Als Jonathan in den Hof hinaustrat, wurde er beinahe von einer Gruppe wild herumtobender Kinder umgerannt. Er lächelte und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Die Sonne war warm und die Luft rein. Jonathan erkundigte sich, wie er die Synagoge finden konnte, und war erleichtert, als ihm der Wirt versicherte, dass der Weg dorthin keinesfalls mehr Schritte in Anspruch nehmen würde, als es einem gläubigen Juden am Sabbat erlaubt war zurückzulegen.
Megiddo war keine besonders große Stadt, die Synagoge befand sich hinter dem südlichen Stadttor links und sollte leicht zu finden sein. Der Weg zum Haupttor verlief geradeaus und relativ steil den Hang hinauf. Wegen dem Sabbat waren die kleinen Läden am Rand der Straße geschlossen. Jonathan hatte sein Schritttempo so angepasst, dass er trotz der Anstrengung und der stärker werdenden Sonne nicht schwitzen musste. Er passierte die ersten beiden Türme, die als Kontrollposten links und rechts der Straße errichtet worden waren und im Kampf das erste Hindernis für die Angreifer dargestellten.
Jonathan musste unwillkürlich an Silas denken, der sich immer für die unterschiedlichen Befestigungstechniken interessiert und eine besondere Freude daran gefunden hatte, ihm darzulegen, warum Städte wie Megiddo oder Jericho nicht mit einer direkten Attacke eingenommen werden konnten. Der Weg zum Tor war auf der einen Seite abschüssig und konnte unmöglich erklommen werden, die massive Stadtmauer auf der anderen Seite dagegen bot den Verteidigern die Gelegenheit, Eindringlinge mit Steinen, Pech und Pfeilen in Schach zu halten. Dennoch war Megiddo im Laufe seiner Geschichte unzählige Male erobert und zerstört worden. Als Jonathan die mächtigen Tore passierte, war die Vorstellung vom Krieg in ihm ganz und gar lebendig. Er bildete sich sogar ein, Silas und Jetur zu sehen, und die Erinnerung an die Freunde schmerzte ihn so sehr, dass er sich schnell wieder auf das Bauwerk konzentrierte.
Links hinter dem Doppelturm saßen einige Soldaten, die für die Kontrolle der Reisenden zuständig waren. Daneben stand der steinerne Stuhl des Stadtrichters, der am Sabbat allerdings unbesetzt war. Die Straße bog nach wenigen Schritten scharf links ab, wurde noch steiler und mündete schließlich in einem imposanten Haupttor. Links und rechts gab es jeweils zwei Kammern, in denen der Zoll kassiert wurde und die Soldaten stationiert waren, die als Wachen arbeiteten. Nachdem Jonathan die Toranlage betreten hatte, blieb er kurz stehen, denn seine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Er berührte den kalten Stein und machte sich bewusst, dass es König Salomo selbst war, von dem man sagte, er habe die Stadtmauer erbauen lassen. Doch er wollte nicht zu lange rasten, denn die Synagoge konnte nicht mehr weit entfernt sein. Zurück im grellen Tageslicht, musste er seinen Augen abermals etwas Zeit lassen, sich mit den veränderten Bedingungen vertraut zu machen.
Während Jonathan sich also umsah, fiel ihm eine Gruppe von Männern auf, die aus einer an der Innenseite der Mauer entlang verlaufenden Querstraße auf ihn zukamen. Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, spürte er, wie zwei der Kerle ihn zwischen ihren kräftigen Körpern einschlossen, ihn zwangen, die Richtung zu wechseln und mit ihnen gemeinsam in eine kleine Gasse einzubiegen, die zur unteren Stadt führen musste. Jonathan war überrascht, dachte kurz an den kleinen Zierdolch, den Lucius ihm zum Abschied geschenkt hatte und den er stets bei sich trug. Auch überlegte er, ob die Soldaten beim Tor sein Schreien noch hören würden. Doch beide Optionen schienen ihm keine brauchbare Strategie zu sein, also bemühte er sich, möglichst wenig Widerstand zu leisten und sich zunächst einmal mit seiner neuen Lage vertraut zu machen. Die zwei Männer hatten ihn links und rechts unter den Armen gepackt und lenkten ihn nun schnell und zielgerichtet zwischen den kleinen Innenhöfen und Hauseingängen hindurch. Und obwohl sich Jonathan konzentrierte, verlor er bald die Orientierung.
