Alexandra

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Jericho, Winter 57

Die Sonne stand hoch über Jericho und doch ging von ihren Strahlen noch keine rechte Wärme aus. Wie so oft in letzter Zeit stand Tabitha am Fenster und fragte sich, womit die Menschen, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatten oder es immer noch taten, wohl gerade beschäftigt waren. Wenn sie an ihre Eltern und ihre Brüder dachte, spürte sie ein warmes wohltuendes Gefühl in ihrer Brust. Wenn Jonathan sich in ihre Gedanken drängte, waren es Schmerz und Traurigkeit. Und irgendwo da draußen in der judäischen Wüste mochte auch ihr Ehemann sein, der in den letzten Monaten nie mehr als zwei oder drei Tage am Stück zuhause verbracht hatte. Sein Amt beschränkte sich nämlich keineswegs auf die Organisation des Verwaltungsbezirkes, den Gabinius nach dem Konflikt mit Aristobolus ins Leben gerufen hatte. Denn Jericho hatte für beide Parteien eine wichtige strategische Position. Von Eleazar erwartete die römische Besatzungsmacht, dass er die Sicherheit der Straßen und Handelswege garantierte und außerdem die Rebellengruppen in Schach hielt, die ihre Lager in den Dörfern um Jerusalem und in der Gegend des Asphaltsees aufgeschlagen hatten. Da Eleazar im Grunde keinem seiner Männer vertraute und daher wichtige Aufgaben nur ungern delegierte, war er in der Regel selbst mit den Patrouillen unterwegs. Tabitha löste ihren Blick von den Konturen der Stadt, von den Palmen der Gartenanlage und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen im Inneren des Hauses.

Unweit vor ihr am Boden saß Dan und spielte verträumt mit kleinen Holzstücken, die er ungeschickt zu pyramidenartigen Gebilden aufstapelte, bevor er sie mit einer Kugel zum Einstürzen brachte. Trotz aller Hingabe, mit der er sich ansonsten stundenlang seinen Klötzchen widmen konnten, wirkte er heute unkonzentriert, blickte immer wieder von seinen Bauwerken auf und schien das rege Treiben um ihn herum zu beobachten. Tatsächlich war gerade ein Großteil der Dienerschaft damit beschäftigt, Tabithas Privaträume zu dekorieren oder Serviertablette mit eingelegten Oliven und getrocknetem Fisch, Krüge mit Säften und Karaffen mit verdünntem Wein hereinzutragen. Nachdem es Mirjam in den frühen Morgenstunden im Zuge einer heftigen Auseinandersetzung mit Meschach gelungen war, die Kontrolle über die Vorbereitungen an sich zu reißen, überwachte sie nun mit größter Aufmerksamkeit und Strenge die vielen Handgriffe, welche die ihr untergeordneten Bediensteten verrichteten.

Die frisch befüllten Weihrauchbehälter verströmten einen angenehmen, wenngleich intensiven Geruch, an den Wänden wurden gerade jene aufwändig gearbeiteten Zierteppiche angebracht, die Eleazar vor Jahren aus Persien einführen hatte lassen und die nur bei besonderen Anlässen präsentiert wurden. Die geometrischen Muster waren aus goldenen Fäden gestickt, was den Hausherren ein wenig darüber hinwegtröstete, dass er keine Teppiche mit Jagd- und Kampfszenen erstanden hatte. In Judäa war es nämlich besser, wenn Kunstgegenstände keine Abbildungen von Tieren oder Menschen zeigten, denn selbst wenn Priester wie Tabithas Vater für eine moderate Auslegung der Schrift eintraten, gab es dennoch genug Fanatiker, die meinten, dass Gott den Juden jegliches Bildnis verboten hätte.

Tabitha hatte schon öfter darüber nachgedacht, ob Eleazar sich diesem unausgesprochenen Gebot gefügt hatte, weil er schlussendlich doch einen religiösen Kern in sich trug, oder schlichtweg, weil er befürchtete, dass es früher oder später einem der selbst ernannten Gerechten gelingen könnte, in sein Haus einzudringen und die Wandteppiche zu zerstören. Sie ließ ihre rechte Hand über einen der Teppiche gleiten, die weich waren und von einer Reinheit, als gäbe es zwischen ihnen und der Welt keinerlei Kontakt. Dabei dachte sie an ihren Mann und daran, wie er derartige Übeltäter wohl bestrafen würde. Und obwohl es keine schönen Bilder waren, die ihr durch den Kopf gingen, musste sie insgeheim schmunzeln, denn sie war sich sicher, dass es zuallererst ein Glückfall für die religiösen Eiferer war, dass sie nicht durch Jagdmotive in Versuchung geführt werden konnten und ihnen daher ein grausames Ende erspart blieb.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt