Lily rannte den Gang entlang, ohne auf ihren Weg zu achten. Tränen verschleierten ihren Blick und sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte oder wohin sie überhaupt rannte. Ihre Gefühle übermannten sie und sie spürte plötzlich, dass sie nicht mehr richtig atmen konnte. Es fühlte sich an, als würde ihr jemand die Luft abschnüren, trotzdem rannte sie weiter. Ausgerechnet jetzt kamen die Erinnerungen an den Überfall wieder hoch, und die bekannte Angst, die sie damals wochenlang verfolgt hatte, machte sich erneut in ihr breit, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Frische Luft. Sie brauchte frische Luft, dachte sie verzweifelt. Blind vor Panik und Trauer rannte sie in den nächsten Gang, die Treppen hinauf und einen weiteren Gang entlang, um wieder einige Stufen hinauf zu hasten. Bevor sie registrierte wo sie sich befand, spürte sie die frische Morgenluft und nahm einige tiefe Atemzüge, nach denen sich ihr Herzschlag langsam wieder beruhigte. Sie war auf einem der Glockentürme von Hogwarts, und an einem anderen Tag hätte sie der Anblick der frühsommerlichen Morgensonne, die in ihren schönsten Goldtönen über das Schlossgelände schien mit Sicherheit zum Lächeln gebracht. Doch heute war alles anders. Heute hatte sie das irrationale Gefühl, die Sonne würde sie mit ihrem leuchtenden Strahlen verhöhnen und sie wandte sich schnell wieder von diesem ihr unerträglichen Anblick ab. Kraftlos lehnte sie sich an die Wand, um ihren vor Anspannung schmerzenden Kopf an den groben Steinen der dicken Mauern zu kühlen. Was war nur geschehen? Wie konnte so ein vielversprechender Tag sich binnen so kurzer Zeit in einen solchen Alptraum verwandeln? Sie seufzte leise und drückte ihren Kopf noch fester an die kalte Mauer neben einem der riesigen Maueröffnungen, durch die die frische Luft dieses noch jungen Tages strömte.
Nur wenige Meter von Lily entfernt stand Severus, im Schutz eines Schattens und haderte mit sich. Nachdem Lily aus McGonagalls Büro gekommen war, war sie scheinbar kopflos und ohne ihn zu bemerken an ihm vorbei gestürmt, und er hatte nicht lange gezögert ihr zu folgen. Erschreckender Weise hatte er keine Sekunde über die Konsequenzen nachgedacht, die sein unbedachtes Handeln nach sich ziehen würde. Aber er konnte nicht anders. Obwohl er wusste, dass er nicht hier sein sollte, war der Drang Lily beizustehen größer gewesen als all seine Vernunft. Unsicher beobachtete er jetzt wie sie still mit dem Kopf an der Wand lehnte und immer wieder konzentriert tief ein und ausatmete. Ihr Schmerz war für ihn fast körperlich spürbar und er konnte es nicht ertragen, sie so voller Kummer zu sehen. Leise und mit klopfenden Herzen ging er auf sie zu, wie in Trance und unfähig sich von ihr abzuwenden. Er wusste, dass er gehen sollte, und sich so weit von ihr fern halten sollte, wie nur irgend möglich. Aber er konnte nicht. Er war nur noch zwei Schritte von ihr entfernt, als sie plötzlich erschrocken zu ihm herumfuhr. Ihre wunderschönen mandelförmigen Augen, die sonst in dem leuchtendsten grün erstrahlten, das er kannte und in denen immer so viel Lebenslust funkelte, waren vom Weinen gerötet und ließen ihn nichts als Schmerz erkennen. Erschrocken blickte sie ihn an. „Lily." Flüsterte er mit belegter Stimme und Lily löste sich aus ihrer Erstarrung, während ihre überraschte Miene einer ungläubigen wich. „Severus." Erwiderte sie atemlos und versuchte sich unbeholfen mit dem Ärmel ihres Umhangs die Tränen von ihren Wangen zu wischen. „Ich habe gehört was passiert ist." Sagte er leise und Lily verzog das Gesicht bei dem Versuch, ihre Tränen vor ihm zurück zu