Die Kraft Gottes

28 9 2
                                    

„Ich hoffe, meine Leute haben sich nicht allzu schlecht benommen", hörte er den Fremden mit dem schlechten Latein und dem unverkennbaren hebräischen Akzent sagen. Jonathan musterte ihn. Er war groß, schlank und trug sein Haar unter einem weißen Turban. Sein Vollbart verriet, dass er Jude sein musste.

Damit wusste Jonathan fürs Erste genug und konzentrierte sich wieder darauf, etwaige Fluchtmöglichkeiten auszuloten. Die beiden Handlanger des Fremden hatten ihn mittlerweile losgelassen und Jonathan selbst hatte sich, um Schwäche vorzutäuschen, auf das aus rotem Tuffstein gearbeitete Mäuerchen gesetzt, das die Kammer an ihrer Breitseite auskleidete. Von hier aus hatte er einen guten Blick nach draußen. Doch was er sah, machte ihm wenig Hoffnung. Vor der Tür hatten sich mindestens fünf Männer platziert, die ohne Zweifel zusammengehörten. Er wandte sich noch einmal dem Fremden zu, um ihn näher zu betrachten. Jonathan hatte ihn heute zum ersten Mal gesehen und doch erinnerten ihn seine Nase, die Wangenknochen, die Augenpartie und der forsche Blick an einen Mann, dessen Bild sich viele Jahre zuvor unvergesslich in sein Gedächtnis eingeprägt hatte.

Jonathan war damals gerade zehn Jahre alt. Schlomo war am Abend nach Hause gekommen und hatte überschwänglich berichtet, dass nun endlich ein neues Zeitalter anbrechen werde und der Usurpator, der Priester der Falschheit, in die Knie gezwungen worden sei. Nach den Schilderungen des Vaters hatte sich Jonathan unter dem Lügenpriester eine Art Teufel mit Hörnern, Krallen und feurigem Atem oder zumindest einen Wüstendämon vorgestellt und war dementsprechend enttäuscht, als er Aristobulus ein paar Tage später zum ersten Mal sah, wie er als Gefangener durch die Straßen Jerusalems geschliffen wurde.

Viele Menschen hatten sich am Markt und im Bereich der Baris versammelt, um den Lügenpriester mit Schlamm oder faulem Gemüse zu bewerfen. Manche hatten sogar Steine mitgebracht, doch die Römer verbaten ihnen, sie zu werfen. Zwei Männer, die trotzdem versucht hatten, den Lügenpriester zu steinigen, waren von den römischen Soldaten mit der flachen Seite ihrer Schwerter brutal niedergeschlagen worden, ihre Körper lagen mehr tot als lebendig am Straßenrand.

Der Lügenpriester aber schien über die Beleidigungen und den Hohn der Menge erhaben. Er war blass im Gesicht und schleppte sich schwerfällig vorwärts, seine langen schwarzen Haare waren mit Blut verkrustet. Doch er hatte einen stolzen, zielgerichteten Blick und obwohl er immer wieder geschlagen wurde, schien sein Stolz ungebrochen. Jonathan hatte dem Vater am Abend gesagt, dass ihm der Lügenpriester eigentlich viel besser gefiel als der Hohepriester Hyrkan, der immer nur unbeweglich und fett auf seinem Thron saß. Schlomo war natürlich anderer Ansicht und hatte seinen Sohn trotz dessen anfänglicher Beharrlichkeit mit Prügeln dazu gebracht, sich am Ende kleinlaut und wimmernd der Meinung des Vaters anzuschließen. Jetzt, so viele Jahre später, sah Jonathan die Augen des Lügenpriesters wieder. Er wusste, dass Aristobolus zwei Söhne hatte, die gemeinsam mit ihm sechs Jahre zuvor nach Rom verschleppt worden waren, Alexander, der ein paar Jahre älter war als er selbst, und Antigonos, der Jüngere.

„Es sollte mir wohl eine Ehre sein", sagte Jonathan endlich und genoss es zu wissen, dass sein eigenes Latein sauber und beinahe ohne Akzent war, „dass ich von den Knechten eines so wichtigen Mannes überfallen worden bin, Alexander ben Aristobolus."

Auch wenn Alexander versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, war es doch offensichtlich, dass er überrascht war, von seinem Gegenüber erkannt worden zu sein. Er ging ein paar Schritte auf Jonathan zu. „Rom kann uns nicht besiegen", stellte er fest und seine Stimme hatte einen pathetischen Klang. „Nicht, solange das Volk Israel Kämpfer wie dich hat."

Jonathan lachte bitter. Er hatte keine große Lust auf die Unterhaltung mit dem verhinderten Thronfolger und schwieg deshalb, anstatt Alexander darauf hinzuweisen, dass er mit seinem Kampf gegen die Römer kläglich gescheitert war. Alexander schien seinen Gedanken trotzdem erahnt zu haben. 

„Es ist gleichgültig, wie oft sie uns schlagen, wie viele von uns sie töten, foltern, auspeitschen oder ins Exil schicken. Sie werden uns trotz all dem nicht besiegen. Denn die Kraft Gottes ist mit uns." Alexander war während er sprach, immer lauter geworden. Als ihm ein Mann aus seiner Eskorte ein Zeichen gab, mäßigte er seinen Tonfall ein wenig. Das Wäldchen, das den Tempel kreisförmig umgab, war zwar menschenleer, doch im Inneren des Heiligtums würden die Priester bald damit beginnen, den täglichen Gottesdienst abzuhalten. Und da es gerade im Herkules Tempel durchaus vorkommen konnte, dass ein Centurio oder gar ein Legat dem als unbesiegbar geltenden Halbgott ein Opfer darbringen wollte, war es wohl klüger, seine staatsfeindlichen Aussagen nicht lauthals herauszuschreien.

„Das sind große Worte, Herr", erwiderte Jonathan trocken und dachte dabei an den Maskil, der ganz ähnlich geredet und doch nichts erreicht hatte als den Tod seiner eigenen Leute.

Doch Alexander ließ sich nicht irritieren. „Ich war dabei, wie sie meinen Vater gefangen genommen und verspottet haben", sagte er nun leise, aber dafür umso eindringlicher. „Ich habe gesehen, wie Pompeius die Stufen des Tempels hinaufgeritten ist. Ich habe das Schreien der frommen Priester gehört, die er abschlachten hat lassen. Ich musste mit meiner Familie vor seinem Wagen hertrotten, als er seinen Triumphzug durch Rom antrat. Und ich war dabei, als seine feigen Soldaten meine Männer wie Schafe hingeschlachtet haben. Die Römer haben sie entwaffnet, ihnen die Kleider vom Leib gerissen, sie geschlagen und verhöhnt. Sie waren nackt, entehrt, verzweifelt, aber sie waren nicht besiegt."

Vom Inneren des Tempels hörte man Stimmen. Alexander hielt kurz inne. Der Morgen war frisch und Jonathan hatte trotz seinem wollenen Mantel leicht zu zittern begonnen. Er richtete seinen Blick auf den Boden und versuchte sich abzulenken. Doch es gelang ihm nicht. Die Worte des Königssohns hatten schmerzvolle Erinnerungen in ihm wachgerufen. Es war ihm, als spürte er das warme Blut, das aus Jeturs Wunden spritzte. Er sah in seinen Gedanken die Leichen der Maskil-Getreuen am Boden liegen, Arme und Beine unnatürlich verrenkt. Er hörte Silas Stimme, sein selbstsicheres Lachen, und er fragte sich einmal mehr, welche Qualen er gelitten haben und wie er gestorben sein mochte. Alexander, der sich inzwischen neben ihn gesetzt hatte, legte ihm die Hand auf die Schulter und fuhr zu sprechen fort. Seine Stimme war nun weich und empathisch.

„Ich bin nun zum zweiten Mal in Rom. Vor dem Winter war ich noch in Jerusalem. Ich hatte begonnen, die Mauer wieder aufzurichten und das Volk war mit mir, Jonathan. Hyrkan und seine Speichellecker hatten sich in seinem Palast in Jericho verkrochen. Ich hatte mehr als zehntausend Fußsoldaten und fast zweitausend Reiter. Marc Anton und seiner Legion haben wir standhalten können, aber dann hat uns Antipater verraten. Er und seine Freunde in Jerusalem, sie haben mich verkauft und dann aus dem Hinterhalt feige angegriffen. Ich war gezwungen zu flüchten und habe zusehen müssen, wie die Hälfte meiner Männer von den eigenen Landsleuten niedergemetzelt worden ist." Wieder schwieg er kurz. Zwischen Alexanders Wächtern sah Jonathan, wie jemand vorbeiging. Er hätte auf sich aufmerksam machen können, doch er dachte schon lange nicht mehr daran zu fliehen. Alexander wollte in der Tat nur reden, wie er es zu Beginn angekündigt hatte. „Ich habe mich in meiner Festung verschanzt, aber die Römer haben unsere Frauen und Kinder gefangen genommen. Sie haben sie angekettet nach Alexandreion geschliffen. Ich musste verhandeln, Jonathan, verstehst du, auch wenn unsere Frauen zum Sterben bereit gewesen wären."

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt