Kapitel V - Harendotes

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Alexandrien, Winter 57

Draußen war es bereits dunkel, im Inneren des Palastes aber wurden die Räume von Öllampen erhellt. Etwas gedämpft hörte man Musik, Stimmen, immer wieder Gelächter. Am Schreibtisch lagen mehrere Papyrusrollen, eine davon war ausgebreitet. Der Mann, der die Aufzeichnungen studierte und immer wieder mit seinem Griffel Anmerkungen und Korrekturen anbrachte, war Silas. Nachdem er gemeinsam mit den anderen Sklaven auf der Plantage die Sommer-Ernte eingebracht hatte, war er auf Naylas Befehl hin zurück nach Alexandrien geschickt worden. Dort hatte man ihm zunächst eine einfache Aufgabe in der Verwaltung übertragen, in der Folge jedoch innerhalb von wenigen Wochen zum Sekretär des Hausbuchhalters Zebah befördert. Seinen schnellen Aufstieg hatte Silas zum einen seiner guten Bildung, seinem klaren Verstand und seinem Fleiß zu verdanken, zum anderen aber dem Wohlwollen seiner schönen Herrin.

Harendotes, dem Silas, seitdem er im Haus arbeitete, beinahe jeden Tag begegnete, war verschlossen und schweigsam. Er schenkte weder seinen Sklaven noch seinen Dienern besondere Aufmerksamkeit, zeigte aber auch kein Interesse daran, sie übermäßig zu bestrafen oder zu erniedrigen. Den jungen Herren dagegen hatte Silas noch kein einziges Mal gesehen. Von Nayla wusste er, dass Anek geheiratet hatte und in ein Landgut bei Schedet in der Nähe des großen Sees, den Pharao Moeris hatte anlegen lassen, gezogen war. Schedet oder Arsinoe, wie die Griechen die Stadt nannten, war gut vier Tage Fluss abwärts von Alexandrien entfernt, eine Distanz also, die Silas eine gewisse innere Ruhe verschaffte.

Der Nordwind hatte den Abend aufgefrischt und Silas legte sich seinen Wollumhang über die Schultern. Obwohl nun schon Monate vergangen waren, seit er das Leben auf der Plantage hinter sich gelassen hatte, freute er sich einmal mehr darüber, dass er nun ein paar bescheidene Kleidungsstücke besaß und seinen Körper wärmen konnte, wenn ihm kalt war. Auch genoss er es, mehr als bloß einen Lendenschutz zu tragen und seinen Vorgesetzten nicht mehr nackt gegenüber treten zu müssen. Ich bin satt und ich habe keine Schmerzen, sagte er sich. Etwas anderes zu erhoffen, wäre vermessen. Auch gefiel ihm seine Arbeit. Untertags hatte er meist im Hafen zu tun und kontrollierte die Menge und die Qualität der Waren, die sein Herr ein- oder ausführen ließ. Harendotes besaß nämlich rund zwanzig Handelsschiffe, die zwischen Alexandrien, Tarantum, Brundisium und Puteoli verkehrten und im Wesentlichen Getreide und Wein mitführten. Am Abend widmete sich Silas der Buchhaltung, überprüfte die Aufzeichnungen der Schreiber und berechnete, wie viel Zoll sein Herr bezahlen musste.

Dabei arbeitete Silas äußerst gewissenhaft, sah jede Liste dreimal durch und manchmal, wenn er meinte, unkonzentriert gewesen zu sein, sogar ein viertes Mal. Denn zum einen wollte er Harendotes zeigen, dass er zurecht sein Vertrauen in ihn gesetzt hatte, zum anderen zog er die stillen Abende in seinem Kämmerchen dem Beisammensein mit den anderen Haussklaven vor. Die Geschichten, die sie erzählten, langweilten ihn. Und die Träume, an denen sie festhielten und die sie miteinander teilten, erinnerten ihn daran, wie unermesslich viel er verloren hatte. Nur Charilaos suchte Silas nach der Arbeit immer wieder auf, sprach mit dem Alten über die griechische Philosophie und hörte ihm zu, wenn er ihm erklärte, wann eine Begründung in einen unendlichen Regress führe und wann eine Definition zirkulär zu nennen sei. Manchmal kam Charilaos auch zu ihm und Silas bewirtete ihn mit den gedörrten Früchten und dem gepökelten Fleisch, das ihm Nayla immer wieder zusteckte.

Als es plötzlich anklopfte, dachte er deshalb zunächst auch an den Arzt. „Erchou", rief Silas erfreut, stand auf und öffnete die Tür. Doch ihm gegenüber stand nicht Charilaos, sondern Nayla.

„Ich fürchte, ich bin nicht der Gast, den du erwartet hast", meinte sie und der Blick ihrer dunklen Augen war so intensiv, dass Silas meinte, sich unweigerlich in ihnen verlieren zu müssen.

