Kapitel 78 - Ruhe der Natur

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Lily schlug die Augen auf und für einen kurzen Augenblick schien die Welt in Ordnung zu sein. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages schienen durch die Fenster des Schlafsaals, und ließen den runden Raum durch das warme Licht unschuldig freundlich aussehen. Es hätte einfach ein schöner sonniger Sonntag sein können, den sie normalerweise mit ihren Freunden draußen am See verbracht hätte. Aber heute war kein solcher Tag. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag in die Magengrube, kurz nachdem sie die Augen aufgeschlagen hatte. In wenigen Stunden würden James und sie zu Amber reisen, um zur Beerdigung ihres Vaters und ihres Onkels zu gehen, und sie fühlte sich schwach. Zu schwach um solch einen Tag zu überstehen, und erst Recht zu schwach um für einen anderen Menschen stark zu sein. Die Geschehnisse der letzten Tage hatten ihr zugesetzt und sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers eine zermürbende Anspannung in sich, die ihre Gedanken rastlos werden ließ. Mit all ihrer Willensstärke musste sie sich aufraffen, überhaupt aus ihrem Bett aufzustehen. Aber für Amber musste und würde sie diese Kraft aufbringen. Alle anderen Gedanken würde sie ausblenden und sie hoffte inständig, dass auch Remus sie heute nicht auf Severus ansprechen würde. Ihr Sorge war jedoch unberechtigt. Als sie wenig später lustlos in ihrem Frühstück stocherte, spürte sie zwar wie Remus sie immer wieder verstohlen beobachtete, aber offensichtlich so viel Feingefühl besaß, sie nicht mehr darauf anzusprechen, bis sie selbst auf ihn zukam. Er war der einzige Mensch, außer vielleicht James, der wusste, dass sie nicht nur wegen ihres Mitgefühls für Amber so abweisend war. Ansonsten wusste niemand was wirklich in ihr vor ging und wie sehr der Liebeskummer wegen Severus sie innerlich zerriss. Sie sah zu James hinüber. Auch er schob sein Frühstück bloß auf seinem Teller hin und her, ohne wirklich etwas zu essen. Er wirkte blass und übernächtigt und ihr fiel auf, dass es bei ihm vielleicht auch nicht nur die Trauer war, die ihm so zusetzte, sondern dass ihn wie sie auch noch zusätzlich ein schlimmer Liebeskummer plagte. Plötzlich verspürte sie Mitleid mit ihm. Wer konnte besser nachempfinden wie er sich fühlte als sie, dachte sie betrübt und legte ihre Gabel beiseite. Sie brauchte frische Luft, entschied sie spontan und stellte mit einem Blick auf die Uhr fest, dass ihr noch genug Zeit blieb um einen kleinen Spaziergang auf dem Schlossgelände zu unternehmen. Bevor sie abreisten musste sie dringend ihren Kopf frei bekommen, und tatsächlich taten ihr die Morgenluft und die Bewegung gut, während sie jetzt beherzten Schrittes am See entlang lief. Nach einer Weile fühlte sie sich bereits wieder so sortiert, dass sie sich auf einen großen Stein am Ufer setzte, einen Moment inne hielt und einfach die Ruhe der Natur genoss. Sofort spürte sie, wie auch sie selbst hier draußen langsam zur Ruhe kam und versuchte, nicht an den noch bevorstehenden Rest des Tages zu denken. Sie fühlte sich seit Tagen das erste mal wieder einigermaßen entspannt und wollte dieses Gefühl unbedingt so lange wie möglich bewahren. Bis ihr plötzlich jemand auf die Schulter tippte und sie sich erschrocken nach dem unerwarteten Besucher umsah.

