Erwachen

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„Der Maskil, der Maskil, rettet den Maskil", schrill und alarmiert dröhnte der Ruf durch die Wirren des Kampfes.

Silas konnte die Richtung nicht ausmachen, aus welcher der Schrei gekommen war. Die Römer hatten sich längst wieder organisiert, der Überraschungsmoment, der sie zum Sieg hätte führen sollen, hatte nicht lange gedauert. Um Silas herum war der Boden mit Leichen bedeckt, manche seiner Mitstreiter wanden sich im Todeskampf, andere gaben nur noch ein leises Stöhnen von sich. Silas atmete tief durch, versuchte sich zu sammeln. Ganz ruhig, sagte er sich. Er richtete sich ein wenig auf und versuchte die Lage, in der er sich befand, richtig einzuschätzen. Gut dreißig Schritte links von ihm hatten sich die Römer formiert und bewegten sich nun in drei geschlossenen Abteilungen zielgerichtet und mit kurzen Schritten vorwärts. Alle Gegner, die sich ihnen entgegenstellten, wurden gnadenlos niedergemacht. Angriffslustig blitzten die Schwertspitzen aus der Schildmauer heraus. Von den Reitern saß nur noch ein knappes Duzend im Sattel, doch hatten diese wieder damit begonnen, die Fluchtwege zu blockieren. Nur einigen wenigen Männern schien es gelungen zu sein, ihre Linie zu durchbrechen. Sie hatten das Schlachtfeld bereits hinter sich gelassen und kämpften sich mit ihren letzten Kräften den Hügel hinauf. Einen Augenblick sah ihnen Silas nach und es war ihm, als blitze die weiße Tunika des Maskils zwischen den Gestalten seiner Jünger auf. Gab es auch für ihn eine Möglichkeit sich zu retten?

Während er versuchte, Klarheit zu erlangen, bemerkte er, dass die römische Formation nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war. Doch Silas war nicht allein. Um ihn herum hatte sich eine kleine Gruppe von Mitstreitern zusammengefunden, es waren die letzten, die noch zu kämpfen vermochten. Jetzt erst erkannte er Schimon. Er musste am Kopf getroffen worden sein, denn seine linke Gesichtshälfte war blutüberströmt, ein Arm hing schlaff an der Schulter, gekrümmt schleppte er sich weiter.

„Wir dürfen nicht nachlassen!" schrie er aus Leibeskräften. „Wir kämpfen bis zum Schluss!"

Mit seinem Befehl war wieder Bewegung in die Szene gekommen. Die Römer reagierten schnell auf den neu aufkeimenden Kampfwillen und veränderten ihre Angriffslinie. Aus den Flanken der geschlossenen Formation rückten zwei Reihen Soldaten nach vorne und begannen, die noch verbliebenen gut zwanzig Rebellen von drei Seiten einzuschließen.

Neben Silas sackte ein Mann in sich zusammen, Blut spritze in einem hohen Bogen aus seinem Hals. Ein anderer versuchte, auf allen Vieren den vorrückenden Römern zu entkommen, doch ein Soldat trat kurz aus der geschlossenen Formation hervor und tötete ihn mit einem Stich in den Nacken. Silas hörte, wie die Halswirbel brachen. Plötzlich stand Schimon neben ihm, er sah in seine Richtung, doch sein Blick war leer, aus seiner Brust und aus dem Bauchraum traten zwei Spitzen hervor. Es ist vorbei, dachte Silas, während er noch in einem sinnlosen Aufbegehren sein Schwert gegen den Wall der römischen Schilder schwang. Ich muss beten, sagte er sich, wenngleich ohne große Überzeugung. Doch er war ein gläubiger Jude und als solcher musste er mit dem Gottesbekenntnis auf den Lippen sterben. Aber ich werde  bestimmt nicht flüstern, entschied er, ließ das Schwert sinken und schrie sein Gebet laut in das Schlachtgetümmel hinein. „Schema Israel, adonai elohenu, adonai...". Da traf ihn etwas Hartes ins Gesicht und er verlor das Gleichgewicht.

Als Silas sich wieder aufrichten wollte, blickte er in die blutbespritzten Gesichter seiner Feinde. Denn die erste Reihe der Soldaten stand unmittelbar vor ihm, die rot beschmierten Schwerter waren in seine Richtung gerichtet, die Schilder aber waren nicht mehr erhoben, schützten nur noch den Unterkörper, sodass die Soldaten freie Sicht hatten. Silas versuchte sich umzudrehen, doch sein Schädel rebellierte mit einem heftigen pulsierenden Schmerz. Also blieb er am Boden sitzen, im Rücken gab ihm ein Leichnam Halt. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die römische Formation auch die vierte Seite geschlossen und ihre wenigen Gefangenen in einem Viereck umzingelt hatte. Um ihn herum kauerten, hockten oder lagen etwa zehn jüdische Kämpfer. Sie alle hatten ihre Waffen fallen gelassen, zwei knieten sogar vor den Römern am Boden und flehten mit vor dem Kopf gefalteten Händen um Gnade. Die Zeit schien stillzustehen und Silas wollte gerade wieder zu seinem trotzigen Gebet anheben, da hörte er neben sich eine wohlbekannte Stimme.

„Al tehober! Al tehober, marij! Zijwal al jischttanno. Elah hu jeschejzeninak. Qummi, qummi, marij!" Es war Jetur, der über Jonathan kniete und ihn auf Aramäisch beschwor, die Lebensgeister nicht ziehen zu lassen. Jonathan selbst war kreidebleich und konnte die Augen offensichtlich nur mit Mühe offen halten. Matt stöhnte er, während Jetur ein Stück Stoff aus seiner Tunika riss, es mit dem letzten Schluck Wasser aus seinem Lederbeutel benetzte und begann, Jonathan damit die Stirn zu kühlen. Dabei redete er unaufhörlich. Die ungeteilte Fürsorge, die er seinem verwundeten Herrn zuteil werden ließ, hatte ihm inzwischen auch die Aufmerksamkeit der Römer eingebracht. „Halt endlich das Maul!" rief einer der Soldaten aus und versetzte ihm dabei einen kräftigen Tritt, sodass Jetur das Gleichgewicht verlor. Doch als Diener im Hause Schlomo war er Schläge und Tritte gewohnt und kroch daher unbeeindruckt zu Jonathan zurück. Abgesehen davon, das wusste Silas nur zu gut, liebte Jetur seinen Herrn so aufrichtig, dass ihn keine Folter der Welt von ihm losreißen hätte können. Jetzt richtete sich Jonathan mühsam auf und im selben Augenblick erhellte ein Strahlen das Gesicht seines Knechtes.

Silas wandte seinen Blick von den beiden ab. Erst jetzt fiel ihm eine kleine Gruppe von Soldaten auf, die ganz und gar nicht wie strahlende Sieger wirkten. Sie hatten ihre Schilder abgelegt, die Köpfe gesenkt, in ihrer rechten Hand trugen sie aber nach wie vor den typischen römischen Gladius. Vor ihnen stand ein kleiner, kräftiger Mann mittleren Alters, der mit erbarmungsloser Strenge auf die Soldaten blickte.

„Domine, so glaubt uns doch", jammerte einer der Römer. „Es war Schicksal. Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand."

„Einen Bericht will ich hören", herrschte ihn der Optio an. „Kein Weibergeheul!"

„Unser tapferer Zenturio", haspelte der andere und die Furcht stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Er war direkt vor mir, als wir von der Seite angegriffen wurden. Die Formation hat leicht nachgegeben, die ersten beiden Reihen sind weitergegangen, die anderen Soldaten aber stehengeblieben, um den Angriff auf der rechten Flanke abzuwehren. So stand der Zenturio plötzlich ungeschützt mitten zwischen den Feinden. Die Rebellen haben ihn erkannt und sich wie eine wild gewordene Meute auf ihn gestürzt. Es wurden immer mehr, acht, zehn, dann zwölf. Sie haben ihn vor unseren Augen zerstückelt. Natürlich haben wir die Formation sofort geschlossen. Und Domine, ich schwöre beim Leben meiner Mutter, keiner von ihnen ist uns entkommen."

„Sei still", unterbrach ihn der Optio, streifte die Soldaten mit einem letzten verächtlichen Blick und wandte sich dann von ihnen ab. Die Männer wagten weder ein Wort zu sagen noch sich zu bewegen und so verharrten sie regungslos in ihrer geduckten Haltung, wenige Schritte von den immer noch um Gnade flehenden Kämpfern der Maskil-Truppe entfernt. Silas musste ein Lachen unterdrücken, so unwirklich schien ihm die Lage. Er beobachtete den Optio. Der schritt mit unbeweglicher Miene die Reihe der Soldaten ab.

„Nun bin also ich euer Befehlshaber", bellte er.

Am Schlachtfeld war es inzwischen ruhig geworden. Eine Gruppe von Soldaten bahnte sich langsam einen Weg zwischen den Leichen, ließ die verletzten Römer in Richtung Vorposten abtransportieren, die verwundeten Juden dagegen mit einem gezielten Schwertstoß ins Herz töten. Auch zwei Pferde lagen im blutgetränkten Sand. Eines war bereits tot, das zweite stemmte die Vorderbeine verzweifelt in den Boden, doch die scheinbar leblose Hinterhand, die schwer auf der Erde lastete, hindere es am Aufstehen. Gellend hallte sein Wiehern über die Köpfe der Männer hinweg.

„Ein so edles Tier", sagte der Optio, plötzlich wehmütig. „Es ist eine Schande."

„Domine, wir haben Gefangene gemacht." Langsam wandte Lurio seinen Blick von dem Pferd ab und musterte den Soldaten, der vor ihm stand. 

„Was", stotterte der, „was sollen wir mit ihnen tun?"

Der Optio antwortete nicht sofort, sondern näherte sich gemächlich der ersten Reihe der zum größten Teil schwer verwundeten Feinde. Vor ihm kniete ein junger Mann. Er war über einen anderen gebeugt und säuberte ihm mit einem Fetzen das Gesicht. Dabei sprach er unaufhörlich in dieser widerwärtigen Sprache, die es den Römern noch immer nicht gelungen war, den Bauerntölpeln auszutreiben. Kurz blieb der Optio stehen, zog sein Schwert aus der Scheide und rammte es kraftvoll in den Rücken des Mannes.

„Töte sie", sagte er scharf. „Töte sie alle, die Bastarde!" Dann drehte er sich um, und ging mit schnellem Schritt auf das verletzte Pferd zu, um ihm den Gnadenstoß zu geben.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt