„Ihr hattet Recht", antwortete Silas. Wie immer, wollte er ergänzen, aber er tat es nicht, denn er wusste, dass Peitholaos jede Schmeichelei zuwider war. „Alexandreion war gut befestigt", sagte er deshalb nur. „Die Römer hätten die Festung nicht einnehmen können." Er wartete kurz, konnte sich dann aber doch nicht zurückhalten, das auszusprechen, was er die ganze Zeit über schon verborgen in seinem Herzen trug. „Wenn nur alle eurem Befehl gefolgt wären!", rief er leidenschaftlich aus.
„Schweig!", befahl ihm Peitholaos, doch Silas ließ sich nicht unterbrechen.
„Wenn die verfluchten Qanaim nicht die Tore aufgemacht hätten und den Römern nachgejagt wären", stieß er wütend aus.
„Genug, Silas", fuhr ihn Peitholaos an und stand auf. Dabei kam der Lederschlauch, der in seinem Schoß gelegen hatte, ins Rutschen und Silas beobachtete, wie er die Schlucht immer weiter hinunterrollte, sich bald überschlug, gegen Steine prallte, Geröll mitriss, sich im Gebüsch zu verhängen schien, dann aber wieder freikam und irgendwann nicht mehr zu erkennen war.
Das letzte Mal, als er Steine einen Hang hinunterrollen hatte sehen, war in Alexandreion gewesen. Sie hatten die erste Angriffswelle der Römer abgewehrt und Silas hatte gemeinsam mit den Soldaten neben ihm beobachtet, wie sich die Römer geordnet zurückzuziehen begonnen hatten, als plötzlich ein paar hundert jüdische Krieger das Tor aufgestoßen hatten und unter lautem Kampfgeschrei aus der Festung herausgestürmt waren. Ihre Attacke war unkontrolliert, ungestüm und planlos. Gewiss, die Truppen der römischen Legaten Cornelius Sisenna und Servilus hatten zunächst überrascht reagiert, denn wer hätte schon damit gerechnet, dass ein so verdienter Feldherr wie Peitholaos eine derart stümperhafte Strategie verfolgen würde. Doch nach dem ersten Moment der Verwirrung hatten sie die Angreifer mit Leichtigkeit abgewehrt. Mehr noch, es hatte nicht lange gedauert und Marc Anton war ihnen mit seiner Reiterei, die in der Ebene vor der Festung gelagert hatte, zu Hilfe geeilt. Was dann kam, dachte Silas, war ein einziges Massaker. Peitholaos hatte versucht, die Männer neu zu formieren und eine Verteidigungslinie zu bilden, doch in der allgemeinen Panik waren seine Befehle wirkungslos verhallt. Schließlich war es ihm zumindest gelungen, mit einem Teil seiner Soldaten und wenigen hundert Männern des Aristobolus , den Belagerungsring der Römer zu durchbrechen und nach Süden zu fliehen.
Silas blickte in Richtung der Oase. Wir werden sie sehen, wenn sie von dort aufbrechen, sagte er sich. Und doch werden wir ihnen nichts entgegenhalten können. Denn dass sie überhaupt ein paar Tage Zeit gehabt hatten, den Wiederaufbau von Machärus zu beginnen, hatten sie letztlich nur der Blutrünstigkeit der Römer zu verdanken, die in ihrem Drang, den verstreut fliehenden Kämpfern nachzujagen und sie abzuschlachten, einiges an Zeit verloren hatten. Während Silas sich auszumalen begann, was unausweichlich auf sie zukommen würde, wurde ihm wieder bewusst, dass Peitholaos immer noch hinter ihm stehen musste. Er wusste nicht, wie er das Gespräch wieder in Gang setzen konnte, war sich zugleich aber sicher, dass er den anderen nicht gehen lassen wollte. Also stand er auf und als er Peitholaos in die Augen sah, wurde ihm klar, dass der ihn die ganze Zeit über beobachtet hatte.
„Hör mir zu, Silas", begann Peitholaos. „Wir werden kämpfen und wir werden sterben. Aber du, du wirst meinem Befehl gehorchen und du wirst am Leben bleiben."
„Nein, Herr", widersprach ihm Silas heftig. „Ich habe meine Entscheidung längst getroffen. Ich werde mit euch kämpfen. Ganz gleich, wie die Umstände sein werden und was ihr mir gebietet." Er stand Peitholaos unmittelbar gegenüber und rechnete damit, dass der ihn für seine Frechheit ins Gesicht schlagen oder ihn zumindest anbrüllen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Vielmehr legte ihm Peitholaos die Arme auf die Schultern und zog ihn noch etwas näher an sich heran.
„Du hast mich einmal gebeten, dir vom Tod deines Vaters zu erzählen", begann Peitholaos leise und als Silas nicht gleich reagierte, fügte er hinzu: „Willst du es hören? Willst du wissen, wie dein Vater gestorben ist?" Silas nickte.
„Als Königin Salome starb, brach das Chaos über Jerusalem herein. Die Priester fürchteten um ihre Privilegien, jeder suchte seinen eigenen Vorteil. Jeder..." Er unterbrach sich kurz und seufzte. „Mit Ausnahme von deinem Vater." Wieder hielt Peitholaos inne. Er sah Silas ernst in die Augen, und auch die Art und Weise, wie er ihn festhielt, hatte etwas Absolutes, Unveränderliches.
Silas hörte, wie sein Atem schneller wurde und lauter. Mit einem Mal hatte er den Wunsch, Peitholaos an die Hand zu nehmen, mit ihm gemeinsam Machärus, die Truppen, die Schlacht zurückzulassen und fortzugehen an einen guten friedvollen Ort, wo er sein Schüler sein, den Worten des Meisters lauschen und von ihm lernen würde können. Im selben Augenblick überkam ihn ein Gefühl der Scham. Denn sie waren Kämpfer und schuldeten ihrem König Treue. Es war nicht mehr viel Zeit, bis die Römer angreifen würden, und sie mussten bereit sein. Bereit für einen Kampf, in dem es nur wenige Überlebende geben würde, zumindest, was die Juden betraf. Es sind die letzten Momente, die ich mit diesem wunderbaren Mann verbringen darf, dachte Silas und blieb regungslos stehen. Die letzte Zeit, die mir vom Leben bleibt.
„Aristobulus hatte seine Frau und seine Kinder in der Baris in Sicherheit gebracht", sagte Peitholaos endlich. „Er hat Priester gesucht, die bereit waren, seine Familie zu beschützen. Dein Vater war der erste, der sich gemeldet hat. Ich war bei ihm, außerdem eine Handvoll Priester, einer war ein Freund deines Vaters, Schlomo ben Ahitub. Er ist später Schatzmeister geworden, aber das tut nichts zur Sache."
Silas nickte. Er hatte das Gefühl, dass er die Spannung in seiner Brust kaum mehr ertragen konnte. Ein Mann wie Peitholaos darf nicht so einfach niedergemetzelt werden, begehrte er innerlich auf und ein Beben durchfuhr ihn. Er sah in die tiefen braunen Augen, sah die Fältchen in der sonnengebräunten Haut, die klar gezeichneten Lippen. Er wusste weder, was er tun sollte, noch was er denken durfte. Jonathan und er hatten oft über die jungen Männer gespottet, die sich den Rebellen anschlossen und nach dem ersten Kampf das Weite suchten. Und jetzt? Konnte es denn sein, dass ihm das eigene Leben und das Leben seines Lehrers mehr wert waren als die gemeinsame Sache, der sie sich verpflichtet hatten?
Silas schüttelte hilflos den Kopf. Er spürte, wie Peitholaos die rechte Hand von seiner Schulter nahm, und für einen Augenblick wurde ihm leichtert. Vielleicht weil er sich, wenn der andere bloß vor ihm stand, unnahbar, stark und scheinbar unbesiegbar, leichter darüber hinwegtäuschen konnte, wie schnell sein Atem weichen, wie leicht das Schwert des Feindes das Herz am Schlagen hindern würde. Er atmete tief durch, spannte seine Brust und beschwor die Entschlossenheit in sich herauf, die er all die Jahre empfunden hatte, wenn es um die Besatzungsmacht ging und darum, dass die Juden sich ihrer nur mit Waffengewalt entledigen können würden. In dem Moment begann Peitholaos sanft seine Wange zu streicheln. Silas wollte lachen und weinen zugleich. Er genoss jede Sekunde der Nähe, doch zugleich übermannte ihn der Schmerz, das Bewusstsein darum, dass sie beide schon sehr bald sterben würden.
„Was ist mit dir, mein Junge?", flüsterte Peitholaos besorgt. „Du zitterst ja." Kurz schwieg er und ließ seine Finger dabei weiter über das Gesicht seines Soldaten streichen. „Hör zu", sagte er leise, aber eindringlich. „Wir müssen dieses Gespräch nicht führen, wenn es dir zu nahe geht. Dein Vater war ein Held. Das ist alles, was du wissen musst."
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...