Schließlich wurde ihm von hinten sogar noch ein Leinensack über den Kopf gestülpt. Er unterdrückte ein zynisches Lachen, denn er wollte die Fremden nicht provozieren. Alles in allem machte er sich aber keine großen Sorgen. Wenn sie mich töten wollten, hätten sie das längst getan, sagte er sich, bemühte sich, mit ihrem Schritt mitzuhalten und trotz der fehlenden Sicht nicht zu stolpern. Außerdem wollte er so viele Eindrücke wie möglich sammeln, denn alles, was er wahrnahm, würde ihm später möglicherweise nützlich sein können. Sie mussten unterdessen die Straße hinter sich gelassen und ein Gebäude betreten haben, denn es war deutlich kühler, die Bewegungen verlangsamten sich und die Geräusche der Stadt wirkten nun stumpfer, gedämpft. Auch veränderten die Männer ihre Position. Sie hatten Jonathan nun von vorne und hinten eingeschlossen, woraus er schlussfolgerte, dass sie sich in einem engen Gang befinden mussten. Um seine Annahme zu überprüfen, gab er vor, er würde zu einer Seite hin wanken, und streifte, wie er es erwartet hatte, eine Wand. Jetzt wurde er eine Treppe hinuntergestoßen und drohte kurz, tatsächlich das Gleichgewicht zu verlieren.
Der Boden unter seinen Sandalen war rutschig, die Luft roch feucht und nach Schimmel. Die Stufen mussten steil nach unten führen, sie bogen bald nach links, bald nach rechts ab. Immer wieder meinte Jonathan Wasser rauschen zu hören, manchmal konnte er es auch riechen. Die Temperatur war kühl und Jonathan fröstelte, wusste aber nicht, ob die Kälte oder seine Anspannung die Ursache dafür waren. Jedenfalls musste er auf seine Füße achten, denn der Untergrund war uneben. Immer wieder stolperte er, und wenn er sich dabei mit den Händen an einer der Wände abstützen musste, war es ihm, als berührte er eine Oberfläche, die feucht und von einer öligen Substanz überzogen war.
Plötzlich blieb der Mann vor ihm abrupt stehen. Auf der rechten Seite spürte Jonathan die Wärme einer Fackel. Dann wurde sein Kopf unsanft von dem Sack befreit. Ohne seine Position zu verändern, sah Jonathan sich um. Der Raum war groß und dunkel, die Decke mochte drei bis vier Mann hoch sein. Die spärlichen Fackeln warfen unruhige Schatten an die Wand. Jonathan erkannte sofort, dass es sich nicht um eine natürliche Höhle handeln konnte, sondern um ein von Menschen ins Gestein gehauenes unterirdisches Wasserreservoir, das offensichtlich nicht mehr in Gebrauch war. Die Wände waren mit weißem Kalk überzogen, der an mehreren Stellen bereits bröckelte. Wasser tröpfelte aus der Mauer und bildete am Boden unregelmäßige Pfützen. In allen vier Richtungen führten enge Treppen nach oben und von dort wohl in weitere Gänge. In der Decke waren vereinzelte enge Schlitze zu entdecken, durch die ein wenig Licht fiel. Doch ohne den Fackeln, die man mit Eisenringen in der Wand verankert hatte, wäre es unmöglich gewesen etwas zu sehen.
Jonathan verhielt sich ruhig und musterte seine Begleiter. Sie trugen braune Mäntel, hatten ihre Kapuzen tief in die Stirn gezogen. Schatten lagen auf ihren Gesichtern und machten es ihm unmöglich, ihre Züge wahrzunehmen. Da kam plötzlich Bewegung in die Szene. Aus dem Gang zu seiner Linken näherten sich ihnen drei weitere Männer, zwei waren gleich bekleidet wie die beiden anderen, der dritte hatte zwar eine Kapuze, wirkte ansonsten aber deutlich vornehmer. Er hinkte stark. Sein linkes Bein war steif, doch obwohl ihn jeder Schritt Überwindung zu kosten schien, war sein Gang aufrecht und voller Würde. Auch trug er geschlossene Lederstiefel und keine Sandalen. Unmittelbar vor Jonathan blieb er stehen.
„Es ist mir äußerst unangenehm, Jonathan ben Schlomo", begann er freundlich und mit einem Hauch von Ironie, „dass ich unsere Zusammenkünfte immer auf so unfreundliche Art und Weise arrangieren muss."
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...