„Ein gutes Mädchen, hä", wiederholt er gehässig, „mir wohlgefällig."
Nun schien er keine Antwort mehr zu erwarten. Hektisch hantierte er an seinem Lendenschurz. Sie war Jungfrau und doch hatte sie eine ungefähre Vorstellung, was er beabsichtigen konnte. Sie wollte ihn nicht ansehen. Sie richtete ihre Augen in den Sternenhimmel, er war klar und rein, die Sterne unantastbar. Mach kein Drama daraus, beschwor sie sich innerlich. Wie viele Frauen werden jeden Tag vergewaltigt? Wie viele Ehefrauen, die keiner gefragt hat, ob sie ihren Gatten heiraten wollen? Wie viele Mägde, die ihren Herren zu Diensten sein müssen. So ist es eben, wenn man schwach ist. Bei dem Gedanken spürte sie, dass längst Tränen an ihren Wangen hinabliefen. Eine Frau zu sein, dachte sie, ist ein einziger Fluch. Und dann dachte sie nicht mehr.
Denn der Schmerz, der nun kam, übertraf alles, was sie sich hätte vorstellen können, zerriss ihr Inneres in Stücke, durchbohrte sie, raubte ihr den Atem, sogar ihre Tränen versiegten, wenn auch nur für einen Moment. Schwer, fett und vom Schweiß klebrig lastete sein Körper auf ihr. Er beobachtete sie, er weidete sich an ihrem Leid. Er lachte. Dann stieß er erneut zu und wieder. Mit den Händen drückte er ihre Schultern auf den Boden, mit dem Becken rammte er ihr Gesäß immer fester in die Erde. Sie dachte, dass sie sterben wollte. Einfach nur sterben. Sie richtete den Blick an seiner von der Lust verzerrten Fratze vorbei in den Himmel als ob da etwas wäre, das ihren Augen Halt geben könnte. Wieder griff er nach ihrem Unterkiefer und dreht ihr Gesicht grob in seine Richtung.
„Schau mich an, wenn ich dich nehme", herrschte er sie an und obwohl der Schmerz und die Verzweiflung sie wie ein tobender Sandsturm einzuschließen schienen, wagte sie nicht, die Augen zu schließen. Da hörte sie einen kurzen gedämpften Schrei. Starr traten die Augen ihres Peinigers hervor, ein Schwall von Blut ergoss sich aus seinem leicht geöffneten Mund und im gleichen Moment brach sein schwerer Körper über ihr zusammen, sodass sie dachte, er würde ihren Brustkorb zertrümmern. Tabitha hörte keuchenden Atem, doch es war nicht Rubens Atem. Sie waren nicht mehr allein. Es war der Atem von Dan. Groß und schwerfällig, mit hängenden Schultern stand er über ihnen und wuchtete das Fett und den Ekel auf ihr mit einem kräftigen Fußtritt zur Seite. Hastig richtete sie ihren Oberkörper auf, zog die Beine hoch und schlang ihre Arme instinktiv um die Knie. Dann erst wandte sie ihren Blick Ruben zu und begriff jetzt endlich: Er war tot.
Dan sank neben ihr auf den Boden. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein mächtiger Leib bebte. „Böse", stammelte er. „Böse, böse." Dabei zeigte er mit der offenen rechten Hand auf Ruben ben Giora. Sie war blutverschmiert, am Boden lag ein Sica. An den Verzierungen erkannte sie, dass das Krummmesser ihrem älteren Bruder gehörte. Er hatte Dan verboten, die Waffe an sich zu nehmen. „Böse, böse", wiederholte Dan fast panisch mit immer lauter und schriller werdender Stimme. Ich muss ihn beruhigen, dachte Tabitha.
„Ja, er ist böse, aber du hast mich gerettet", sagte sie leise und versuchte unterdessen mechanisch mit den Fetzen ihres Kleides und mit ihrem Schal die Blöße ihres Körpers zu bedecken. „Hör mir zu", fügte sie beschwörend hinzu und dann, ohne dass sie daran geglaubt hätte: „Es ist alles gut."
„Suchen dich, Dan beschützen dich", stotterte der Junge weinerlich. Unbeholfen streckte er seine klobigen Hände nach ihr aus.
„Ja, mein Großer", erwiderte sie und wunderte sich über ihre eigene Ruhe, „du hast mich ja beschützt. Willst du mich umarmen?"
Dan nickte heftig. Er drückte Tabitha fest an sich. „Vorsichtig, Dan", flüsterte sie, „du weißt, du darfst mich nicht erdrücken." Sie sagte es, weil es das war, was sie immer zu ihm sagte. Was sie alle zu ihm sagten. Denn der Waisenjunge, den der Vater vor Jahren in die Familie aufgenommen hatte, war trotz der Größe und Kraft, die er im Mannesalter angenommen hatte, seinem Wesen und Verstand nach ein Kind geblieben. „Vorsichtig, Dan", wiederholte Tabitha. In Wahrheit aber war es ihr ganz recht, von ihm so umschlungen zu werden. Fast fühlte sie sich geborgen und trotz der Enge, die seine Arme erzeugten, hatte sie das Gefühl, als könnte sie jetzt endlich wieder frei atmen. Dan weinte nun hemmungslos. „Nicht drücken", stotterte er immer wieder, „nicht drücken". Tabitha weinte nicht. Sie versuchte es, doch es gelang ihr nicht. Sie spürte Dans weiche Haut, sein Haar. Mutter hatte ihn heute gebadet, er duftete nach Milch und Olivenöl. Sie hätte noch lange so verweilen wollen, die Welt um sie herum vergessen. Doch sie wusste, dass es nicht möglich war. Nicht zuletzt, weil Dans Schluchzen immer heftiger wurde und sie fürchtete, das Entsetzten und der Schmerz könnten ihn unberechenbar machen. Er hatte für sie gemordet und nun war es an ihr, ihn zu schützen. Vorsichtig befreite sie sich aus der Umarmung und stand auf.
„Komm, Dan, wir müssen hier weg", sagte sie entschlossen.
Ihr Retter erhob sich mühsam und als er sich zu seiner ganzen Größe aufgerichtet hatte, taumelte er. Irr richteten sich seine Augen auf Ruben: „Böse Mann", stieß er schnaubend hervor und erinnerte Tabitha dabei an ein wild gewordenes Raubtier, „ganz, ganz böse Mann. Nicht mehr machen."
„Nein, das macht er wohl nicht mehr", antwortete Tabitha und wunderte sich, dass sie tatsächlich fähig war, etwas wie Ironie zu empfinden. Noch einmal verbesserte sie ihre mühselig zusammengestückelte Kleidung und verbarg auch das Sica darunter. Dann nahm sie Dans Hand und zog ihn entschlossen mit sich fort. Als sie außer Hörweite waren, löste sich etwas weiter hinten ein Schatten von den Bäumen und entfernte sich zielstrebig, aber ohne Hast.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...