Severus stand unter einem großen Baum und sah auf den großen See des Schlosses, als er Lily bemerkte, die nur wenige Meter von ihm am Ufer entlang spazierte. Er erstarrte. Eigentlich war er wie üblich hier hergekommen um allein zu sein. Jetzt war er zutiefst erleichtert, dass er sich seit der letzten Begegnung mit Lily und dem Werwolf am See angewöhnt hatte, sich im Schutz der Bäume zu verstecken wenn er hier draußen war. Vorsichtig zog er sich etwas weiter in den Schatten zurück und sah gebannt auf Lily, die unbeirrt weiter lief. Ein kleines Stück weiter setzte sie sich auf einen großen Felsen, der aus dem Boden ragte und sah auf den See hinaus. Wieder verschlug es ihm bei ihrem Anblick den Atem. Niemals würde er sich daran satt sehen wie Lily mit ihrem hübschen Gesicht gedankenverloren auf den See hinaus sah, während ihr langes, glänzendes Haar in der Sonne schimmerte. Unwillkürlich dachte er an den Kuss und eine qualvolle Sehnsucht überkam ihn wieder. Es wäre so einfach zu ihr hinüber zu gehen und wieder ihre weichen Lippen auf seinen zu spüren, dachte er wehmütig. Doch dann blitzte das Gespräch mit Lupin in seinen Gedanken auf und er ballte wütend die Fäuste. Lily wollte Potter, nicht ihn. Lupin war so überrascht über den Kuss gewesen, dass es für Severus eindeutig war, dass Lupin mehr wusste als er sagte, schließlich war er mit Lily und Potter befreundet. Severus war sich sicher, dass dieser Kuss bloß ihrem Gefühlschaos geschuldet war, und er einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war. Warum sonst hätte sie ihn küssen sollen? Verbittert verzog er das Gesicht. Lily hatte ihm im Anschluss gesagt, dass sie reden müssten, und er hatte ganz genau gewusst, was sie hatte sagen wollen. Nämlich dass es ein Fehler gewesen war sich zu küssen und ob er nicht auch gespürt habe, das dort nichts sei. Er hätte es nicht ertragen sie das sagen zu hören. Er war ein Narr für einen kurzen Moment geglaubt zu haben, dass ihn jemand lieben könnte, und für einen kurzen Augenblick die Hoffnung verspürt hatte, dass es doch einen Ausweg aus seiner Situation geben könnte. Ein leises, freudloses Lachen entrang seiner Kehle und er lehnte sich langsam mit dem Rücken an den großen Baum unter dem er stand und sah hinauf zu dem dunkelgrünen Blätterdach. Er schloss seine Augen und versank vollkommen in dem Gefühl der verzweifelten Trauer und unstillbaren Sehnsucht, nach dem einzigen Menschen auf dieser Welt den er liebte. Bedingungslos. Für ihn würde es außer ihr keine Liebe mehr geben, das wusste er. Und das Schlimmste war, dass er selbst diese winzige und einzige Chance auf sein Lebensglück verspielt hatte. Damit musste er leben. Aber war sein Leben so überhaupt noch etwas Wert? Unsanft schlug er sich sie Hände vor das Gesicht und sank in das hohe Gras. Mit all seiner Selbstbeherrschung versuchte er, nicht zu ihr hinüber zu sehen. Erst als er Schritte hörte, blickte er auf und sah sich vorsichtig um. Erneut blieb ihm der Atem stehen, als er etwas beobachtete, das eine unerträgliche Eifersucht in ihm auflodern ließ. Potter schlenderte geradewegs auf Lily zu und tippte ihr auf die Schulter. Sie sah sich um, blickte ihn kurz überrascht an, lächelte Potter aber dann herzlich entgegen, als würde sie sich sogar freuen ihn zu sehen. Severus beobachtete jetzt, wie Lily diesem arroganten Schnösel mit einer Geste einen Platz auf dem Stein anbot und dieser setzte sich dicht neben sie. Das war mehr als Severus ertragen konnte. Er musste weg. Wenn er jetzt nicht ging, würde er sich nicht zurück halten können Potter etwas an zu tun. Also ging er. Für Lily. 

Lily und Severus - Der Kampf zwischen Schatten und LichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt