„Helia Jonathan!" rief ihm Lucius Sempronius Atratinus zu. „Sag, ist dir heute schon ein halbes Lächeln gelungen?"
Jonathan drehte sich zu ihm um und sah Lucius in die lustigen hellen Augen, die ihn herausfordernd anblitzten. Er war der leibliche Sohn des plebejischen Ädils , welcher allerdings schon vor Jahren verstorben war. Seit damals lebte er im Haus des Lucius Sempronius, der ihn schließlich auch adoptiert hatte, um auf diese Weise den Fortbestand seines Namens zu sichern. Lucius war ein ausgezeichneter Redner und ein netter Kerl. Zugleich war er einer der wenigen Menschen, mit denen Jonathan seit seiner Ankunft in Rom mehr als nur die notwendigsten Worte gewechselt hatte. Unter anderen Umständen wären sie Freunde geworden. Aber da Jonathan es als Treuebruch gegenüber Silas und Jetur empfunden hätte, sich auf eine neue Freundschaft einzulassen, blieb es bei der unausgesprochenen Sympathie zwischen den beiden jungen Männern.
„Bin ich etwa ein Asianer?" erwiderte Jonathan, ohne irgendeine Gemütsregung zu zeigen.
„Jonathan", ermahnte ihn Calvus, der unterdessen die Türen geschlossen hatte. „Du weißt, dass wir keine Scherze über unsere Gegner machen."
„Aber er hat nicht gescherzt, Meister", verteidigte ihn Lucius sofort. „Er war ernst wie immer." Sie unterdrückten beide ein Grinsen und folgten dann dem Lehrer, denn im Nebenraum hatten die anderen vier Schüler bereits mit der morgendlichen Gymnastik begonnen.
Asianer war ein Schimpfwort für die Vertreter einer von der Methode des Calvus stark abweichenden Rhetoriktradition, bei der es im Wesentlichen darum ging, im Publikum durch großartige Armbewegungen und geschwollene Worte Gefühle zu wecken und den Pöbel zu beeindrucken. Auch wenn in Rom derzeit die meisten Redner, Anwälte, Richter, Senatsmitglieder und Politiker zu dieser Tradition gehörten, gab es zugleich eine erlesene Gruppe von Anhängern des Attizismus, jenes sachlichen, auf überzeugenden Argumenten aufbauenden Stils des Calvus.
Während Jonathan gewissenhaft seine Turnübungen verrichtete und insgeheim die Zeit zurücksehnte, wo er sich mit Silas im Fechten gemessen hatte, fiel ihm die Senatssitzung ein, an der sie letzte Woche teilgenommen hatten. Drei- bis viermal im Monat nämlich wählte Gaius Licinius Macer Calvus für seine Schützlinge einen Prozess oder eine Senatssitzung aus, an dem sie als Zuhörer teilnehmen sollten. Meistens konnten sie dabei gemütlich auf den Stufen des Aedes Saturni sitzen und die Redner beobachten, wie sie auf die Rostra, eine aus den Rümpfen alter Schiffe hergestellte Rednerbühne, stiegen. Ob die Schiffe wirklich aus dem ersten Krieg gegen Karthago stammten, wagte Jonathan zu bezweifeln. Nichtsdestotrotz besaß die Rostra eine imposante Architektur und jeder Rhetorikschüler träumte davon, sie selbst einmal als Redner betreten zu dürfen. Bei der letzten Sitzung jedenfalls waren Unmengen an Menschen anwesend gewesen und Jonathan hatte sich gemeinsam mit den anderen rücksichtslos nach vorne drängen müssen, um irgendetwas hören, geschweige denn sehen zu können. Umso größer war seine Enttäuschung, als er begriff, dass die Ansprachen dieses Mal durch und durch im Stil der Asianer gehalten waren.
Nichts als Sentenzen, kurze, zugespitzte Sätze, die viel zu ungenau waren, um tatsächlich etwas auszusagen, gesprochen in einem starken Rhythmus und in einem weichlichen Tonfall, dazu der theatralische Einsatz des ganzen Körpers. Doch zumindest konnte man die Worte, die sie gebrauchten, verstehen. Denn es waren auch andere dabei, die ihre Reden gänzlich auf der Basis der Leidenschaft aufgebaut hatten. Sie liefen hin und her, sprachen mit einer ungeheuerlichen Geschwindigkeit und verwendeten immer wieder neue Begriffe oder aber Ausdrücke, die seit Jahrzehnten nicht mehr gebraucht wurden. Von denen wird keiner in die Geschichte eingehen, hatte ihm Lucius zugeflüstert und sein Blick war dabei von einer Entschlossenheit, die Jonathan ihm nicht zugetraut hätte.
Die anderen Schüler waren mittlerweile dazu übergegangen, ihre Muskeln zu dehnen. Da Jonathan sich darin nicht gerade geschickt anstellte, setzte er die Turnübungen noch etwas länger fort, denn er wollte die Zeitspanne, in der er nicht den Erwartungen des Lehrers entsprechen würde, möglichst kurz halten. Jonathan war groß, kräftig und muskulös, aber nicht besonders beweglich. Ganz im Unterschied zu Tabitha, dachte er. Die hatte Silas und ihn immer wieder durch die unnatürlichen Verrenkungen, die sie mit ihren Armen und Beinen ausführen konnte, in Erstaunen versetzt. Ich glaube, du hast keine menschliche Materie, hatte sie Silas dann geneckt, der keine Gelegenheit ausließ um zu zeigen, dass er mit der griechischen Philosophie bestens vertraut war, eher eine Art Flüssigkeit. Jonathan schloss kurz die Augen, denn er wollte Tabitha deutlich vor sich sehen. Doch im selben Moment sagte er sich, dass er kein Recht dazu hatte, dass er durch sein eigenes Tun jeden Anspruch auf sie verloren hatte, und wäre es auch nur, an sie denken zu dürfen.
Wieder kamen ihm die Asianer in den Sinn. Calvus hatte sie später, als sie in der Schule beisammen saßen, in scharfen Tönen getadelt. Sie haben keinen Sinn für das Argument, hatte er bemängelt, nichts als unreflektierte, eitle Emotionen. Auch Jonathan hatte sich über die Darbietung der Redner geärgert. Einerseits darüber, dass er sich mit so viel Entschlossenheit nach vorne durchgekämpft hatte, um dann ein miserables Schauspiel mitzuerleben, andererseits... Er konnte es nicht sagen. Vielleicht war es der Mangel an Disziplin, der ihn wütend gemacht hatte. Disziplin und Gerechtigkeit, sagte er sich, das sind die Tugenden, ohne die ein jedes Reich zugrunde gehen muss. Sein Vater hatte diesen Satz stets etwas anders formuliert: Es sind die Tugenden, ohne die ein Mann zugrunde gehen muss, hatte er betont. Disziplin und Gerechtigkeit, wiederholte Jonathan und mit einem Mal war der Gedanke des Morgens wieder da. Wie sehr hat mich Rom schon verdorben, überlegte er, dass ich noch zögere, das zu tun, was allein angemessen ist. Und doch spürte er einen Widerwillen in seinem Herzen.
Es gab in der Jerusalemer Priesterschaft eine kleine Gruppierung von Männern, welche die Selbstgeißelung als Übung der Buße empfahlen. Jonathan hatte ihr Tun immer als abstoßend und krankhaft empfunden. Es sind Verrückte, hatte er Daniel erklärt, als er ihn einmal danach gefragt hatte, das hat nichts mit der richtigen Frömmigkeit zu tun. Und selbst Schlomo war gegenüber derartigen Praktiken äußerst zurückhaltend. Er hatte Jonathan einmal ein paar knappe Erklärungen gegeben, aber ohne besonderen Nachdruck und ohne, dass er sich von seinem Sohn hätte zeigen lassen, ob er richtig verstanden hatte. Im Gegenteil, er hatte sogar darauf hingewiesen, dass die mit eigener Hand vollzogene Strafe das letzte Mittel der Reue sein müsse. Außerdem hatte er Jonathan eingeschärft, dass der Körper des Menschen von Gott geschaffen sei und man daher keine Gegenstände gebrauchen dürfe, die ihn entstellen könnten. Stumpfe Geräte, hatte er gemeint, ein breites Stück Holz oder ein glatter Lederriemen, der weder mit Metall noch mit Dornen versetzt sein darf. Keine Peitschen, schon gar nicht, wenn die Treibschnüre mit Knoten oder Widerhacken versehen sind.
Jonathan spürte, wie sich eine Art Erregung in seiner Brust ausbreitete. Zugleich war er unschlüssig, wie er sich entscheiden sollte. Es gibt nichts, das ich mit Schmerzen rückgängig machen könnte, sagte er sich und beschloss, sich nun endlich auf den Unterricht zu konzentrieren. Immerhin kostete der Rhetorikunterricht bei Calvus ein kleines Vermögen.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...