Alexandrien, Winter 58 vor Christus
Es war nicht das erste Mal, seit das Schiff vor mehr als drei Wochen den Hafen von Jafo verlassen hatte, dass sie vor Anker gingen, und noch weniger war es das erste Mal, dass Silas zusammen mit den anderen Sklaven auf das Deck geholt wurde. Doch diesmal merkte er an der Art, wie die Männer die Luke zu ihrem Verschlag öffneten, dass etwas anders war. Sie hatten ihr Ziel erreicht, Alexandrien. Dem Sonnenstand nach zu schließen musste es am frühen Morgen gewesen sein, als die Aufseher ihre menschliche Ware, den einen an den anderen gekettet, über schmale Holzbretter an Land trieben. Silas stolperte steif hinter dem Mann vor ihm her. Die Fesseln an seinen Knöcheln ließen nur wenig Bewegungsfreiheit, das raue aus Palmfasern geflochtene Seil brannte auf der wunden Haut, das Joch um seinen Hals lastete schwer auf den Schultern. Und obwohl die Augen das ungewohnte Licht schmerzte, strengte er sich an, möglichst viele Eindrücke von der schillernden, farbprächtigen Metropole in sich aufzunehmen. Die Schiffswerften, die Warenhäuser, die sich unmittelbar am Hafen befanden und mit einer erstaunlichen Genauigkeit an einer einzigen geraden Linie entlang angeordnet zu sein schienen.
Als Kind hatte er Jonathan oft beneidet, wenn der Schlomo auf Reisen begleiten durfte, während er selbst, dem das Schicksal den Vater früh entrissen hatte, in all den Jahren kaum weiter als einen Tagesmarsch aus Jerusalem herausgekommen war. Nun habe ich es immerhin bis nach Alexandrien geschafft, dachte Silas zynisch, denn im Unterschied zu seinem Freund war er nicht als junger Reisender aus gutem Hause in Ägyptens Hauptstadt angekommen, sondern als Sklave, als ein Gefangener der römischen Legion, der bald am Markt verkauft werden würde. Kein Selbstmitleid, ermahnte sich Silas.
Noch am Schiff im Dunkeln, zusammengepfercht mit den übrigen Sklaven, hatte er sich vorgenommen, alles, was es zu lernen oder wissen gab, aufzunehmen. Er hatte sich bemüht, eine Regelmäßigkeit in den Handlungen der Aufseher zu erkennen, eine Ordnung hinter der Art und Weise zu entdecken, wie sie ihnen Essen gaben oder vorenthielten, wen sie schlugen und wen sie verschonten, welche Mädchen sie zu sich in die Kajüte holten und so fort. Er hatte sich bemüht, sich jedes Wort der fremden Sprache einzuprägen, hatte versucht, aus den Umständen, welche die Worte begleiteten, auf ihre Bedeutung zu schließen. Und als er eines Tages herausfand, dass es eine Handvoll Sklaven gab, die bereit in Ägypten gedient hatten, ließ er keine Gelegenheit aus, sich von ihnen einige Brocken Demotisch beibringen zu lassen. Denn auch wenn er sich mit der Weltsprache Griechisch gut verständigen würde können, wusste er doch, dass in den Familien und unter der Dienerschaft ägyptischer Dialekt gesprochen wurde. Auch jetzt, wo man ihn mit Stockschlägen immer weiter in das rege Morgentreiben der Hafenstadt hineindrängte, versuchte er, sich so viele Worte wie möglich zu merken.
Plötzlich hieß man sie anhalten. Die Aufseher riefen nun wirr durcheinander. Einige von ihnen, die offensichtlich niedriger gestellt waren, schleppten schwere Holzbottiche mit Wasser heran und begannen, die Sklaven mit harten Bürsten sauber zu schrubben. Andere rissen ihnen die letzten Kleiderfetzen vom Leib und etwas abseits entdeckte Silas zwei Knaben, die damit beschäftigt waren, Lendenschurze aufeinander zu stapeln. Man wollte sie also vor der Versteigerung in einen ansehnlichen Zustand bringen, schlussfolgerte Silas mit einem Gefühl der Erleichterung, denn seit seiner Gefangennahme in Para hatte er keine Gelegenheit gehabt sich zu waschen. Sein Körper war mit Blut- und Kotkrusten bedeckt und der Gestank nach Urin, der von ihnen allen ausging, war so beißend, dass er sogar den Fischgeruch überdeckte, auf den die Anwesenheit der Fischer mit ihrem reichhaltigen Fang zumindest schließen ließ. Endlich wieder sauber sein, dachte Silas und gab sich deshalb, als er an der Reihe war, Mühe stillzuhalten und nicht wie die meisten anderen den harten Bürsten, den groben Händen und dem kalten Wasser auszuweichen.
Dann wurden sie weitergeschoben, das hölzerne Joch wurde ihm abgenommen, sein Hals jedoch mit einem Seil gefesselt und lose mit den Männern vor und hinter ihm zusammengebunden. Auch legte man ihnen die Lendenschurze um. Während die Aufseher ihre Arbeit verrichteten, trieben sie ihren Spott mit den nackten Männern, quetschten den einen mit den Händen die Hoden, zogen die anderen an ihrem Glied, rissen ihnen Büschel von Schamhaaren aus, lachten über ihren Schmerz und ihre Beschämung. Doch selbst das nahm Silas mit zusammengebissenen Zähnen hin. Alles erschien ihm besser, als noch länger im Dreck, im Gestank und in der Dunkelheit des Schiffrumpfes gefangen gehalten zu werden.
Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da wurde er mit einem eisernen Griff im Genick gepackt und mit dem Kopf in einen Kübel kaltes Wasser getaucht. An den harten, hektischen Handgriffen erkannte er, dass man ihm jetzt wohl das Haar wusch. Er wurde noch tiefer ins Wasser gedrückt. Instinktiv hielt er die Luft an. Es ist keine Strafe, sagte er sich, während sich das Wasser nun auch um seine zusammengepressten Lippen legte, kein Verhör. Wir werden nur gewaschen. Für einen Augenblick ließ die Hand seinen Nacken los und zerrte seinen Kopf an den Haaren nach oben. Er hörte, dass über ihn gesprochen wurde. Den wenigen Worten nach, die er kannte, musste es etwas wie „Nicht genug" bedeutet haben. Silas holte tief Luft und tatsächlich wurde sein Kopf gleich wieder in den Wassertrog getaucht. Die Kälte des Wassers wurde immer unerträglicher. Wie ein zu enger Panzer schloss es den Schädel ein, unzählige feine Nadeln schienen ständig tiefer von der Oberfläche her einzudringen. Dann endlich gaben sich die Männer zufrieden.
DU LIEST GERADE
Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...