In diesem Moment trat Meschach vor seinen Herrn und kündigte den Ehrengast Phasael an, der offenbar einen römischen Offizier namens Marc Anton mitgebracht hatte. „Ich würde es bedauern", hörte Tabitha Achior noch sagen, da wurde schon die breite Flügeltür geöffnet und die verspäteten Gäste schritten in den Saal. Da nun natürlich auch dem jungen Römer ein Ehrenplatz zugewiesen werden musste, trugen die Sklaven auf Meschachs Befehl rasch eine weitere Kline herbei und reihten diese zwischen den Liegen von Phasael und der Hausherrin ein. Tabitha hatte also einen neuen Gesprächspartner gewonnen und da sie die Konversation mit Achior ohnehin anwiderte, reagierte sie zunächst durchaus wohlwollend auf die Aufwartung, die ihr Marc Anton machte. Im Unterschied zu Achior gab sich der Römer galant, erzählte, während er ihr zuprostete, eloquent von den Abenteuern, die er als Magister Equitum unter Gabinius in Syrien erlebt hatte. Er trug sein Haar sehr kurz, sodass die kleinen Locken, die sein Haupt umgaben, wie ein zarter Lorbeerkranz wirkten. Die Augenbrauen waren geschwungen und mussten wohl von Hand verjüngt worden sein, die Wimpern waren ungewöhnlich schwarz, als hätte man sie mit Ruß verstärkt.
Während seine Reden immer großspuriger wurden, dachte Tabitha an Seraja und an Schlomo. War es aus der Sicht Schlomos, der als Schatzmeister aus der Präsenz der Römer seine Vorteile zog, durchaus verständlich, dass er mit der Fremdmacht paktierte, hatte sie das Verhalten ihres eigenen Vaters nie wirklich nachvollziehen können. Seraja war ein Mann mit großen Idealen, der um einer guten Sache willen auch den größten persönlichen Nachteil zu ertragen bereit war. Die Römer stützen Hyrkan, hatte er sich ihr zu erklären versucht und auf ihren skeptischen Blick ergänzt: Er ist nicht der Schlechteste. Er lässt den Priestern weitgehend freie Hand. Tabitha hatte er damit nicht überzeugen können. Ist es für einen Regenten nicht ein bisschen wenig, nicht der Schlechteste zu sein?, hatte sie gefragt und dabei zugleich gewusst, dass ihr der Vater die Antwort schuldig bleiben würde. Denn wann immer das Gespräch auf den Hohenpriester kam oder auf die Art und Weise, wie ihn die Römer mit Macht ausstatteten und dabei doch in ihrer Abhängigkeit hielten, entzog sich Seraja den kritischen Fragen seiner Tochter.
„Es ist schwierig, dieses Land zu befrieden", hörte sie da Marc Anton sagen, der sich in seiner Selbstverliebtheit geradezu weidete. „Nirgendwo lässt sich das Ideal der modernen römischen Stadt, die für sich allein lebensfähig ist, verwirklichen. Wohin man auch blickt, das Umland ist zu ärmlich, gibt kaum etwas her. Aber ohne starke Metropolen kann die Kultur nicht voranschreiten."
„Was genau versteht ihr unter dem Fortschritt der Kultur?" erkundigte sich Tabitha mit harter Stimme. Zwar wusste sie nicht, wie sich die Schlacht bei Para abgespielt hatte, doch hatte sie eine ganze Flut von grausamen Szenen in ihrem Kopf, die es ihr nicht zu verdrängen gelang. Bilder von jungen schlecht ausgerüsteten Juden und von einem übermächtigen römischen Heer, das ohne Gnade seine militärische Stärke demonstrierte. Auch wusste sie, dass Jetur hingerichtet worden und Jonathan nur knapp mit dem Leben davon gekommen war. Und sie, Tabitha, lag Seite an Seite mit dem römischen Reiterführer beim Abendmahl und hörte zu, wie dieser seine herablassenden Bemerkungen über ihre Heimat und ihre eigenen Leute von sich gab.
„Wenn ihr es Fortschritt der Kultur nennt, ein Volk zu knechten und seine Ländereien auszubeuten, dann glaube ich, können wir auf diese Art von Fortschritt gut verzichten", sagte sie und stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass Marc Anton der boshafte Unterton in ihrer Stimme gänzlich entgangen sein musste.
„Ich denke an die Architektur", schwärmte er unbeirrt. „die großen Bauwerke, die das römische Imperium hervorgebracht hat, Aquädukte, Säulenstraßen, Tempel, gewaltige Brücken, so wie die, die wir bei Lydda über den Ajalon gebaut haben. Ach wisst ihr, ein jedes Männerherz träumt doch davon, an der Macht zu sein und solch herrliche Werke zu vollbringen, den eigenen Namen unsterblich zu machen."
