„Diese Gegend war früher unter der Kontrolle von Karthago", hörte er Distenes erzählen. „Hannibal hat hier sein Hauptquartier aufgeschlagen, als er den Plan verfolgte, in Italien einzufallen."
„Meinst du, wir werden bald weiterziehen?" fragte Jonathan.
„Das hängt wohl nicht von uns beiden ab", antwortete Distenes und deutete dabei mit einem Grinsen auf die Eselin, die immer noch breitbeinig dastand und nicht den Eindruck erweckte, als würde sie so schnell ein Bein vor das andere setzen. Jonathan lachte herzhaft.
„So habe ich das nicht gemeint", erwiderte er.
Distenes nickte. „Ich habe dich schon verstanden", entgegnete er freundlich. „Du willst natürlich wissen, wann wir an Bord gehen und nach Alexandrien übersetzen." Er wartete kurz. „Nun, ich weiß es nicht. Wir müssen vorsichtig sein. Pompeius ist zwar auf unserer Seite, aber nicht alle römischen Kolonien sind auf der Seite von Pompeius. Bis Grumentum ist der Weg sicher. Pompeius hat sowohl in Lukanien als auch in Apulien eine ganze Reihe neuer Städte gründen lassen, die ihm treu ergeben sind." Er machte wieder eine Pause und Jonathan spürte, dass seinem Begleiter das Warten immer lästiger wurde.
Also spannte er den Strick an und zog die Eselin zuerst nach links und dann nach rechts, denn er hatte beobachtet, dass sie sich am ehesten in Bewegung setzen ließ, wenn es ihm gelang, ihr Gleichgewicht zu stören. Und tatsächlich. Genauso selbstverständlich, wie das Tier zuvor stehengeblieben war, ging es plötzlich auch wieder weiter. Distenes klatschte erfreut in die Hände und setzte zugleich zu sprechen fort.
„Zuerst hat Pompeius die Piraten niedergeschlagen, aber dann hat er manche von ihnen vor der Hinrichtung verschont und sie stattdessen zu zivilisierten Bürgern gemacht. Der Stadthalter von Tarentum etwa war einer der blutrünstigsten Piraten aus Kylikien. Jetzt hat er einen Palast wie ein Senator und wenn es wahr ist, was die Leute reden, hat er sich unlängst sogar ein eigenes Theater erbauen lassen."
„Ja, ja", murmelte Jonathan ohne große Begeisterung, „das ist die Politik Roms. Sie tun, was ihnen gefällt. Und dann versuchen sie, aus ihren Feinden Freunde zu machen."
„Höre ich da etwa Missgunst in der Stimme meines Freundes?", erkundigte sich Distenes mit gespielter Arglosigkeit. Jonathan konnte nicht einschätzen, ob ihn der andere nur necken wollte oder ob er sich tatsächlich darüber Gedanken machte, wie geeignet Jonathan für die ihm zugedachte Aufgabe war. Doch es war ihm in dem Moment gleichgültig.
„Bei mir zuhause sind die Römer ähnlich vorgegangen", fügte er trocken hinzu. „Aber es gibt einen König und seine zwei Söhne, die sich immer noch widersetzen. Und die werden nie einen Frieden mit Rom schließen."
Distenes schmunzelte und klopfte Jonathan väterlich auf die Schulter. „Sei dir da nicht zu sicher", meinte er. „So in etwa haben die Ägypter auch geredet. Und jetzt ist Rom nicht nur nicht mehr ihr Gegner, sondern sogar der Schiedsrichter. Allein ein König, der dem römischen Senat wohlgefällig ist, kann in Ruhe regieren. Rom gewinnt immer."
Jonathan schnaubte verächtlich. „In den Scheol mit Rom", zischte er leise auf Hebräisch. Doch auch wenn Distenes seine Worte nicht verstehen hatte können, war er doch klug genug, sie richtig zu deuten.
„Aus dir schlau zu werden, Jonathan", sagte er, „ist eine Kunst, die mir noch nicht gelingen will." Dann schwieg er. Eine Zeit lang gingen sie stumm nebeneinander her. Jonathan hatte seinen Schritt beschleunigt und wider Erwarten hatte sich die Eselin seinem Tempo angepasst. „Ich denke, wir arbeiten für dieselbe Sache", meinte Distenes nach einer Weile. Die Unruhe war ihm deutlich anzumerken.
„Das tun wir", erwiderte Jonathan knapp. „Am Abend sind wir in Grumentum. Dort werden wir im Amphitheater eine Versammlung abhalten und ich werde dem Stadtverwalter meine Aufwartung machen, wie es von mir erwartet wird", fügte er dann trotzig hinzu.
In seinen Gedanken aber war er weit weg. Obwohl seine Augen starr auf den Mann gerichtet waren, der unmittelbar vor ihnen marschierte, sah er eine zierliche, aufrechte Gestalt vor sich. Langes Haar, forschender Blick. Tabitha. In seinem Inneren sprach er ihren Namen voller Liebe und mit Sorge zugleich. Wenn es uns nicht gelingt, Hyrkans Macht zu festigen, ist ihr Leben in Gefahr, sagte er sich. Beim Gedanken an den fetten, selbstgefälligen Hohenpriester spuckte Jonathan wütend auf den Boden. Dabei musste er unwillkürlich daran denken, mit wie vielen Rutenschlägen sein Vater ein solches Verhalten ahnden würde. Der Umstand aber, dass er darüber nachdachte, verärgerte ihn noch mehr.
