Ein Kelch

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„Schwerwiegendere Probleme?" fuhr sie Eleazar unbeherrscht an. Dann klatschte er laut in die Hände und zeigte gleich darauf mit der rechten Hand zur Tür. „Hinaus!" schrie er in Richtung der Dienerschaft und sofort verließen Meschach und der Küchensklave, der sie zuvor bedient hatte, den Raum. Eleazar stand auf und ging auf Tabitha zu. Seine Haltung war drohend. „Dann wäre ich euch doch sehr verbunden, wenn ihr mir erläutern könntet, was genau das für Probleme sind", schrie er sie an. Bleib ruhig, ganz ruhig, ermahnte sich Tabitha und lehnte sich in der Kline weiter zurück.

„Vermutlich ist es eine Frage der richtigen Wortwahl", antwortete sie mit gespielter Gleichgültigkeit. „Sind Verrat und Untreue schwerwiegende Probleme? Es hängt wohl davon ab, wie nah einem der Mann steht, der den Verrat begeht."

„Von was für einem Verrat sprecht ihr?" schrie Eleazar aufbrausend. Mit schweren Schritten ging er vor den kleinen Serviertischchen auf und ab.

„Ich denke, ihr könnte euch die Antwort selbst geben", erwidert Tabitha.

„Ich soll mir die Antwort selbst geben?" Eleazar hatte sich ihr wieder zugewandt und starrte sie nun wütend an. Als ob er mich im nächsten Augenblick verschlingen würde, dachte Tabitha und wünschte sich zugleich nichts mehr, als dass es nie zu diesem gemeinsamen Frühstück gekommen wäre. Hätte sie Meschachs Frage nicht einfach verneinen können? Doch dafür war es nun zu spät. „Ich werde euch etwas sagen, meine Liebe", zischte er, „die ganze Zeit schon haltet ihr mich hin mit vagen Anspielungen. Aber jetzt ist es genug. Sagt mir, was ihr wisst, wenn es denn etwas zu wissen gibt. Nennt mir Namen, nennt mir Tatsachen!"

Tabitha lächelte schwach. Es mochte als Überlegenheit erscheinen, war es aber nicht. „Ihr fordert einen Namen?" gab sie zurück und gewann auf diese Weise zumindest ein wenig Zeit.

„So ist es", antwortete Eleazar mit Nachdruck.

„Der Name wird euch nicht gefallen, aber er lautet Achior", sagte Tabitha und beobachtete dabei Eleazars Reaktion, die noch um einiges heftiger war, als sie es erwartet hätte.

„Achior", brüllte Eleazar und stieß dabei mit seinem rechten Fuß eines der kupfernen Ziertischchen um. Teller, Kelche und Speisen fielen geräuschvoll auf den Boden und Tabitha fragte sich für einen Moment lang, ob das Öl der Oliven dem weißen Marmor schaden würde. „Das ist unmöglich!" Eleazar steigerte sich immer mehr in Rage. „Achior ist mir treu ergeben. Er arbeitet seit Jahren für mich. Ich habe ihn als kleinen Jungen aus der Gosse geholt. Ich bin ein Vater für ihn gewesen, ich bin sein Vorbild." Dann verstummte er und blieb starr vor Tabitha stehen. Tabitha wusste zwar noch nicht, was sie antworten sollte, aber sie wusste, dass es ihr nicht gefiel, wie eine Sklavin zu ihrem wütenden Mann aufsehen zu müssen. Also stand sie auf und trat ihrerseits einen kleinen Schritt näher an ihn heran. Wenn er mich schlagen will, dann wäre es jetzt der ideale Moment, dachte sie zynisch.

„Wartet", entgegnete sie bedächtig, als ob sie über etwas nachdenken müsste. „Es gibt ein Sprichwort. Ich glaube, es heißt: Ein Narr, wer Dankbarkeit erwartet." Dabei lächelte sie ihm herausfordernd zu. Sie wusste, dass Eleazar innerlich tobte, sie spürte den pulsierenden Zorn in seiner Brust und sie war unsicher, ob sie ihn nicht zu sehr gereizt hatte, ob ihre letzte Bemerkung ein Fehler gewesen war, genauer gesagt, wie viele Fehler sie im Lauf dieser Unterhaltung bereits gemacht hatte.

„Was wisst ihr über Achior?" fuhr er sie an.

„Eigentlich nicht viel", gab Tabitha abwehrend zurück und trotz ihrer unglücklichen Lage amüsierte es sie, dass sie immerhin einmal die Wahrheit gesagt hatte.

„Was also?", schrie Eleazar.

„Es sind nur Fragen, die ich mir stelle."

„Nennt mir die Fragen!" Eleazar war kurz davor, den letzten Rest an Beherrschung zu verlieren, das war Tabitha bewusst. Sie musste ihm endlich geben, was er wollte. Sie wartete einen Moment. „Ich frage mich", sagte sie schließlich mit fester Stimme, „wie einer, der euch treu ergeben ist, zugleich ein Freund von Gamaliel sein kann."

