Ein Versprechen

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Als Silas am nächsten Morgen in Richtung Hafen aufbrechen wollte, wurde er beinahe von einem kleinen Sklavenjungen umgerannt, der gerade die Treppen aus dem ersten Stockwerk hinunter gesprungen kam. Anstatt sich zu entschuldigen, packte er Silas energisch am Ärmel, als müsste er um jeden Preis sein Fortgehen verhindern.

„Warte, Silas!", rief der Kleine aufgeregt. „Die Nebet wünscht dich zu sehen. Schnell, es ist eilig."

Der Junge war außer Atem. Außerdem hatte er hastig gesprochen, sodass Silas in Wahrheit nur Bruchstücke der Wörter verstanden hatte. Da sich diese jedoch alle in einen sinnvollen Zusammenhang bringen ließen, ging er davon aus, dass er sich nicht getäuscht hatte. Nayla wollte mit ihm sprechen. Silas Magen zog sich krampfhaft zusammen. Stumm folgte er dem Buben, der sichtlich stolz war, dass es ihm gelungen war, seinen Auftrag erfolgreich auszuführen. Für Silas dagegen war jeder Schritt, der ihn die Marmorstufen weiter nach oben führte, eine Qual. Nach der letzten Nacht hatte er gehofft, dass Nayla seine Entscheidung akzeptiert, ihn vielleicht sogar verstanden hätte. Aber wenn sie ihn jetzt so früh am Morgen in ihre Privaträume zitierte, konnte das nur bedeuten, dass er sie doch in ihrem Stolz gekränkt hatte und sie sich dafür revanchieren wollte.

„Hat die Nebet erwähnt, worum es geht?", erkundigte sich Silas unnötiger Weise und wurde von dem Jungen natürlich sofort eines Besseren belehrt.

„Aber nein, die Nebet sagt mir doch nicht, was sie vorhat", erwiderte der Kleine entrüstet und stapfte weiter mit entschlossenen Schritten vor ihm her.

Silas versuchte sich vorzustellen, was passieren würde. Und mit einem Mal wurde ihm klar, was es war, das er fürchtete. Es war nicht das, was sie ihm möglicherweise antun würde, sondern der Umstand, dass sie es war, die ihn bestrafen und erniedrigen würde. Als er ihr in der Nacht seine Liebe gestanden hatte, war er sich nicht ganz sicher gewesen, ob er ihr die Wahrheit gesagt hatte oder ob es einfach die beste Art und Weise war, sich davon zu stehlen. Jetzt aber, in dem Moment, wo er sich ausmalte, dass keine andere als Nayla ihn demütigen, schlagen und verspotten würde, wusste er, dass es doch etwas wie Liebe sein musste, das ihn ihr gegenüber so verletzlich machte.

Er hatte seinen Gedanken noch nicht richtig zu Ende gedacht, da klopfte sein junger Begleiter schon energisch an die Tür, und Apis, Naylas Eunuch, öffnete. Silas trat ein und warf Nayla einen scheuen Blick zu. Sie war schön wie in der Nacht zuvor und an all den Tagen, die der Nacht vorausgegangen waren. Doch sie wirkte unruhig, aufgebracht.

„Hinaus mit euch, los, los!", kommandierte sie unfreundlich und sofort verließen die übrigen Sklaven den Raum. Silas senkte den Blick. Naylas Verhalten schien seine Befürchtungen zu bestätigen.

„Silas!", rief sie aus und ihre Stimme war dabei voll von Liebe und Sorge wie die von einer Mutter, die ihr Kind aus Todesgefahr retten muss. „Zum Glück hat dich Bennu gleich gefunden. Du musst fort. So schnell es geht."

Silas richtete sich etwas auf und sah Nayla fragend in die Augen.

„Soeben ist ein Bote aus Mer Wer eingetroffen. Er hat eine Nachricht mitgebracht. Anek befindet sich am Weg nach Alexandrien. Es geht ihm nicht gut. Er hat Krämpfe in den Beinen, findet keinen Schlaf. Und er meint, dass Charilaos ihm helfen kann. Vielleicht noch zwei oder drei Tage, dann wird er hier sein." Während Nayla gesprochen hatte, war sie auf ihn zugekommen. „Verstehst du, Silas", schrie sie ihn unbeherrscht an und packte ihn fest an den Oberarmen. „Du musst fort. Für Anek ist die Sache zwischen euch nicht abgeschlossen. Er wird..." 