In dem Moment näherte sich ihnen ein Kavallerist im scharfen Galopp. Da die gepflasterte Straße an den Rändern steil zu den Feldern hin abfiel, drängten sich die Menschen auf einer Seite zusammen, sodass der ihnen entgegenkommende Soldat, der offensichtlich eine Botschaft von der Vorhut nach hinten tragen sollte, gut passieren konnte.
„Ein Reiter mit einer Nachricht", stellte Distenes unnötiger Weise fest. „Ich werde sehen, ob es sich um etwas Wichtiges handelt", fügte er dann hinzu und begann sich im selben Augenblick, ohne ein Wort des Abschieds zu verlieren, gegen den Strom nach hinten zu drängen. Jonathan war das ganz recht, denn er war in einer Stimmung, in der er gerade noch die Gesellschaft der Eselin ertrug. Und auch Distenes dürfte die Spannung, die von Jonathan ausging, unangenehm gewesen sein, sodass es diesmal wohl nicht nur sein Pflichtgefühl war, das ihn antrieb herauszufinden, was der Bote zu berichten hatte.
Jonathan setzte seinen Weg alleine fort. In seinem Kopf schwirrten viele Gedanken umher und doch konnte er sich auf keinen lange konzentrieren. Also beschränkte er sich darauf zu gehen und den Gesprächen zuzuhören, die um ihn herum geführt wurden. Damit er sich in Alexandrien besser verständigen würde können, hatte er begonnen, Demotisch zu lernen und so boten ihm die kurzen Sätze, die er bald von hinten bald von vorne aufschnappte, eine gute Gelegenheit herauszufinden, wie gut er die neue Sprache bereits beherrschte. Nach einer Weile ermüdete ihn aber auch das und er beschloss, wieder ein Stück auf der Eselin zu reiten. Da Distenes von der Früh weg mit ihm gegangen war, hatte er die Stute den ganzen Tag lang geführt, denn es wäre ihm unhöflich erschienen, auf den anderen von oben herabzublicken, während sie sich miteinander unterhielten. Jonathan ließ den Esel anhalten und schwang sich mit einer sicheren Bewegung auf seinen Rücken. Dabei kamen ihm die Worte seines Onkels in den Sinn, als er und Hanna ihm das Tier anvertraut hatten.
Vergiss nicht, dass du in dieser Karawane nicht irgendjemand bist, hatte er gesagt. Du wirst eine wichtige Rolle in Alexandrien spielen. Du kannst nicht zu Fuß gehen wie ein einfacher Soldat oder gar wie ein Sklave. Bei seinen letzten Worten hatte er Jonathan noch ein Säckchen mit Münzen in die Hand gedrückt. Er hat wahrscheinlich auch Geld in Ägypten angelegt, hatte Jonathan gedacht und sich im selben Atemzug für seinen Gedanken geschämt. Warum ich immer etwas Schlechtes annehmen muss, hatte er sich gefragt und war kurz darauf umso betroffener, als ihn Josephus mit den Worten, Ich bin stolz auf dich, verabschiedete.
Während er sich von Josephus noch vor dessen Haus auf dem Aventin getrennt hatte, war Hanna nicht davon abzubringen gewesen, Jonathan bis zum vereinbarten Treffpunkt außerhalb der Stadtmauern in der Nähe der Porta Latina zu begleiten. Jonathan wusste, dass sie Josephus keine Kinder hatte schenken können und er sie dennoch nicht verstoßen hatte. Ihre große Fürsorge ihm gegenüber hatte er so gedeutet, dass sie in ihm eine Art Ziehsohn sah. An jenem Morgen jedenfalls, wo der Zeitpunkt des Abschieds immer näher gerückt war, hatte Hanna die ganze Zeit leise vor sich hin geweint. Dann hatte sie ihn lange umarmt und ihm einen kostbaren goldenen Ring mit der Abbildung einer Menorah auf den kleinen Finger seiner linken Hand gesteckt. Jonathan hatte ihre Wangen geküsst und ihr gedankt und hatte dabei doch das Gefühl, dass er ihr noch viel mehr an Zuneigung hätte zeigen müssen.
Doch es war wie in all den Augenblicken zuvor, wenn sich ihm seine Mutter, seine Schwestern oder die alte Küchenmagd liebevoll zugewandt hatten. In solchen Momenten spürte er, wie etwas in seiner Brust hart wurde und er statt Glück bloß Bitterkeit empfinden konnte. Er hörte die Stimme seines Vaters, der ihn einen Versager nannte, einen zu nichts zu gebrauchenden Bengel, für den er sich ständig nur schämen müsste. Er hatte nie mit jemandem darüber gesprochen außer einmal mit Tabitha, die ihn gefragt hatte, warum es ihm so schwerfiel, geliebt zu werden. Doch Jonathan wollte nicht an Tabitha denken. Er zwang sich, der Straße wieder größere Aufmerksamkeit zu schenken, den üppigen Feldern, dem Geschwätz der einfachen Leute, allem, was ihn nur irgendwie von dem einen einzigen Menschen ablenken mochte, den sein Herz nicht vergessen konnte.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...