Inzwischen hatten die Sklaven die Hauptspeise serviert. Ein allgemeines Staunen begrüßte die Pfauenbrustfilets, die der Zeremonienmeister Meschach seinem Herrn auf einem Silbertablett präsentierte. Die Filetstücke waren kunstvoll aufgeschichtet, Pfauenköpfe und ein Rad aus bunten Federn schmückten das mit Dill und Zitronensaft aromatisierte Fleisch. Tabitha wusste, dass es sich dabei um ein Rezept aus den Werken des römischen Senators Hortensius handelte, denn das hatte ihr die Hauptköchin am Vormittag stolz berichtet.
„Und wovon träumt ihr?" fragte Tabitha, die sich wieder auf ihre Rolle als Hausherrin besonnen hatte und sich nun Mühe gab, dem römischen Gast wenn schon nicht wohlwollen, so zumindest nicht feindselig zu begegnen.
„Ich träume", antwortete Marc Anton und beschrieb dabei mit dem rechten Arm eine herrschaftliche Geste, „eine Säulenstraße erbauen zu lassen, so breit, dass vier Gespanne mit Leichtigkeit passieren können, mit zum Himmel aufstrebenden gewaltigen Säulen und von einer Länge", er legte eine theatralische Pause ein, „Sagt mir, was für eine Länge schlagt ihr vor?" Marc Anton hielt abermals inne, schien aber nicht auf eine Antwort zu warten. „Eine Länge von zehn Stadien", vollendete er schließlich großspurig seine Ausführungen.
„Zehn Stadien?" Tabitha runzelte ihre Stirn. „Das scheint mir reichlich übertrieben. Selbst beim Pferderennen werden nicht mehr als vier Stadien zurückgelegt und das ist schon eine beachtliche Strecke."
„Ach, sprecht mir nicht von Pferderennen", unterbrach er sie. "Wenn ich an meine Säulenstraße denke, dann sehe ich doch keine Wagenrennen vor mir. Ich sehe Triumphzüge, ich sehe..."
„Triumphzüge?", nun war es Tabitha, die ihrem Gesprächspartner ins Wort fiel. „Soviel ich weiß, finden eure Triumphzüge ausnahmslos in Rom statt."
Tabitha langweilte die Unterhaltung mit Marc Anton, doch da Achior nicht gerade eine reizvolle Alternative darstellte, versuchte sie sich damit abzufinden, dass sie auch den restlichen Abend mit belanglosem und oberflächlichem Geplänkel zubringen würde müssen. Gerade hatte der Reiterführer des Gabinius damit begonnen, ihr gönnerhaft das Wesen und die Funktion der römischen Triumphzüge darzulegen, da trat zu Tabithas Freude ein Gaukler in die Mitte des Saals und begann die Gäste mit seinen Kunststücken zu unterhalten.
„Wie wundervoll!" rief Marc Anton aus und klatschte begeistert in die Hände. Tabitha hatte er unterdessen offenbar vergessen und der gierige Glanz, den sie in seinen Augen entdeckte, ließ sie argwöhnen, dass die Lustsklaven ihres Ehemannes in der heutigen Nacht wohl noch einiges zu tun haben würden.
Zum Glück setzte der Akrobat seine Kunststücke noch eine Weile fort und als er schließlich von drei persischen Tänzerinnen abgelöst wurde, die Marc Anton allerdings um einiges weniger zusagten, waren bereits die letzten Süßspeisen aufgetragen worden. Allmählich begann sich die Gesellschaft aufzulösen. Die ersten Gäste verabschiedeten sich von ihrem Gastgeber. Die wenigen Frauen, die unter den Geladenen gewesen waren, verließen an der Seite ihrer Gatten den Saal. Die Sklaven brachten neuen Wein, den sie nun nicht mehr mit drei, sondern nur noch mit zwei oder gar mit einem Anteil Wasser verdünnten. Tabitha erhob sich und stellte fest, dass Eleazar mit wenigen Schritten an ihrer Seite war. Selbstverständlich reichte er ihr seinen Arm und geleitete sie voller Würde an den Gästen vorbei zu ihrem Schlafgemach. Zwei Sklaven öffneten für ihre Herrin die Tür, und als Eleazar eine leichte Verbeugung andeutete, zog Tabitha ihre Hand langsam aus der seinen zurück.
„Darf ich meine Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass ihr mir morgen berichten werdet?" fragte er leise.
„Wovon?" erkundigte sich Tabitha, denn sie hatte keine Vorstellung davon, auf was für eine Art von Bericht Eleazar hoffen könnte.
„Von Marc Anton", fügte er rasch hinzu. „Und was ihr von ihm haltet. Manche sagen, er wird es einmal weit bringen."
„Zumindest ist er selbst davon überzeugt", antwortete Tabitha spitz.
„Werdet ihr meinem Wunsch nachkommen?" setzte Eleazar noch einmal nach und Tabitha nickte.
„Gewiss", sagte sie und wandte sich dann von ihm ab. Als die Sklaven die Tür hinter ihr schlossen, fühlte sie sich leichter. Teilnahmslos ließ sie sich von Martha und Miriam das Haar öffnen und das getönte Puder vom Gesicht waschen. Dann legte sie sich hin und schlief schnell ein.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...