Lilith

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Jetzt endlich wagten die Soldaten, die sich für den Tod des Zenturios hatten rechtfertigen müssen, ihre demütige Haltung aufzugeben. Pflichtbewusst machten sie sich daran, den Befehl des Optio auszuführen, wobei sie als erstes die beiden Rebellen hinrichteten, welche die ganze Zeit vor ihnen gekniet und um ihr Leben gefleht hatten. So haben die Dinge wieder ihre Ordnung, dachte Silas sarkastisch. Und auch unmittelbar neben ihm spielte sich eine groteske Szene ab. Denn der schwer verletzte Jonathan und sein sterbender Knecht schienen die Rollen getauscht zu haben. Der Schmerz und die Trauer um seinen Diener hatten Jonathan seine letzten Kräfte mobilisieren lassen. Er hatte sich ein wenig aufgerichtet und Jeturs Kopf in seinen Schoß gebettet.

„Mein treuer Freund", nur mit großer Mühe brachte Jonathan die Worte über seine Lippen. Sein Atem ging kurz und stockend, es war ihm anzusehen, wie viel Anstrengung ihm das Sprechen abverlangte. „Ich wollte, dass du ein besseres Leben führst."

Stumm und reglos ruhte Jetur bei seinem Herren. Ob er noch lebt, fragte sich Silas, denn er war zu weit weg, um dem Knecht in die Augen blicken zu können. Dafür sah er, wie Jonathan weinte. Hemmungslos ließ er den Tränen freien Lauf, die Hände, die kurz zuvor noch getötet hatten, streichelten hilflos das blutverschmierte Haar des Freundes. Dann begann Jonathan auf Hebräisch zu beten. Allmählich wurde er dabei ruhiger und auch Silas spürte, wie die Worte der Psalmen ihm eine Art Frieden gewährten. Die Römer dagegen schien Jonathans Gemurmel nervös zu machen.

„Was redet er?" rief einer der Soldaten scharf und da nicht klar war, an wen genau seine Frage adressiert war, beschloss Silas zu antworten.

„Das ist Hebräisch", sagte er und im selben Moment kam ihm ein Gedanke, wie er seine Lage vielleicht verbessern würde können.

„Was für eine Sprache das ist, ist mir scheißegal. Ich will wissen, was es bedeutet", schrie der Mann ihm gegenüber.

„Channeni elohim kechasdeka, kerov rachameka, mecheh fescha'aj", flüsterte Jonathan unbeirrt. Erbarme dich, Gott, nach deiner Gnade, widerholte Silas bei sich und setzte entschlossen zu sprechen an:

„Er beschwört die Totengeister, Herr."

„Was denn für Totengeister?" erkundigte sich der Römer und versuchte dabei seine Unsicherheit zu überspielen.

„Die Wüstendämonen. Er ruft sie herbei, damit sie seine Rache vollziehen. Jetzt gebietet er der Lilith, ihre schwarzen Flügel über euch Römer zu legen. Sie wird ihre langen blutigen Krallen in euer Fleisch bohren, nachts wenn ihr in eurem Lager ruht und euch sicher meint. Sie wird euch den Atem rauben, die Brust zusammendrücken und mit ihrem schwefeligen Atem euer Lebenslicht zum Erlöschen bringen." Während seinem Monolog war Silas langsam aufgestanden und hatte die Worte mit theatralischen Gesten untermalt. „Und wehe denen von euch", raunte er nun drohend, „die zuhause eine Frau oder gar ein Kindchen haben. Denn die Lilith liebt frisches junges Fleisch. Im selben Moment, wo sie euer Leben beendet hat, werden auch eure Frauen und Kinder einen qualvollen Tod erleiden."

Mittlerweile hatte sich ein kleines Grüppchen von Soldaten um Silas geschart. Der Kampf hatte ihnen alles abverlangt und in ihrer Erschöpfung nahmen sie die Bilder, die Silas vor ihrem inneren Auge entstehen ließ, als reale Bedrohung wahr. Die Verunsicherung war ihnen deutlich anzusehen, einige begannen sogar in ihrer Muttersprache die eigenen Götter anzurufen. Silas nahm den Erfolg seiner Lilith-Erzählung mit Zufriedenheit wahr. Allein, die vage Furcht der Römer war noch zu wenig. Er musste sie dazu bringen, dass sie ihn und Jonathan für gefährlich hielten. Doch während er noch überlegte, brachte der Optio das Gemurmel jäh zum Verstummen.

„Was ist hier los?" schrie er wütend und schritt mit großen schweren Schritten auf Silas zu. Links und rechts wichen die Soldaten zurück.

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