„Ihr seid mir ein viel lieberer Gast", erwiderte Silas und wunderte sich dabei, wie nah Wahrheit und Lüge manchmal beieinander lagen. Denn einerseits war das, was er für Nayla empfand, längst mehr als ein Gefühl der Dankbarkeit oder Freundschaft, und jedes Mal, wenn sie ihn ansprach oder nur ansah, war ihm, als würde alles, was dunkel war, zu Licht. Andererseits war es ihm nicht entgangen, dass sie in seiner Abwesenheit reifer und weiblicher geworden war. Insofern befürchtete er, dass ein nächtlicher Besuch seiner Herrin die weit größere Herausforderung darstellen könnte als ein Gespräch mit dem alten Arzt.

Silas trat zur Seite, um Nayla herein zu lassen. „Danke", entgegnete sie lächelnd. Dann sah sie sich im Raum um. „Arbeitest du die ganze Nacht?", erkundigte sie sich, doch es klang mehr wie ein Ausdruck von Wertschätzung als wie eine Frage.

„Nein, Nebet", antwortete Silas bescheiden. „Aber der Winter steht bevor, und fast jeden Tag kommen Schiffe an. Deshalb versuche ich, die alten Listen am Abend abzuschließen." Nayla nickte wohlwollend. Sie trägt ihren Schal hoch um den Hals geschlossen, sagte sich Silas, wie um sich selbst zu beruhigen.

„Zumindest bekommst du vom Griffel keine Blasen", meinte sie freundlich. Sie ging ziellos im Raum herum, nahm achtlos eine Rolle in die Hand, öffnete sie und tat so, als würde sie sich für den Inhalt interessieren. „Weißt du noch, am Anfang, als du die schwere Arbeit nicht gewöhnt warst", sagte sie. „Deine Hände waren in einem so entsetzlichen Zustand, dass ich den Anblick kaum ertragen konnte."

Silas lachte leise und bitter. Nayla war auf ihn zugekommen und sah ihm ins Gesicht. Er aber hielt den Blick von ihr abgewandt.

„Verzeih mir", flüsterte sie, „ich hätte nicht die alten Erinnerungen in dir wecken sollen." Sie wartete auf seine Reaktion, aber da Silas weiterhin unnahbar und stumm an ihr vorbei blickte, fuhr sie, merklich unsicherer, zu sprechen fort: „Ich weiß, dass du alles hasst, was mit diesem Haus zusammenhängt."

„Nein, nicht alles", erwiderte Silas spontan und rang sich jetzt doch dazu durch, Nayla anzusehen. Ihre Züge waren ihm vertraut, doch wirkten ihre Lippen voller, das Rot dunkler und die Konturen schärfer. Auch ihre Augen waren noch auffälliger als sonst, was an dem hellen Puder liegen mochte, mit dem sie ihre Lider geschminkt hatte. „Kann ich irgendetwas für euch tun, Nebet?" erkundigte er sich höflich.

Nayla schwieg, doch ihr Blick schien ihm eindringlicher als zuvor. Silas zögerte. Die Art und Weise, wie sie einander gegenüber standen, sprach von einer Nähe, von der er wusste, dass sie nicht angemessen war. Er wollte einen Schritt nach hinten gehen, um zumindest ein wenig räumliche Distanz zwischen sie zu bringen, doch war er dazu nicht fähig. Es war ihm, als würde Nayla einen Sog auf ihn ausüben, wie der Strudel von einem reißenden Wildbach, und als wäre er selbst mitten in dieser Strömung gefangen.

„Ich weiß nicht", antwortete sie endlich sanft, wobei die Zweideutigkeit in ihrer Stimme nicht zu überhören war.

Dann ließ sie ein wenig Zeit vergehen, bevor sie mit einer eigenartigen Selbstverständlichkeit den Schal, den sie um die Schultern trug, löste. Unbeachtet glitt das Stoffstück auf den Boden und gab nun den Blick auf einen wohlgeformten jungen Frauenköper frei, dessen Reize lediglich durch ein schmales Brustband und einen knappen Wickelrock verdeckt wurden. Silas stockte der Atem. Das Angebot, das ihm Nayla machte, war so eindeutig, dass es eine maßlose Beleidigung gewesen wäre, es zurückzuweisen. Auch war es nicht so, dass er kein Verlangen empfunden hätte, sie zu berühren, sie zu lieben. Doch zugleich spürte er das alte Misstrauen, und je länger er nachdachte, desto sicherer war er sich, dass sie sich bald nach dem Liebesakt für ihn schämen und ihn aus ihrem Blickfeld beseitigen lassen würde. Sie wird mich zurück auf die Plantage schicken, am Markt verkaufen oder einen Vorwand finden, warum ich sterben muss, dachte er, bückte sich und hob den Schal auf.

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