Daniel

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„Jonathan", von weiter hinten im Raum drang eine zaghafte Stimme zu ihm durch. Jonathan blinzelte, bis sein Blick wieder klar wurde und sah in die Richtung, aus der er seinen Namen vernommen hatte. Es war Daniel. Er stand mit eingefallenen Schultern in einem deutlichen Abstand vor Jonathans Krankenlager und sein Gesichtsausdruck war so verzweifelt, dass es ihn schmerzte, den Jungen anzusehen. Jetzt wo er bemerkt hatte, dass sich sein kleiner Bruder im selben Raum befand, rang er mit seiner Selbstbeherrschung, denn er wollte nicht vor Daniel weinen. Mühsam zwang er sich zu einem schmalen Lächeln und ebenso mühsam wandte er Daniel den Kopf zu. Der wirkte noch schmächtiger als sonst und als er vorsichtig zu sprechen ansetzte, musste Jonathan seine ganze Konzentration auf ihn richten, um zu verstehen, was der Kleine sagen wollte.

„Wenn ich etwas für dich tun kann, Bruder", flüsterte er und seine Stimme war dabei voller Furcht, „sag es mir."

Jonathan spürte, wie eine Welle von Zuneigung und Dankbarkeit sein Inneres ergriff, Wärme, die er nicht mehr empfunden hatte, seit er sich am Abend des Sukkot-Festes von Tabitha getrennt hatte. Daniel könnte Tabitha einen Brief bringen, ging es ihm durch den Kopf und er wusste zugleich, dass es das war, woran auch sein Bruder gedacht hatte.

„Selbst wenn du damit gegen Vaters Willen handelst?" fragte er, um sich zu vergewissern.

„Selbst dann", antwortete der Kleine hastig, als hätte er Angst, der Mut würde ihn wieder verlassen, wenn er ihn allzu lang auf die Probe stellte.

Jonathan nickte. Eine Flut von Gedanken ging ihm durch den Kopf, Bilder, Sätze, Hoffnungen drehten sich wie ein Wirbelwind vor seinem inneren Auge und entzogen sich ihm wieder, sowie er sie in klare Strukturen zwingen wollte. Fast meinte er, keine Schmerzen mehr zu spüren, so überwältigt war er von dem, was in ihm vorging, und von der Liebe nicht zuletzt, die sein kleiner Bruder ihm entgegenbrachte. Daniel fürchtete die Strenge des Vaters, das wusste Jonathan, viel mehr als er selbst es je getan hatte, und trotzdem war er bereit, sich gegen Schlomos Befehl zu stellen. Ich könnte ihr schreiben, sagte er sich, sie wissen lassen, dass er mir Leid tut, sie um Verzeihung bitten. Doch konnte er so einfach um Verzeihung bitten dafür, dass er ein ganzes Leben, ihr gemeinsames Leben, das wie eine glückliche Verheißung vor ihnen lag, zerstört hatte.

So verlockend das Angebot war, ein Brief war nicht genug. Ein Brief war nicht genug und zugleich zu viel. Zu viel an Gefahr für Daniel und nicht zuletzt für Tabitha. Ihre gegenseitige Zuneigung konnte dem Jerusalemer Tratsch in den letzten Wochen nicht verborgen geblieben sein. Wenn er ihr nun, so kurz vor ihrer Heirat, einen Brief zukommen ließ, musste er geradezu ihren Ruf gefährden, da hatte der Vater wohl Recht.

„Nein", erwiderte er also. Bitterkeit lag in seinen Worten. „Es ist genug, dass Vater von einem Sohn enttäuscht ist."

Eine Weile blieb es still. Der Atem des Kleinen war zaghaft, so schien es ihm.

„Komm zu mir", bat Jonathan und Daniel kam seiner Aufforderung willig nach.

Mühsam befreite Jonathan einen Arm unter der Decke und griff nach den Händen seines Bruders. Der Schmerz, der ihn durchfuhr, war derart mächtig, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde. Doch er wollte die Hände des Kleinen nicht loslassen, nicht solange er ihnen zumindest ein wenig Wärme und Zuversicht zurückgegeben hätte.

„Aber ich danke dir von Herzen", sagte er. „Du konntest mir kein größeres Geschenk machen." Er wollte weitersprechen, doch er musste kurz inne halten, so erbarmungslos hatte die Verletzung die Macht über seine Wahrnehmung an sich gerissen. 

„Ich gehe fort." Stockend brachte er die Worte hervor. „Und du wirst Vater stolz machen. Du wirst ihn für alles entschädigen." Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Zweifelnd und ängstlich sah ihn Daniel an. „Du wirst sein ganzes Glück sein, das weiß ich", fügte Jonathan beschwörend hinzu, und jetzt endlich huschte ein kleines kaum wahrnehmbares Lächeln über das blasse Kindergesicht.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt