Damaskus, Sommer 56
„Ich bin gleich zurück." Mit diesen Worten hatte sich Distenes schon vor einiger Zeit von Jonathan verabschiedet und war dann am Eingang des Jupitertempels vorbei in Richtung Markt in der Menschenmenge verschwunden.
Seitdem stand Jonathan allein vor dem Eingangsportal des Palastes, in dem das Treffen mit Gabinius stattfinden sollte. Ein paar Schritte entfernt hatten sich jene sieben Männer im Schatten eines Torbogens zusammengefunden, die gemeinsam mit Distenes und ihm die beschwerliche Seereise von Patara nach Tyrus auf sich genommen und schließlich den Marsch nach Damaskus zurückgelegt hatten. Aber da er in den letzten Wochen kaum ein Wort mit seinen nabatäischen Begleitern gesprochen hatte, sah er auch jetzt keine Veranlassung, sich zu ihnen zu gesellen. Vielmehr wollte er sich, bevor sie den römischen Prokonsul treffen würden, Klarheit über ihre aktuelle Lage verschaffen. Das war alles andere als einfach, denn die Befehle, die man der Gesandtschaft des Ptolomäus erteilt hatte, waren widersprüchlich und noch dazu immer wieder verändert worden, sodass Jonathan das ganze Unterfangen mittlerweile einigermaßen unglaubwürdiger erschien.
Er sah noch einmal zu den anderen Männern hinüber und stellte sich vor, wie viel angenehmer ihre Position war, denn sie waren durch das massive Steingewölbe gut vor der sengenden Mittagshitze geschützt. Er dagegen hatte nur einen Turban, der ihm ein wenig Erleichterung bot. Trotzdem wollte er für sich bleiben, auch wenn es bedeuten würde, auf unbestimmte Zeit in der prallen Sonne zu warten, bis man sie einlassen würde. Obwohl Jonathan die meisten von ihnen bereits von ihrer Reise nach Tarentum kannte, war er doch unsicher, wem er vertrauen konnte. Offiziell waren sie alle Mitglieder der diplomatischen Mission des ägyptischen Königs. Aber da Rom keinen großen Unterschied zwischen gut ausgebildeten Diplomaten, bezahlten Spionen und ehemaligen Legionären machte, die sowohl für das Anzetteln von Volksaufständen, als auch für Meuchelmorde eingesetzt werden konnten, schien ihm Vorsicht geboten zu sein.
Jonathan wusste, dass er in ein Spiel geraten war, das deutlich größer war als er selbst, und verhielt sich deshalb ruhig und unauffällig. Gerade jetzt, wo er beinahe wieder zuhause war, wollte er nichts tun, was ihn in Gefahr bringen konnte, als ehemaliger Widerstandkämpfer enttarnt zu werden. Und so stand er, während die anderen Männer sich angeregt unterhielten, allein mit dem Rücken zur Sonne, sodass der Turban zumindest seinem Gesicht ein wenig Schatten spendete. Wer weiß, sagte er sich, vielleicht werde ich bald in Jerusalem sein. Dabei schüttelte er unwillkürlich den Kopf, denn eine solche Entwicklung war noch vor wenigen Wochen, als sie in Ephesus auf weitere Befehle gewartet hatten, kaum vorstellbar gewesen.
Für den heutigen Tag jedenfalls war überraschend eine Zusammenkunft mit Gabinius einberufen worden. Der Stadthalter der syrischen Provinz hatte anscheinend einige Tage zuvor seine Residenz im nördlich gelegenen Antiochien verlassen und war beinahe zeitgleich mit der kleinen Gesandtschaft des Ptolomäus in Damaskus eingetroffen. Distenes hatte Jonathan gegenüber von einer Fügung des Schicksals gesprochen, doch der hatte inzwischen gelernt, dass die römische Politik nichts dem Zufall überließ. Unentschlossen war er jedoch hinsichtlich der Frage, was die veränderten Bedingungen für ihn bedeuten mochten. Auf der einen Seite war Jonathan dankbar, dass die politischen Geschehnisse in Ägypten und vor allem die Machenschaften Roms ihn einer Rückkehr nach Jerusalem so nah gebracht hatten. Auf der anderen Seite war er sich natürlich dessen bewusst, dass die Dinge in Bewegung waren und jederzeit neue Befehle erteilt werden konnten, die alles verändern würden. Außerdem war er sich immer noch nicht sicher, dass Rom seine Beteiligung am Angriff gegen Para vergessen hatte und er seine Reise in Richtung Heimat nicht mit dem Tod am Kreuz bezahlen würde müssen.
Zwar hatte ihm Herodes eine Begnadigung versprochen, doch war Jonathan unentschlossen, wie viel er auf das Wort von Antipaters jüngstem Sohn geben konnte. Immerhin hatte sich Vieles anders entwickelt, als Herodes es geplant hatte. Nachdem die Reise des Ptolomäus und seines Hofes zu Jahresbeginn in Grumentum abrupt gestoppt worden war, hatten sie den Rest des Winters in Tarentum verbringen müssen. Die Nachrichten aus Rom erreichten das Gefolge des ägyptischen Königs relativ rasch, waren aber oft widersprüchlich und insofern wenig hilfreich für die Planung. Einmal hieß es, dass Lentulus, der gerade zum Konsul gewählt worden war, eine militärische Expedition nach Ägypten anführen wolle, um Ptolomäus wieder als König einzusetzen. Ein anderes Mal schien es, als ob der römische Senat sich darauf geeinigt hätte, drei Legaten eine besondere Verfügungsgewalt zu übertragen, sodass sie jeweils eine Legion nach Alexandrien hätten führen sollen. Danach hörte man, dass sämtliche Vorbereitungen dahingehend eingestellt worden waren, weil mit einem Mal das nötige Geld fehlte. Jonathan war stets bemüht, alle Informationen gewissenhaft zusammenzutragen und mit Distenes ausgiebig zu diskutieren. Allerdings waren die Nachrichten oftmals derart wirr, dass es schwierig war, sich ein klares Bild zu verschaffen.
Irgendwann jedenfalls dürfte der Senat doch entschieden haben, dass die Präsenz des ägyptischen Königs auf italienischem Boden nicht nur ein außenpolitisches Problem darstellte, sondern möglicherweise sogar innenpolitisch gefährlich werden könnte. Denn einerseits hatte die in Ägypten amtierende Königin Berenike gedroht, die Kornlieferungen zu verteuern, sofern Rom weiterhin ihren nach dem Thron strebenden Vater unterstützen würde. Andererseits hatte das Gleichgewicht der römischen Politik beträchtlich zu wanken begonnen. Pompeius war seitens der römischen Aristokraten unter Druck geraten, weil die um ihr dem Ägypter geliehenes Geld bangten, sofern Ptolomäus die Königswürde nicht zurückerlangen würde können. Um eben diese Aristokraten nicht noch mehr zu verärgern und da er zugleich einen Bürgerkrieg befürchten musste, wenn er die Senatoren gezwungen hätte, Ptolomäus mit Gewalt zum König zu machen, entschied Pompeius, zunächst einmal abzuwarten. Er ließ Ptolomäus und seinen Tross über Korinth nach Ephesus überführen. Denn in Asien hatte Pompeius deutlich mehr Einfluss und konnte Ptolomäus besser schützen, bis die politischen Verhältnisse seine Wiedereinsetzung als König erlauben würden.
In Ephesus hatte der ägyptische Hof auf einer Anhöhe in der Nähe des Tempels der Artemis Quartier bezogen. Bis zum Sommer schien es, als ob es in Rom wichtigere Probleme gäbe als den Thronstreit in der beiden ägyptischen Königsdynastie. Berenike und Ptolomäus kamen in den Besprechungen der römischen Volksversammlung schlichtweg nicht mehr vor. Der Senat hat vor Pompeius Angst, hatte Distenes damals gemeint. In Asien ist er bereits sehr mächtig, und wenn man ihm jetzt noch erlaubt, ein paar Legionen nach Ägypten zu führen, damit Ptolomäus wieder den König spielen darf, wird er unter Umständen unkontrollierbar. Jonathan teilte die Meinung des Freundes. Unter anderen Umständen wäre ihm die Pattsituation in der römischen Politik reichlich gleichgültig gewesen, doch jetzt, da er eine realistische Möglichkeit sah, nach Jerusalem zurückzukehren, und seine Sehnsucht nach seiner Mutter, den Schwestern, Daniel und Tabitha täglich größer wurde, konnte er die Ungewissheit kaum ertragen.
„Tabitha", flüsterte er. Auch jetzt noch liebte er den Klang ihres Namens. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und musste dabei schmunzeln, denn er erinnerte sich, wie wichtig es ihr war, sich an heißen Tagen mit reichlich kaltem Wasser zu waschen, und dass sie es, wenn sie sich verschwitzt fühlte, nicht einmal ertrug, von ihrer Mutter umarmt zu werden. Zuhause hatte er sie gerne geneckt, dass es ein Laster sei, so viel Wasser zu verschwenden, und dass das Schwitzen nun einmal zum Leben dazu gehörte.
Im Haus des Eleazar wird es ihr an Wasser bestimmt nicht fehlen, dachte Jonathan, und auch nicht an Sklaven, die ihr Luft zufächeln. Aber war sie glücklich? Er wusste es nicht. Genau genommen konnte er nicht einmal sagen, ob sein Pakt mit den Römern tatsächlich dazu diente, Tabithas Leben zu schützen. Mehr noch: Er war alles andere als sicher, ob er am heutigen Tag, sofern sie jemals in das Innere des Palastes vorgelassen werden sollten, einen neuen Befehl erhalten würden, oder ob die Audienz bei Gabinius letztlich eine Falle war und dazu diente, ihn festzunehmen, ohne großes Aufsehen zu erregen. Der Umstand, dass Distenes, der vorgegeben hatte, nur rasch am Markt etwas zu trinken besorgen zu wollen, noch immer nicht zurückgekehrt war, stimmte Jonathan nicht gerade zuversichtlich.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...