Da wurden Silas die Arme grob nach hinten gerissen. Jemand schlug ihm mit der Faust auf den Hinterkopf, ein anderer prügelte mit einem Stock auf seinen Rücken ein. Er traf ihn im Bereich der Nieren, doch obwohl Silas taumelte, wehrte er sich mit Leibeskräften. Je mehr er kämpfte, desto mehr Hände schienen ihn festzuhalten. Allmählich verebbte sein verzweifeltes Toben, die Soldaten schliffen ihn mit sich auf den Turm zu, die steinernen Treppen hinauf. Silas wusste, wo sie ihn hinbringen würden, und er wusste auch, dass er nun alles verspielt hatte, was er sich in den Wochen und Monaten zuvor aufgebaut hatte.
Schließlich erreichten sie den Raum, in dem Peitholaos sich zurückzuziehen pflegte, um von der Festung Skizzen anzufertigen und den Wiederaufbau zu überwachen. Silas hörte die Stimme des Oberbefehlshabers. Sie war streng, dabei aber trotzdem von jener überlegenen Ruhe, die Silas an ihm so bewunderte. Fragen wurden gestellt, Erklärungen abgegeben, Befehle erteilt. Mit einem Tritt gegen die Waden wurde Silas weiter in das Zimmer hineingestoßen.
„So nicht", wies Peitholaos den Soldaten böse zurecht.
Dann wurde er losgelassen. Die Soldaten entfernten sich von ihm, ihr Reden verstummte und Silas war mit Peitholaos allein. Seine Arme waren eng am Rücken gefesselt, unter den rauen Stricken spürte Silas das Pochen seines Blutes. Er konnte Peitholaos nicht sehen, hörte aber, wie er sich ihm von hinten näherte. Er fühlte die Blicke des anderen auf seinem vernarbten Rücken und er wünschte, er hätte sich zuerst angezogen, bevor er sich auf die Auseinandersetzung mit den beiden Soldaten eingelassen hatte. Peitholaos nahm seine Hände. Sein Griff war fest aber nicht grob. Dann zwängte sich etwas Glattes, Kaltes zwischen die Haut und das Seil. Vielleicht ein Messer, dacht Silas. In dem Moment zerrissen die Fesseln und seine Arme waren frei. Silas bewegte sich nicht, er hielt seinen Kopf gesenkt und den Blick auf den Boden gerichtet.
„Ich mag es nicht, wenn mir ein Mann nicht in die Augen schaut", fuhr ihn Peitholaos schroff an. „Das habe ich dir schon gesagt." Er war ein paar Schritte weiter gegangen und stand nun unmittelbar vor ihm. Silas richtete sich auf und sah dem Offizier ins Gesicht.
„Ich wollte meine Demut zum Ausdruck bringen", erwiderte Silas leise und beobachtete dabei, wie Peitholaos reagieren würde.
„Dafür ist es ein bisschen spät", gab der andere unfreundlich zurück. Silas nickte betroffen. Er fühlte sich elend, er hatte Angst vor dem, was kommen würde, und war sich dessen bewusst, dass kein anderer als er selbst die Schuld daran trug. Er wollte sich entschuldigen, doch das kam ihm lächerlich vor und in gewisser Weise auch schäbig, als wollte er sich vor der Strafe drücken.
„Wasch dir das Blut ab", kommandierte Peitholaos und zeigte auf einen kleinen Tisch, auf dem ein Krug mit Wasser und eine Schale standen. Silas kam dem Befehl schnell nach. Fast war er froh, dass er etwas tun konnte, und nicht nur herumstehen und warten musste. Als er das Wasser in seine Handflächen rinnen ließ, merkte er erst, dass er zitterte. Als erstes säuberte er sein Gesicht. Es gab Stellen, an denen ihn selbst die oberflächlichste Berührung schmerzte. Doch Silas nahm keine Rücksicht darauf, denn er wollte dem Mann, der ihn aus der Sklaverei befreit hatte und den er zum Dank dafür enttäuscht hatte, zumindest sauber gegenüber stehen. Dann rieb er sich das Blut von den Armen, wusch seinen Oberkörper. Er nahm das Leinentuch, das neben dem Krug lag, und trocknete sich ab.
„Ich habe dich beobachtet", sagte Peitholaos, immer noch streng, aber zumindest nicht mehr ganz so unversöhnlich wie zuvor. „Du bist ein guter Kämpfer." Einen Moment lang blieb es still. Silas wusste nicht, ob er etwas antworten sollte, und auch Peitholaos schien zu zögern. „Ich hatte einen Lehrer, der ein sehr kluger Mann war. Einer seiner Leitsätze war: Nicht in jeder Lage ist jede Tugend angemessen." Er wartete wieder. „Verstehst du mich?"
„Ja", erwiderte Silas tonlos und fügte nach einer Weile etwas unsicher hinzu: „Ich kannte auch jemanden, der so geredet hat." Peitholaos sah ihn forschend an. „Ich meine", fügte Silas schnell hinzu, „ich wollte natürlich nicht die Weisheit eures Lehrers schmälern."
Peitholaos lachte kurz auf. „Keine Sorge, mein Junge", entgegnete er und es lag kein Spott in seinen Worten. „So empfindlich bin ich nicht. Aber du hast versprochen, mir keine Schwierigkeiten zu machen." Der Klang seiner Stimme wurde schärfer. „Aber statt dich daran zu halten, hast du einen Aufruhr verursacht und zwei Soldaten schwer verletzt. Und das in einer Zeit, in der wir zusammenstehen müssen wie ein einziger Mann."
Silas nickte schwach. „Ihr wisst nicht, wie sehr ich mein Verhalten bereue, Herr", gab er schuldbewusst zurück.
„So?" fuhr ihn Peitholaos gereizt an. „Das ist alles, was dir dazu einfällt?"
„Nein, Herr", antwortete Silas hastig, „Ich bitte euch, mich zu bestrafen." Peitholaos reagierte nicht gleich und je mehr Zeit verging, desto mehr hatte Silas das Gefühl, sein Herz würde zu Stein erstarren. Was ist, wenn er mich gar nicht bestrafen will, sondern mich des Lagers verweist, fragte er sich. Wenn er mich zurück in die Sklaverei verkauft? Noch bevor er eine Antwort fand, wurde ihm schwindlig, er fühlte sich schwach und es kam ihm vor, als könnte er kaum atmen. Plötzlich hetzten die Bilder von der Überfahrt wieder durch seinen Kopf, der Sklavenmarkt, das Gefühl, wertlos zu sein, wie er es damals empfunden hatte, als er nackt vor Anek im Sand gelegen hatte. Ich muss Peitholaos dazu bringen, dass er mich hier behält, dachte Silas panisch.
„Bitte, Herr", sagte er eindringlich und schämte sich zugleich für den flehenden Klang seiner Stimme. „Bestraft mich mit aller Härte. Ich habe nichts anderes verdient." Er stockte kurz. „Ganz gleich, was ihr anordnet, Herr, ich werde alles dankbar ertragen. Nur sagt mir nicht, dass ihr mich nicht mehr gebrauchen könnt." Dann wartete er. Seine Brust bebte und sein Herz schlug unnatürlich schnell.
„So habe ich das nicht gemeint, Silas", antwortete Peitholaos deutlich ruhiger und beinahe nachdenklich. „Hast du nichts zu deiner Verteidigung zu sagen?"
Silas zuckte unsicher mit den Schultern. Aus dem aufgeregten Durcheinanderrufen der Männer, die ihn und die beiden Soldaten schließlich getrennt hatten, war zu schließen gewesen, dass es sich bei ihnen um die Söhne von wohlhabenden und bedeutenden Exiljuden handelte. Silas wollte nichts Falsches sagen und er wollte Peitholaos auf keinen Fall reizen.
„Es war allein meine Schuld, Herr", erwiderte er deshalb matt.
„Das glaube ich dir nicht", entgegnete Peitholaos scharf. Er kam näher an ihn heran und sah ihm tief in die Augen. „Haben sie dich gereizt?"
„Ich hätte mich nicht reizen lassen dürfen", gab Silas schwach zurück.
„Haben sie sich über dich lustig gemacht, deinen Stolz verletzt?" fragte Peitholaos weiter, doch seine Stimme klang nun weicher.
Silas schüttelte hilflos den Kopf. „Einer, der nur ein Wurm ist, kann sich keinen Stolz leisten", sagte er bitter und spürte dabei, wie in seinem Inneren alles eng wurde und düster. Peitholaos legte ihm eine Hand auf die rechte Schulter.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...