„Achior soll ein Freund von Gamaliel sein?" wiederholte Eleazar und es klang beinahe belustigt.

„Zumindest geht er in seinem Haus ein und aus", stellte Tabitha ungerührt fest. Schon wieder nicht gelogen, sagte sie sich, doch gelang es ihr nicht, ein Vergnügen an der Ironie des Augenblicks zu finden.

Eleazar blieb still, sein Atem ging langsam wieder ruhiger. Er wandte sich von ihr ab und nahm auf seiner Kline Platz.

„Bitte, meine Liebe", sagte er dann, „setzt euch doch. Wir wollen essen und trinken."

Dann klatschte er in die Hände und während Tabitha noch den Stoff ihrer Tunica raffte, um sich mit der gebotenen Würde hinzusetzen, kamen schon drei von Meschach angeführte Sklaven herein und begannen hektisch die Unordnung zu beseitigen, die ihr Herr angerichtet hatte.

„Geht das nicht schneller!" brüllte sie Eleazar böse an und versetzte einem der Sklaven, der gerade auf den Knien den Boden wischte, dabei einen Tritt in die Rippen, der so heftig war, dass der Junge vor Schmerz aufschrie und sich am Boden zusammenkrümmte. „Los, los", sagte Meschach und zog den Sklaven am Oberarm hoch. „Beeil dich!"

„Bekomme ich endlich meinen Wein", rief Eleazar und stand auf. „Oder soll ich in meinem eigenen Haus verdursten?" Er klatschte wieder in die Hände. Inzwischen waren zwei weitere Sklaven mit einer Karaffe Wein, einem Kelch und einem Tablett mit in Honig eingelegten Früchten hereingekommen. Der größere der beiden reichte seinem Herrn den Kelch. Er war schmächtig und mochte etwa gleich alt sein wie Eleazar selbst. Eleazar nahm den Kelch nicht entgegen. Vielmehr bückte sich ein wenig und griff mit der Hand unauffällig an die Seitenlehne seiner Kline.

„Du bringst mir einen Kelch, Joas?" fragte er drohend.

„Ja, Herr", antwortete der Sklave hilflos.

„Und woraus soll mein Weib trinken?" herrschte ihn Eleazar an. „Soll sie den Boden aufschlecken?"

Bei den letzten Worten hatte er die Lautstärke seiner Stimme wieder gesteigert. Mit einem sicheren Griff löste er die Hand von der Kline und Tabitha sah, dass sie nun eine dünne, aus Weiden geflochtene Gerte führte. Er muss sie an der Außenseite der Lehne versteckt haben, dachte sie und hörte im selben Moment das scharfe Zischen, mit dem Eleazar dem Slaven ins Gesicht schlug. Joas taumelte kurz und führte reflexartig eine Hand zur Wange. Sie blutete. Das Tablett mit dem Kelch hatte Joas fallen gelassen.

„Steh gerade", befahl Eleazar, jetzt ruhig.

Der Sklave richtete sich ein wenig auf, verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Ein anderer Sklave hatte das Tablett und den Kelch unterdessen hastig aufgehoben. Eleazar hielt die Gerte in der Luft und betrachtete sie. Er wartete. Tabitha beobachtete den Sklaven und ihr Herz füllte sich mit Mitleid. Es ist meine Schuld, dachte sie. Ich hätte Eleazar nicht reizen dürfen. Da holte Eleazar ein zweites Mal aus und zog mit der Gerte einen feinen blutigen Strich über die andere Wange des Mannes. Joas gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich, veränderte aber sonst nichts an seiner Haltung. Nur seine Lippen spannte er noch mehr an, als er es zuvor schon getan hatte. Langsam setzte sich Eleazar wieder hin. Er lehnte sich zurück und legte die Beine auf die weich gepolsterte Liege.

„Meschach", sagte er herablassend. „Nimm ihn mit und lass ihn auspeitschen", befahl er gleichgültig.

„Ja, Herr", antwortete Meschach pflichtbewusst und deutete Joas, mit ihm zu kommen.

„Und Meschach", fügte Eleazar mit boshafter Stimme hinzu. „Anschließend zeigst du mir das Ergebnis, ja?"

„Natürlich", erwiderte Meschach und verbeugte sich tief. Tabitha spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Meschach und Joas hatten den Saal verlassen, die übrigen Sklaven ihre Arbeit beendet. Der Boden war sauber. Die Tischchen waren nun wieder mit köstlichen Speisen gedeckt. Tabitha sah zu Eleazar, der ihr mit seinem Kelch gönnerhaft zuprostete.

„Der Arme", sagte er mit gespieltem Mitleid und lächelte dabei selbstgefällig. „Er hatte euren Kelch vergessen."

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt