Die gemeinsame Sache

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„Es ist gut", bemerkte er schroff und fügte dann hinzu: „Wie soll ich mich auf Männer verlassen, die mir nicht in die Augen schauen dürfen?" 

Silas war sich nicht sicher, ob die Aussage einem Befehl gleichkam. Doch aus irgendeinem Grund vertraute er darauf, dass der andere ihm wohlgesonnen war, und nahm den Blickkontakt wieder auf. Der Offizier lächelte Silas aufmunternd zu. 

„Sechs Jahre, sagt deine Herrin", fuhr er ernst fort. „Damit du es weißt: Ich denke nicht in Jahren. Wir gehen nach Jerusalem und wir werden siegen oder sterben." Silas nickte und bemühte sich, all die Würde an den Tag zu legen, die er nach den langen Monaten der Sklaverei noch in sich trug. „Aber wenn du mir Schwierigkeiten machst, Junge, wirst du es bereuen."

„Ich mache euch keine Schwierigkeiten", gab Silas zurück und es war ihm, als hätte der Offizier sofort begriffen, dass er es ehrlich meinte. „Gebt mir einen Dolch und sagt mir, wen ich töten soll." 

Der Mann lächelte anerkennend und an Nayla gerichtet meinte er: „Ich kann nicht viel bezahlen."

„Gebt mir, was ihr zahlen könnt", entgegnete sie auf eine Art, die keinen Widerspruch duldete.

„Wartet hier", antwortete der Fremde und deutete einen Gruß an. Dann verließ er den Raum.

„Peitholaos", sagte Nayla, als die Tür ins Schloss gefallen war. „Er ist ein jüdischer Feldherr. Er plant eine Revolte gegen den jetzigen Machthaber und seine römischen Verbündeten." Sie hatte sich Silas zugewendet und wirkte etwas versöhnlicher als zuvor. „Sein Ziel ist es, einen gewissen Alexander oder vielmehr seinen Vater, ich habe den Namen vergessen, als König einzusetzen."

„Das ist auch das, wofür ich gekämpft habe", erwiderte Silas lächelnd. Er hatte den Namen Peitholaos schon gehört, war allerdings der Meinung gewesen, dass er die Truppen des Hohenpriesters Hyrkan anführte. Wenn er jetzt für Aristobulus Soldaten sammelt, muss er die Seite gewechselt haben, überlegte Silas.

„Dann bist du einverstanden, mit ihm zu gehen?" fragte Nayla und zum ersten Mal klang ihre Stimme unsicher. „Ich weiß, ich hätte dich zuvor fragen sollen. Aber du hast mir keine Wahl gelassen."

„Ja, ich bin einverstanden", antwortete Silas. „Ich bin sogar sehr einverstanden."

Er begriff erst allmählich, was die neue Situation für ihn bedeutete. Wenn Peitholaos seine Meinung nicht ändern sollte, würde er schon bald das Leben als Sklave hinter sich lassen. Er würde mit einer Armee von Juden gegen die römische Besatzungsmacht vorrücken. Er würde seine Mutter wiedersehen und seine Heimatstadt. Und wenn sie gewinnen sollten, würden sich die politischen Verhältnisse vielleicht wirklich zum Besseren wenden. Dann wäre doch nicht alles umsonst gewesen, sagte sich Silas und er spürte, wie die gerade erst aufkeimende Freude in seiner Brust mehr und mehr zu Euphorie wurde.

Das einzige, was ihm Sorgen machte, war der bevorstehende Abschied von Nayla und ihr eigenartiges Verhalten, das er nicht deuten konnte. Natürlich war sie ihr ganzes Leben von Dienern und Sklaven hofiert und von ihrem Vater verwöhnt worden. Sie hatte nicht gelernt, ihre Stimmungen zu kontrollieren. Aber das war Silas als Erklärung zu wenig. Schließlich war sie ihm gegenüber immer einfühlsam und nachsichtig gewesen.

„Noch mehr freut mich aber, dass ihr wieder mit mir sprecht", sagte Silas leise und beobachtete dabei, wie Nayla reagieren würde.

Er erschrak, als er sah, dass sich ihre Mine sofort verfinsterte und sich ihre Gesichtszüge verhärteten. Nayla schwieg. Die Leibwächter standen starr und unbeteiligt, als wären sie Statuen, die irgendein Bildhauer vergessen hatte, bei seinem Auftraggeber abzuliefern. Silas war unsicher, wie offen er in Anwesenheit der beiden Wachen mit ihr sprechen konnte. Doch er wusste, dass es die letzte Gelegenheit sein würde. Außerdem konnte Peitholaos jeden Moment zurückkommen und ein Gespräch zwischen ihm und Nayla unmöglich machen.

„Seid ihr wütend auf mich?", fragte er und sah ihr dabei weiterhin in die Augen.

„Wütend auf dich?", stieß Nayla ärgerlich hervor und funkelte ihn böse an. „Ich bin wütend auf die ganze Welt. Auf eine Welt, in der nie das passiert, was man sich wünscht. Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich so lange mit meiner Entscheidung gewartet habe und dich dadurch leiden habe lassen. Ich bin wütend, weil ich jetzt etwas in die Wege leite, das mir nicht gefällt." Während sie sprach, wurde ihre Stimme lauter und aggressiver. Beinahe drohend setzte sie fort: „Und ja, ich bin wütend auf dich, weil du in meinem Leben eine Rolle spielst, die dir nicht zukommt. Weil die Dinge einfach waren, bevor du hier aufgetaucht bist. Und weil du jetzt, wo alles kompliziert geworden ist, fortgehst und nicht wiederkommen wirst."

„Soll ich denn wiederkommen?" gab Silas zurück und wusste dabei sofort, dass es die falsche Reaktion gewesen war.

„Du sollst dich zur Apophis scheren", schrie sie ihn an, „und am besten nimmst du die Erinnerung, die ich an dich habe, gleich mit."

Silas wartete kurz. Es tat ihm leid, dass er sie gereizt hatte, aber zugleich war er dankbar für ihre Offenheit. Eine aufbrausende Nayla war immer noch besser als eine verschlossene und abweisende, von der er nicht wusste, ob sie ihn überhaupt wahrnahm.

„Ich habe meine Frage falsch formuliert, Nebet", warf er ein und Nayla lachte verächtlich auf.

„Ach ja", herrschte sie ihn an, „der große Denker hat seine Frage falsch formuliert. Weißt du was, Silas?" Sie kam näher an ihn heran und Silas dachte, dass sie im Zorn noch schöner war als sonst. „Vielleicht ist es mir einfach zu anstrengend, mich mit einem so klugen Mann zu unterhalten."

„Nayla, bitte", flüsterte Silas. Dabei nahm er vorsichtig ihre Hand und wartete, ob sie ihn ins Gesicht schlagen oder sonst wie zurückweisen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Nur einer der Leibwächter machte einen halben Schritt nach vorne und stellte sich etwas strammer hin, was möglicherweise eine Warnung sein sollte. „Was ich sagen wollte", fuhr Silas sanft fort, „darf ich..." Er unterbrach sich kurz. „Darf ich denn wiederkommen?"

In dem Moment hörte man das Knarren der Tür. Nayla zog ihre Hand weg und ging etwas zurück, sodass nun wieder der Abstand zwischen ihnen bestand, wie er zwischen Herrin und Sklave angemessen war.

Ohne ein Wort zu sagen, hielt Peitholaos Nayla einen kleinen Lederbeutel hin. Sie nickte knapp, deutete aber auf einen ihrer Leibwächter, der das Geld in Empfang nahm. Dann standen sie einander eine Zeit lang unentschlossen gegenüber. Silas hatte den Eindruck, dass Nayla noch etwas sagen wollte, und Peitholaos schien dasselbe zu denken.

„Ich werde ihn gut behandeln", meinte Peitholaos freundlich. Das Lächeln auf seinen Lippen war wohlwollend und ehrlich. „In meinem Heer gibt es nicht Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie. Es gibt nur Soldaten, die für eine gemeinsame Sache kämpfen."

Nayla verbeugte sich leicht wie zum Abschied. „Ich danke euch", erwiderte sie. 

Silas wusste, dass sie sich jeden Augenblick umdrehen und das Zimmer verlassen würde. Und er wusste, dass es ihm dann nicht mehr möglich sein würde, mit ihr zu sprechen. Zugleich war ihm klar, dass es sowohl Nayla als auch Peitholaos gegenüber respektlos wäre, sie unaufgefordert anzureden. Die Worte des Feldherren waren wohltuend gewesen, doch Silas machte sich keine Illusionen darüber, dass er in der sozialen Hierarchie so oder so ganz unten stand. Und doch hatte er nur eine einzige Gelegenheit, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, was Nayla ihm gegenüber empfand.

„Nebet", begann er etwas hilflos und Peitholaos sah ihn überrascht an. „Ich kann nicht mit ihm gehen, wenn ich von euch keine Antwort habe." Einen Moment lang blieb es still. Silas wartete und Nayla wirkte abwesend, als gehörte sie einer anderen, weit entfernten Welt an. Der jüdische Offizier beobachtete die Szene amüsiert. Ein vielsagendes Grinsen lag auf seinen Lippen.

„Ja", erwiderte sie schließlich leise und Silas war es, als wäre die Welt um ihn herum Licht und Wärme und als wäre er selbst Teil von diesem großen, unaussprechbaren, vollkommenen Glück.

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