Sie stockte und Silas hatte Angst, Nayla könnte zu weinen beginnen. Zugleich war sein Herz schwer und warm vor Glück. Nayla hatte ihn nicht gerufen, um ihn zu bestrafen oder zu demütigen, sondern weil sie in aufrichtiger Sorge um ihn war. Angesichts dieser Tatsache erschien Silas selbst der Umstand, dass er bald keinem Geringeren als Anek gegenüberstehen würde, keine allzu große Bedrohung zu sein.

„Meine schöne, meine geliebte Göttin", flüsterte er und legte seine Hände auf ihre Taille. „Macht euch nicht so viele Gedanken um einen Mann von derart geringem Wert." Er küsste sie sanft auf ihre rechte Schläfe und der Umstand, dass sie seine Nähe trotz der Rage, in der sie sich befand, zuließ, erfüllte ihn mit einer Euphorie, die grenzenlos zu sein schien. „Der Nehab hat mich die letzten Male nicht totgeschlagen", ergänzte er, nach außen ruhig, "er wird es auch jetzt nicht tun."

„Das kann man nicht wissen", entgegnete Nayla aufbrausend. Offensichtlich dachte sie nicht daran, sich so bald wieder zu beruhigen. „Hör zu, ich habe eine Tante in Per Amun. Sie ist eine gütige, alte Dame und ihr Mann ist schon lange verstorben. Du wirst es gut bei ihr haben. Ich werde veranlassen, dass du noch heute mit einer Karawane die Stadt verlassen kannst."

„Aber das ist unmöglich", widersprach ihr Silas. „Gerade jetzt, wo es so viel Arbeit gibt. Euer Vater braucht mich."

„Er hat seine Geschäfte schon betrieben, bevor du hier warst", erwiderte Nayla energisch und Silas begriff einmal mehr, dass sie nicht die Art von Frau war, die sich leicht von einer anderen Meinung überzeugen ließ.

„Euer Vater hat neue Aufträge angenommen, ein wichtiges Geschäft mit einem griechischen Händler abgeschlossen. Seine Flotte kann jederzeit eintreffen und sie soll noch vor dem Winter nach Achaia aufbrechen. Harendotes verlässt sich auf mich." Silas wartete einen Augenblick. Nayla sagte nichts, aber der Griff, mit dem sie sich an seinen Armen festklammerte, war immer noch unnachgiebig. „Ich kann euren Vater nicht im Stich lassen, nur weil ich Angst habe, ein paar Prügel einstecken zu müssen."

„Es werden aber nicht ein paar Prügel sein", fuhr sie ihn an. „Das weißt du genau." In ihren Augen standen die Tränen. Nicht weinen, sagte er sich, nur nicht weinen.

„Und doch wird es anders sein als damals", erwiderte er schnell. „Das verspreche ich euch."

„Was kannst du mir schon versprechen?", gab sie trotzig zurück und ihre Stimme zitterte.

„Dass ich mich ihm unterordnen werde." Silas zögerte. „Euer Bruder ist eine Bestie, aber das, was passiert ist, war auch meine Schuld. Ich hätte nicht so stolz sein dürfen, das habt ihr selbst gesagt. Ich habe dazu gelernt." Ich bin lang genug ein Sklave gewesen, ergänzte Silas innerlich. „Ich werde alles tun, was er von mir verlangt. Ich werde mich so lange erniedrigen, bis er zufrieden ist. Und wenn er mich gezüchtigt hat, werde ich ihm dafür danken." Er unterbrach sich kurz. Er spürte, wie sein Brustkorb bebte, denn alles in ihm wehrte sich gegen das, was er gerade gesagt hatte. „Ich verspreche es euch", wiederholte er, eindringlicher als zuvor, und jetzt endlich spürte er, wie der Griff um seine Arme etwas lockerer wurde und ihre Anspannung allmählich nachließ.

Nayla war nicht überzeugt, das war offensichtlich. Doch sie wusste wohl auch, dass es keine wirklichen Alternativen gab. Denn selbst wenn Harendotes seiner ältesten Tochter jeden Wunsch von den Augen ablas und sie mit Geschenken geradezu überhäufte, wäre er bestimmt nicht ohne weiteres bereit gewesen, den Mann, der ihm Buchhalter, Übersetzer und Berater in einem war, ohne triftigen Grund gehen zu lassen.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt