährlicher Mörder, Herrin", antwortete Silas ruhig und eine Art Hoffnung füllte sein Inneres aus. „Ich bin nur einer, der für das Recht seiner unterdrückten Brüder und Schwestern gekämpft hat."
„Was für ein gepflegtes Griechisch du sprichst", erwiderte die Ägypterin und ein sanftes Lächeln umspielte ihre harmonischen Gesichtszüge.
„Meine Mutter war Griechin", sagte Silas und wunderte sich dabei über sich selbst und darüber, dass er in der Vergangenheit gesprochen hatte. „Sie war eine griechische Prinzessin", fügte er leise hinzu.
„Ach ja", hörte er da eine schroffe Stimme, viel zu nah. Es war der junge Herr - er mochte Silas Alter haben -, der sich ihm unterdessen genähert hatte. Jetzt griff er Silas grob in die langen dunkelblonden Locken und riss seinen Kopf nach hinten. „Der Sklave mit den blauen Augen und dem goldenen Haar", fuhr er süffisant fort. Jedes Wort war voller Härte und mit Spott gesprochen. „Sag mir, Sohn einer griechischen Prinzessin, ist denn dein Blut zumindest rot?"
Er ließ seine Haare los und holte unmittelbar danach zu einem gewaltigen Schlag aus. Seine Faust traf Silas an der Schläfe. Er taumelte, hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, doch er spürte kein Blut. Innerlich erwartete er den nächsten Schlag und bemühte sich, seine Füße stärker zu belasten, um der Wucht des Aufpralls besser standhalten zu können. Der nächste Haken zielte auf seine Nase. Kurz blieb ihm der Atem stehen und eine schwarze Wand legte sich vor seine Augen. Warmes Blut rann über seine Oberlippe.
„Hältst du es nicht für notwendig, deinem Herrn zu antworten", herrschte der Ägypter Silas an.
„Mir scheint, ihr habt euch eure Antwort selbst geholt", erwiderte Silas mit fester Stimme.
Jetzt verlor der junge Mann vollends die Beherrschung. Die Schläge prasselten derart auf Silas nieder, dass er sie kaum mehr lokalisieren konnte. Natürlich war es töricht gewesen, den Zorn des anderen zu reizen. Aber es war wohl so, dass sich Silas noch nicht mit seiner neuen Rolle als Sklave abgefunden hatte, oder es war die Gegenwart seiner schönen Herrin, die den letzten Funken Stolz in ihm angestachelt hatte. Schützend hielt Silas die Arme über den Kopf. Dann ging er in die Knie.
Nach dem ersten Ausbruch von Wut fanden Silas und sein Herr allmählich eine Position, in der die Abstrafung in geordneter Art und Weise vollzogen werden konnte. Silas auf den Knien, nach vorne gebeugt, den bloßen Rücken darbietend, die Stirn am sandigen Boden, die Arme über den Hinterkopf verschränkt. Der Ägypter, der breitbeinig über ihm stand und in nicht enden wollendem Zorn die mehrschwänzige Peitsche wieder und wieder auf Silas Rücken niederzischen ließ. Silas dachte an Jonathan. Jetzt weiß ich zumindest, wie es ist, gezüchtigt zu werden, sagte er sich. Kurz verlor er das Bewusstsein, denn ein Schlag hatte ihn hart in der Nierengegend getroffen. Doch die neuerlichen Hiebe, die mit zunehmender Dauer der Erziehungsmaßnahme die Haut aufzureißen begannen, holten ihn schnell in die erbarmungslose Gegenwart zurück. Ob es besser ist, vom eigenen Vater oder von seinem Herrn verprügelt zu werden, schoss es Silas durch den Kopf. Beim Vater weißt du zumindest, dass er dein Leben schonen wird, dachte er und begann zugleich fieberhaft und dem nicht abreißenden Strom an Schlägen zum Trotz zu überlegen, ob es denn nicht auch in seiner Lage einen Vorteil zu entdecken gäbe. Den Herrn kannst du vorbehaltslos hassen, sagte er sich und wusste zugleich, dass es das war, was ihn in der nächsten Zeit am Leben halten würde. Dann wurde es dunkel um ihn herum. Irgendwann hörte er die Stimme der jungen Frau. Sie war wie ein Echo aus einer weit entfernten Welt.
„Hör auf!" hallten ihre Worte in der Finsternis, die Silas umgab. „Willst du ihn gleich totschlagen? Meinst du, Vater wird es dir danken, wenn du so mit seinem Besitz umgehst?"
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...