„Dankst du mir auf diese Weise für all das, was ich für dich getan habe?"
Mit diesen Worten eröffnete der Kohen das Gespräch. Silas war überrascht. Kurz überlegte er, wofür er Schlomo Dank schulden könnte, außer natürlich dafür, dass er anscheinend nicht vorhatte, ihn foltern zu lassen.
„Du warst in meinem Haus immer ein willkommener Gast."
Ein willkommener Gast, wiederholte Silas im Stillen. Denn er hatte sich in Schlomos Haus tatsächlich immer willkommen gefühlt. Allerdings nur solange, wie der Hausherr selbst nicht anwesend war. Denn sobald die Dienerschaft, die Hausherrin, Jonathan oder seine Schwestern Schlomos Ankunft auch nur als wage Möglichkeit ins Auge fassten, waren alle Leichtigkeit, alle Fröhlichkeit und Wärme wie ausgelöscht, in den Herrschaftsräumen ebenso wie in den Gemächern, ja selbst in der Küche und in den Stallungen. Einzig Daniel schien dabei wie ein unbekümmertes Vögelchen, das allem Ernst der drohenden Gefahr zum Trotz sein fröhliches Zwitschern nicht einstellen wollte.
Und er selbst, Silas, er hatte sich in der Gegenwart des strengen Oberpriesters stets bemüht, sich unauffällig zu verhalten, die Aufmerksamkeit des Hausherren ja nicht auf sich zu lenken. Vielmehr hatte er sich wie ein Schatten hinter Jonathan versteckt und bei der ersten Gelegenheit unter irgendeinem Vorwand das Haus verlassen. In den Momenten aber, da er sich Schlomos erbarmungslosem Blick nicht entziehen hatte können, hatte ihm dieser mit einer grausamen Absolutheit zu verstehen gegeben, wie gering seine Wertschätzung für einen verwöhnten, ungezogenen Jungen wie Silas war. Die Kälte und die Herablassung, mit der er seine Augen über Silas Gesicht, seinen Körper hatte gleiten lassen, hatten ihm damals als kleinen Jungen das Herz zusammengeschnürt und taten es auch jetzt noch, wo Silas gefesselt und hilflos dem Vater seines besten Freundes gegenüber stand. Was soll ich dir schon schulden, dachte Silas und wusste dabei nicht, ob es die Wut war oder die Ohnmacht, was ihn mehr quälte.
„Und als ob das nicht genug wäre, habe ich die Kosten für deinen Unterricht getragen, dafür gesorgt, dass du eine solide Ausbildung erhältst."
Das war es also, was Schlomo ihm vorhielt. Die ganze Wahrheit ist es ja nicht, sagte sich Silas, denn seine Mutter, die, nachdem sie früh zur Witwe geworden war, mit ihrem Vermögen haushalten musste, hatte den Unterricht ihres Sohnes beim Grammatikos natürlich selbst bezahlt. Was andere Fächer wie die Rhetorik oder die Rechtskenntnis betraf, war sie dankbar, dass Silas an Jonathans Privatunterricht teilnehmen durfte, ohne dass Schlomo sie dafür einen Kostenbeitrag leisten ließ.
„Was genau werft ihr mir vor?" fragte Silas schroff, als müsste er mit Gewalt die Erinnerungen vertreiben, sich aus der Macht des selbstgerechten alten Herren befreien.
„Das fragst du?" herrschte Schlomo ihn an und die leise Ahnung von Wut, die in seiner Stimme mitschwang, verschaffte Silas eine Art Genugtuung. Zugleich ärgerte er sich über seine eigene Kühnheit, denn das leicht gespannte Seil lag noch immer wie eine unausgesprochene Drohung zwischen ihnen.
„Denkt ihr denn, Jonathan wäre nicht auch ohne mich in den Kampf gezogen?" antwortete er, wie zur Erklärung.
„Das wäre er, aber du warst es, der ihn mit diesem Lügenpriester zusammengebracht hat", fuhr ihn Schlomo scharf an, das Seil ließ er aber unberührt.
„Hat Jonathan das gesagt?" erkundigte sich Silas und versuchte seiner Stimme einen Klang zu geben, an dem der Kohen keinen Anstoß nehmen würde.
„Nein. Er behauptet das Gegenteil. Aber er lügt", stellte Schlomo trocken fest.
„Und woher wollt ihr das wissen?" entgegnete Silas und es gelang ihm nur schlecht, seinen Ärger zu überspielen.
„Ein Mann, Silas, der seinen Sohn gründlich erzogen hat, weiß genau, wann er lügt", antwortete Jonathans Vater selbstgefällig.
„Es ist mir nicht ganz einsichtig, wie das eine mit dem anderen zusammen hängen soll", erwiderte Silas und nahm sich vor, das Seil von nun an nicht mehr anzusehen. Sollte Schlomo mit ihm doch machen, was er wollte, er würde jedenfalls nicht vor ihm um Gnade winseln.
„Hm, was weißt du schon über Erziehung", sagte Schlomo und begann, langsam und würdevoll im Raum hin und her zu gehen. „Du bist nichts anderes als ein verzogener, überheblicher Balg. Gut, du bist ohne Vater aufgewachsen, das ist eine gewisse Entschuldigung. Und deine Mutter war dir nicht gewachsen. Aber ich habe ihr mehr als einmal angeboten, sie bei deiner Erziehung zu unterstützen. Sie hat es abgelehnt, in ihrer Überheblichkeit, wie sie für euch Griechen typisch ist."
Silas war wie vor den Kopf gestoßen. Er dachte an seine Mutter, an seine schöne, sanfte Mutter und an die Liebe und das Einverständnis, das immer zwischen ihnen geherrscht hatte. Er warf Schlomo einen hasserfüllten Blick zu. Wie er diesen Mann verachtete, seine Selbstgerechtigkeit und Arroganz, mit der er sich anmaßte, über die Menschen zu urteilten, die Silas liebte.
„Weißt du, was Wahrheit ist?" hörte er da die Stimme des Alten. Silas antwortete nicht, doch es schien Schlomo nicht zu stören, denn er fuhr unbeirrt zu sprechen fort.
„Ein Mann, der seinen Sohn züchtigt, kennt die Wahrheit. Sie ist der Lohn für seine Mühen."
Der Lohn für seine Mühen, wiederholte Silas im Stillen und sah dabei voll Bitterkeit das Bild seines Freundes vor sich. Erst als kleiner Junge, dann als heranwachsender Mann. Er hatte die Brutalität des Vaters stets hingenommen ohne sich zu beschweren, hatte kaum ein Wort darüber verloren, zu überspielen versucht, wie sehr er litt. Und dennoch hatte Silas eine Ahnung von Jonathans Schmerz. Denn die Verschlossenheit, in die sich der Freund nach den Züchtigungen hüllte, war für ihn eine Art Richtschnur für das Ausmaß an Elend, das Jonathan in seinem Inneren verborgen zu halten suchte.
„Vielleicht nicht nach den ersten Schlägen", hörte er da Schlomo sagen. „Aber später, wenn dein Sohn sich unter den Hieben windet und dem Schmerz nichts mehr entgegenzusetzen hat, dann kommt der Augenblick, wo zwischen euch keine Lüge und keine Verstellung ist." Er hielt kurz inne. „Dabei ist es gleichgültig, ob er schreit, weint, um Erbarmen fleht oder ob er stolz ist und nicht zeigen will, wie erbärmlich und klein er sich fühlt. Doch wenn ein Vater diesen Punkt nicht erreicht, Silas, dann heißt es nicht, dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur, dass er noch nicht weit genug gegangen ist."
Silas spürte, wie sein Herz immer lauter schlug. Seine Knie zitterten und eine Art Hilflosigkeit umfing ihn, so lebhaft hatten die Worte des Alten in ihm die Szenen der Züchtigung heraufbeschworen. Zwar hatte Schlomo sich für gewöhnlich mit seinem Sohn in einen getrennten Raum zurückgezogen, sodass Silas und die Diener nicht zu unmittelbaren Zuschauern wurden, doch hatte er bei besonders schweren Verstößen die Tür offen gelassen und Silas befohlen zu warten. Natürlich hatte Jonathan bei solchen Anlässen mehr als sonst mit seiner Selbstbeherrschung gerungen und so war außer einem unterdrückten Stöhnen kaum etwas von ihm zu hören gewesen. Doch das Zischen der Rute, der Aufprall, eine Abfolge von Geräuschen, die sich, nicht enden wollend, wiederholte, bald zunahm an Intensität, bald an Geschwindigkeit, hatten Silas jedes Mal auf's Neue erschüttert. Dazwischen die unbarmherzige Stimme des Oberpriesters, der seinen Sohn immer wieder um die Strafe bitten ließ, ihm zu bekennen befahl, was er falsch gemacht hatte, oder ihn hieß, eine neue Rute aus dem Wasserbecken zu holen, wo er die Zweige in Salzwasser einzulegen pflegte, damit sie an Biegsamkeit und damit an Schärfe zunahmen.
„Ich habe Jonathan gesagt, dass du tot bist, Silas." Schneidend und kalt durchbrach Schlomos Stimme die Stille des engen, düsteren Raums. „Weißt du, was das bedeutet?"
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...