halten. Vorsichtig ging er noch einen weiteren Schritt auf sie zu und streckte, ohne etwas zu sagen den Arm nach ihr aus. Zu seiner Überraschung ließ sich Lily in seine Umarmung ziehen und schmiegte sich mit dem Kopf an seine Schulter, bevor sie heftig zu schluchzen begann. Er war wie betäubt und hörte seinen eigenen Herzschlag laut in seinen Ohren pochen. „Sev, es ist so schrecklich." Weinte sie dumpf in seinen Umhang hinein und er zog sie noch fester an sich heran, spürte ihren weichen Körper an seinem, roch ihren Duft und fühlte sich wie berauscht von ihrer Nähe. Ihn durchflutete eine Wärme, die seine verlorene Hoffnung und das fast vergessene Licht schlagartig in sein Leben zurück brachte. Er schloss die Augen, nahm diesen Moment der Nähe vollkommen in sich auf, versuchte ihn für immer in seine Erinnerung einzubrennen, obwohl er wusste, dass er das nicht tun sollte. Sie war wie eine Droge für ihn, die ihn berauschte und glücklich machte. Eine Droge, von der er immer mehr wollte und von der er niemals genug bekommen würde, egal wie oft er mit ihr in Berührung kam. Noch nie war Lily ihm so nah gewesen und er kostete jede Sekunde dieser Begegnung aus, auch wenn ihre Trauer sein Herz bluten ließ und er sich wünschte, ihr diesen Schmerz irgendwie abnehmen zu können. Tröstend strich er ihr über das lange, rote Haar und murmelte ihr beruhigende Worte zu, während ihr Körper langsam zu beben aufhörte und sie sich irgendwann etwas von ihm löste. Er wollte sie fest halten, wollte nicht dass es aufhörte, dass sie ihn los ließ, oder sogar fort von ihm ging. Aber sie blieb, legte ihren Kopf leicht schief und sah ihn mit glasigen Augen an. Sie musterte sein Gesicht mit einem Ausdruck, den er nicht einzuordnen wusste, weil er ihn noch nie bei ihr gesehen hatte. Er war nicht imstande auch nur einen klaren Gedanken zu fassen und ließ sich von einem unbestimmtem Gefühl leiten, das plötzlich in ihm aufkeimte und vollständig Besitz von ihm ergriff . Wie von einem unsichtbaren Band angezogen neigte er den Kopf ein wenig zu ihr hinunter, und zu seiner Überraschung streckte sie sich ihm ebenfalls entgegen. Ihr Mund war leicht geöffnet und als sein Mund auf ihren traf, fühlten sich ihre Lippen weich und warm an und er hatte das Gefühl, in seinem Inneren würde ein Feuerwerk explodieren. Alles um ihn herum verschwamm und es gab nur noch Lily und ihn. Nichts stand zwischen ihnen, nichts war in diesem Moment wichtig und er ließ sich einfach von diesem unbeschreiblichem Gefühl berauschen. Langsam hob er seine rechte Hand an ihre Wange und ließ sie behutsam über ihre zarte Haut, bis zu ihrem Nacken streichen. Lily seufzte fast unhörbar und ein unerträgliches Kribbeln durchfuhr seinen Körper. Er wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, als Lilys Lippen sich von seinen lösten und sie sich tief in die Augen sahen. „Sev." Hauchte Lily atemlos. „Sev, ich glaube wir müssen reden." Ihre Worte holten ihn schlagartig in die Realität zurück und es fühlte sich an, als würde sein Herz erfrieren. Was tat er hier bloß? Das hätte nicht passieren dürfen, dachte er erschrocken. Lily und er, das durfte nicht sein. Egal wie sehr er es sich wünschte, sie würde sterben, wenn er sie so liebte wie er sie lieben wollte. Er musste sie um jeden Preis schützen. Sie gehörte nicht in seine Welt voller Dunkelheit, und jedes mal wenn sie bei ihm wäre, würde sie in Lebensgefahr schweben. Schmerzerfüllt verzog er sein Gesicht und trat einen Schritt von ihr zurück. Es war nur ein kleiner Schritt, aber die Wärme in ihm verschwand augenblicklich und er fühlte sich wieder unüberwindbar von Lily entfernt.
Lily betrachtete Severus, der ein Stück von ihr abgewichen war. Gerade eben hatten sie sich noch geküsst und sie war immer noch so sehr in diesem wunderschönen Gefühl versunken, dass es ihr jetzt schwer fiel seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Es verwirrte sie zutiefst, als sie bemerkte, dass er nicht so zu empfinden schien wie sie, und eine leise Angst überkam sie, als Severus jetzt betreten zu Boden sah. „Lily, ich glaube..." Er verzog erneut das Gesicht und Lilys Herz klopfte aufgeregt. „... Ich glaube, das war keine gute Idee." Flüsterte er heiser. „Wir hätten nicht... Es tut mir leid." Lily starrte ihn ungläubig an und sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz, das sich gerade noch fast vor Aufregung und Liebe überschlagen hatte, jetzt in tausend kleine Scherben zerbrach. Wovon sprach Severus? Von dem Kuss? Der Kuss, der sich richtiger angefüllt hatte als alles andere was sie bisher getan hatte? Der Kuss, der sie alles böse auf dieser Welt hatte vergessen lassen und bei dem sie so viel Liebe zwischen ihnen gespürt hatte? Sie konnte sich das alles doch nicht eingebildet haben, dachte sie verzweifelt und schüttelte langsam den Kopf. Sie sah ihn erneut ungläubig an. „Sev, ich verstehe nicht. Hast du es nicht gespürt?" Flüsterte sie traurig und sah Severus tief in die schwarzen Augen, in denen sie die gleiche Trauer entdeckte, die sie selbst gerade verspürte. Oder spiegelten sich nur ihre eigenen Gefühle in ihnen, und spielten ihr einen Streich? Sie wusste gar nichts mehr, und nichts schien einen Sinn zu ergeben. Severus wandte seinen Blick ab. „Nein." Presste er hervor. „Habe ich nicht. Tut mir leid." Und mit diesen Worten drehte er sich um und war wenige Sekunden später die schmale Treppe nach unten verschwunden. Lily spürte wie ihre Beine nachgaben und sie sank zu Boden. Eine Mischung aus Trauer, Verzweiflung und Ungläubigkeit überkamen sie und erneut stiegen ihr an diesem Tag Tränen in die Augen. Leise schluchzend zog sie die Beine an und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. In ihr fühlte sie nichts als eine eisige Leere und es dauerte beinahe den ganzen Tag, bis sie sich wieder in der Lage fühlte aus ihrem Versteck zu kommen. Als sie den Glockenturm hinab stieg, dämmerte es bereits und sie hoffte, dass ihr Plan aufgehen würde und sie sich umbemerkt in den Gemeinschaftsraum schleichen konnte, während alle anderen Gryffindors beim Abendessen waren. Sie wollte einfach nur ins Bett und mit niemandem reden und auch niemanden sehen. Aus diesem Grund schlich sie so leise wie möglich die halbdunklen Gänge entlang, immer darauf bedacht nicht entdeckt zu werden. Vollkommen unbemerkt gelang sie schließlich zum Portrait der fetten Dame und verschwand augenblicklich im Gemeinschaftsraum, sobald das Portrait ausgeschwungen war und den Eingang freigegeben hatte.

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Lily und Severus - Der Kampf zwischen Schatten und Licht
FanfictionDie Geschichte einer Liebe, die in einem Kampf zwischen Schatten und Licht ausgetragen wird. In einem stetigen Kampf zwischen den verschiedensten Gefühlen, Ängsten und Sorgen, müssen Lily und Severus Entscheidungen treffen, die ihr Leben für immer v...