„Hör zu, Jonathan", fuhr Alexander fort. Seine Stimme klang eindringlich und bestimmt. „Die Situation ist noch unklar. Aber ich habe einige Truppen hier in der Gegend und auch in Galiläa. Wir lassen die Römer nicht in Ruhe. Wir haben unsere Stützpunkte in den Städten und greifen sie an, wenn sie nicht damit rechnen. Ihre Karawanen oder die kleinen römischen Einheiten, die auf den Straßen patrouillieren." Jonathan nickte. „Unser Ziel ist es, so viel Schaden anzurichten, wie wir können. Damit verhindern wir, dass es den Römern gelingt, ihre Kräfte an einem Ort zu bündeln. Und das wiederum bedeutet, dass wir von ihnen nicht vernichtend geschlagen werden." Er wartete kurz, sah Jonathan aufmerksam an. Doch der schwieg.
„Mein Vater hält sich in der Festung Machärus verschanzt", ergänzte Alexander. Sein Gesicht zeigte nun wieder etwas mehr Beteiligung. Er macht sich Sorgen um Aristobolus, sagte sich Jonathan und verspürte dabei den Wunsch, etwas Positives zu ihrem Gespräch beizutragen. Doch es fiel ihm nichts Passendes ein. Dafür musste er sich eingestehen, dass die Anerkennung und die Sympathie, die er für den Königssohn seit ihrer ersten Begegnung empfunden hatte, längst nicht mehr zu leugnen waren. „Die Römer haben schon einige Male versucht, die Festung zu erobern", hörte er Alexander sagen, „bis jetzt waren sie erfolglos. Wenn wir den Widerstand in Galiläa und in der Gegend um Jericho aufrecht erhalten, können wir zumindest ein wenig Druck von Machärus nehmen. Und auf Dauer können die Römer nicht an allen Fronten kämpfen. Sie werden verhandeln müssen."
„Herr", unterbracht ihn Jonathan „alles, was ihr sagt, überzeugt mich. Aber es ist mir ganz und gar unklar, wie ich zum Erfolg eurer Bemühungen beitragen könnte. Schon in Rom habe ich euch keine Informationen beschaffen können und auch jetzt weiß ich nichts zu berichten, was ihr nicht schon selbst herausgefunden hättet." Alexander lächelte wohlwollend.
„Du unterschätzt deinen Einfluss", widersprach er ihm. „Du bist der Sohn von einer der führenden Priesterfamilien. Und wir haben im Tempel genug Verbündete, damit wir dich in eine Position bringen können, die für uns nützlich sein wird."
Jonathan nickte, jedoch ohne Überzeugung. Es kam ihm vor, als würde sein Vater mit ihm reden, und er musste unwillkürlich an ein Gespräch denken, das sie am Tag seiner Torahprüfung geführt hatten, als er offiziell in die Gruppe der erwachsenen Männer aufgenommen worden war. Nach der Zeremonie im Tempel hatten sie gegessen und gefeiert und Jonathan hatte noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, sich zurückzuziehen und das kleine Geschenk zu öffnen, das ihm Tabitha heimlich zugesteckt hatte, als ihn sein Vater zu sich rief.
Mechanisch überlegte Jonathan, ob er sich etwas zu Schulden hatte kommen lassen, und da ihm nichts einfiel, argwöhnte er, dass Schlomo ihm eine Lektion erteilen und ihm zeigen wollte, dass eine erfolgreich abgelegte Torahprüfung noch lange kein Grund war, nicht von seinem Vater gezüchtigt zu werden. Er stand also vor ihm in seiner schönsten Tunika und bemühte sich, dem Vater nicht zu zeigen, wie hilflos und schwach er sich ihm gegenüber fühlte. Doch was dann kam, war ganz anders, als es Jonathan erwartet hatte. Sein Vater hielt Jonathan für eine ihm endlos lang erscheinende Zeit an den Oberarmen fest und erklärte ihm, dass das Schicksal der Familie von nun an in seinen Händen liegen würde. Jonathan verstand von all den Dingen, die er zu hören bekam, reichlich wenig, aber er war klug genug, keine Fragen zu stellen oder gar zu widersprechen. Stattdessen schwieg er und bemühte sich, verständig zu wirken und so wie einer, der sich für die ihm zuerkannte Aufgabe würdig erweisen würde. Die Gefahr, dass sich die Laune des Vaters jäh verändern und er doch zur Rute greifen würde, war immer noch gegeben. Und auch wenn es Schlomo an diesem Tag tatsächlich bei einer mündlichen Unterweisung beließ, waren Jonathan seine letzten Worte bis heute in Erinnerung geblieben. Sie ähnelten dem, was ihm Alexander gerade gesagt hatte: Mithilfe unserer Freunde wirst du eine Position erlangen, die für uns nützlich sein kann.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...