Kapitel 148 - Die zwei Seiten einer Geschichte

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Nervös saß Lily neben ihrem Peiniger in Dumbledores Büro und blickte beschämt auf ihre Hände, die ruhig in ihrem Schoß lagen. Sie konzentrierte sich auf die kleinen blauen Äderchen auf ihrem Handrücken, die sich auf ihrer hellen Haut abzeichneten und versuchte Mulcibers Anwesenheit so gut wie möglich auszublenden. „Miss Evans, Mr. Mulciber, wer von Ihnen beiden möchte mit seiner Sicht der Dinge beginnen?", fragte Dumbledore ruhig, woraufhin Lily zum ersten Mal richtig aufblickte. In seinem Gesicht konnte sie keine Gefühlsregung erkennen, was sie noch mehr einschüchterte und zunächst zögern ließ. „Ich kann Ihnen erklären was passiert ist, Sir.", begann Mulciber in so einem schleimigen Tonfall, dass sich Lily der Magen umdrehte. Dumbledore blickte ihn aufmerksam an und nickte kurz, damit Mulciber begann. „Diese..." Er stockte und fing von neuem an. „Miss Evans und ich haben uns... naja wir haben uns einen ruhigen Platz gesucht, um etwas allein zu sein. Aber sie muss da etwas missverstanden haben und hat mich einfach ausgeknockt, als ich sie abgewiesen habe. Ich schätze ihr verletzter Stolz hat sie etwas überreagieren lassen.", erklärte Mulciber freundlich und sah lächelnd zu ihr hinüber. „Stimmt doch, oder?", säuselte er und Lily starrte ihn fassungslos an. Sie sah trotz des Lächelns die Drohung in seinen Augen und ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie diesen Ausweg, den Mulciber ihr bot, annehmen? So würde sie vermutlich nicht so viele Probleme bekommen, als wenn sie die Wahrheit erzählte, die ihr vermutlich sowieso niemand glauben würde. Aber Dumbledore würde ihr vielleicht glauben, dachte sie hoffnungsvoll und beschloss sich auf ihr unerschütterliches Vertrauen an die Gerechtigkeit zu verlassen. „Miss Evans?", fragte Dumbledore sanft, nachdem sie einige Sekunden des Schweigens immer noch keine Anstalten machte zu antworten. Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt und in ihrem Mund herrschte eine wüstenähnliche Trockenheit. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, hin und hergerissen zwischen Angst, Wut, Unsicherheit und Entschlossenheit. Langsam wandte sie ihr Gesicht wieder Dumbledore zu, der sie erwartungsvoll über seine halbmondförmigen Brillengläser ansah. Sie nahm einen tiefen Atemzug und begann zu erzählen. Es fiel ihr schwer, weil sie sich unglaublich schämte, aber sie ließ trotzdem kein einziges Detail aus. Mulciber versuchte einige Male sie völlig empört zu unterbrechen, aber Dumbledore bedeutete ihm jedes Mal mit einem mahnenden Blick zu schweigen, weshalb Mulciber jetzt bloß noch still in seinem Sessel saß und ab und zu nervös mit seinen Händen über seine Oberschenkel strich. Lily konnte seine Wut förmlich spüren, auch wenn sie sein puterrot angelaufenes Gesicht nur im Augenwinkel erkennen konnte. Als sie geendet hatte, atmete sie innerlich auf, saß äußerlich jedoch immer noch kerzengerade auf ihrem Sessel und wartete gebannt auf Dumbledores Reaktion, die nicht allzu lange auf sich warten ließ. Er runzelte die Stirn und seine Züge wurden hart, während Lily das Herz aus der Brust zu springen drohte. Er musste ihr einfach glauben, betete sie im Stillen und konzentrierte sich auf ihre Atmung, die schnell und flach ging. Dumbledore setzte seine Brille ab und rieb sich mit seinen langgliedrigen Fingern den Nasenrücken, bevor er sich seufzend an Mulciber wandte. „Mr. Mulciber, ich fürchte, dass ich Miss Evans noch kurz alleine sprechen muss.", sagte er und Lily sah deutlich den Triumph, der in Mulcibers Augen aufleuchtete, bevor er hektisch aufstand. „Ja, Sir.", sagte er und warf Lily einen vielsagenden Blick zu, bei dem sie eine Woge der Wut erfasste. „Warten Sie bitte draußen auf uns.", fügte Dumbledore hinzu, bevor Mulciber sich schlendernd nach draußen begab. „Nun, Miss Evans.", begann Dumbledore und musterte Lily so aufmerksam, dass sie das Gefühl hatte, unter seinen Blicken immer mehr zusammen zu schrumpfen. „Es tut mir Leid.", sagte er und Lily senkte den Blick, weil sie spürte wie heiße Tränen der Verzweiflung ihr in die Augen schossen. Würde sie von der Schule verwiesen werden? So kurz vor ihrem Abschluss? „Es tut mir unendlich Leid, dass sie so etwas erleben mussten. Und das auch noch in den sicheren Mauern von Hogwarts." Lily blickte überrascht auf und sah Dumbledore direkt in die Augen, die sie traurig betrachteten. „Aber...", begann Lily und schüttelte verwirrt den Kopf. „Sie glauben mir?", fragte sie erstaunt und beobachtete, wie sich eine tiefe Falte zwischen Dumbledores Augenbrauen bildete. „Wieso sollte ich das nicht?", fragte er überrascht und schüttelte langsam den Kopf. „Ich habe keinen Grund Ihnen nicht zu glauben." Lily lächelte schief und nickte erleichtert. „Miss Evans, ich möchte ganz deutlich machen, dass Sie hier nicht die Schuldige sind. Jedoch befürchte ich, dass es tatsächlich einige Menschen geben wird, die Ihre Version anzweifeln werden.", erklärte er ernst und fuhr sich nachdenklich über seinen langen weißen Bart. „Ich bitte um Verzeihung, dass ich das jetzt von Ihnen verlangen muss, aber ich würde Sie bitten mich in Ihre Gedanken sehen zu lassen." Erschrocken blickte Lily ihn an, sagte jedoch nichts. „Wenn ich Herrn Mulciber von der Schule verweise, wird es Fragen geben. Ich muss dem Zaubereiministerium darüber Bericht erstatten und der Zaubergamot wird eine Anklage gegen Herrn Mulciber erheben.", erklärte er sachlich und musterte Lily wieder aufmerksam über seine Brillengläser, bevor er weiter sprach. „Ich würde es Ihnen gerne ersparen, eine Aussage machen zu müssen." Sie schwiegen einen Moment, bis Lily zustimmend nickte. „In Ordnung.", sagte sie schließlich und Dumbledore lächelte traurig, bevor er fast unmerklich in ihre Gedanken drang und für einige kurze Momente die Szenen in der Kammer in ihrer Erinnerung aufflackerten. Als Dumbledore sich aus ihrem Kopf zurück zog, keuchte Lily leise auf. Schweiß stand ihr auf der Stirn und sie atmete schwer. Dumbledore stand auf, ging um den großen Schreibtisch herum und setzte sich neben sie auf den Platz, auf dem eben noch Mulciber gesessen hatte. Mit mitfühlendem Gesichtsausdruck griff er nach ihrer Hand und drückte sie fest. „Sie waren sehr mutig, Lily. Es war die richtige Entscheidung die Wahrheit zu sagen.", sagte er sanft und Lily lächelte schief, weil sie nicht wusste, was sie antworten sollte. Sie war unendlich müde und wollte einfach nur noch schlafen, obwohl es erst später Nachmittag war. „Jetzt sollten sie sich ausruhen.", sagte Dumbledore, als hätte er erneut ihre Gedanken gelesen. Obwohl das vermutlich noch nicht einmal notwendig war, denn sie fühlte sich wie das wandelnde Elend und war sich sicher, dass sie auch genauso aussah. „Ja.", sagte sie bloß, stand auf und strich sich fahrig den Rock glatt. „Möchten Sie in den Krankenflügel? Soll ich Sie von einem Ihrer Freunde abholen lassen?", fragte er ruhig und sie erschrak unwillkürlich, als er plötzlich neben ihr stand. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie noch nicht einmal bemerkt hatte, wie er aufgestanden und neben sie getreten war. „Nein. Nein... es geht schon.", sagte sie eilig, weil sie einfach nur noch allein sein wollte. Sie wollte niemanden sehen und niemanden sprechen. „In Ordnung.", sagte Dumbledore und begleitete sie zur Tür. Auch er sah müde aus, dachte Lily und schluckte. Was würde jetzt wohl mit Mulciber geschehen? Sie waren an der Tür angekommen und sie atmete einmal tief ein und aus, bevor sie nach draußen trat, wo Mulciber ungeduldig auf sie wartete. Er sagte nichts und sie senkte den Blick, damit sie sein Gesicht nicht noch einmal sehen musste. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sie es ertragen hätte, wenn er weiterhin mit ihr im Unterricht, oder auch nur in der großen Halle sitzen würde. Würde sie jemals das Gefühl seines Körpers an ihrem vergessen? Seine Berührungen? Seinen Geruch? Oder würde sie das alles für immer in ihren schlimmsten Alpträumen verfolgen? Sie unterdrückte nur mühsam die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, während sie durch die Gänge zum Gryffindorturm hastete. Plötzlich fühlte sie sich schmutzig und das unerträgliche Bedürfnis sich Mulcibers Geruch von ihrem Körper zu waschen trieb sie dazu noch schneller zu laufen. Kurz vor dem Porträt der fetten Dame blieb sie abrupt stehen. Der Gemeinschaftsraum würde um diese Uhrzeit voller Leute sein, dachte sie plötzlich und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Selbst in ihrem Schlafsaal wäre sie nicht allein, dachte sie und drehte sich ohne weiter darüber nachzudenken auf dem Absatz um. Sie würde doch in den Krankenflügel gehen. Dort konnte sie sich wenigstens für ein paar Stunden vor ihren Freunden verstecken. Severus kam ihr in den Sinn und sie spürte, wie ihr die mühsam zurückgehaltenen Tränen jetzt doch noch über die Wangen liefen und ihre Bahnen über die blasse Haut zogen, bis sie sanft von ihrem Kinn auf ihre Bluse tropften. Severus musste sich schrecklich vor ihr ekeln, dachte sie verzweifelt und hatte Angst davor, dass er sie nie wieder berühren wollte. Fast so sehr wie davor, dass er es tat. Sie berühren. Würde sie jemals wieder von jemandem berührt werden können, ohne sich an diesen schrecklichen Tag zu erinnern? Ohne Angst zu empfinden? Sie wusste es nicht und ihr Kopf wollte auch nicht weiter darüber nachdenken. Sie wollte gar nicht mehr denken und war unendlich dankbar, dass Madam Pomfrey ihr ohne weitere Fragen einen starken Schlaftrank gab, nachdem sie sie zu einem durch Vorhänge abgeschirmtes Bett gebracht hatte. Sie musste bereits Bescheid gewusst haben, denn es lagen Handtücher und ein frischer Pyjama für sie auf einem Stuhl neben dem Bett bereit. Lily verkroch sich direkt in dem Waschraum, den sie sorgfältig hinter sich verschloss, bevor sie sich eilig entkleidete. Sie stieg in die Dusche und spürte kaum, wie das heiße Wasser über ihren Körper floss. Sie stand einfach da, konzentrierte sich auf das Rauschen des Wassers und starrte auf den Fliesenspiegel an der Wand vor ihr. Irgendwann griff sie nach einem Stück Seife, mit dem sie begann sorgfältig ihren Körper einzuschäumen. Ihre Bewegungen wurden immer heftiger und gröber und sie verspürte eine tiefe Verzweiflung darüber, dass das dreckige Gefühl einfach nicht verschwinden wollte. Mit einem Schwamm schrubbte sie ihre Haut, bis sie zu brennen begann, aber sie konnte nicht aufhören. Egal wie lange sie sich abwusch, einschäumte und wieder abwusch, änderte es nichts an den düsteren Gedanken, die in ihrem Kopf umher waberten und ihr all ihren Mut und ihre Kraft raubten. Sie spürte wie der Schlaftrank zu wirken begann und zwang sich dazu, aus der Dusche zu steigen. Sie wollte nicht riskieren, dass sie hier in der Dusche zusammen brach und jemand sie befreien musste. Nackt und hilflos. Deswegen trocknete sie sich schnell ab, schlüpfte in den warmen Pyjama und tapste vorsichtig in ihr Bett. Ob Madam Pomfrey auch angewidert von ihr war? Das war ihr letzter Gedanke, bevor die Wirkung des Tranks endgültig einsetzte und sie in einen tiefen traumlosen Schlaf fiel, der sie für einige Stunden von ihren seelischen Qualen erlösen würde.

Zur gleichen Zeit lief Severus nervös in seinem Schlafsaal auf und ab. Wut brannte wie Feuer in ihm und vermischte sich mit der bitteren Verzweiflung darüber, Lily nicht helfen zu können. Er wusste noch nicht einmal wie es ihr ging, weil McGonagall ihm und den anderen Zeugen verboten hatte, ihre Schlafsäle an diesem Abend noch einmal zu verlassen. Er überlegte gerade, wie sie das wohl kontrollieren wollte, als er Schritte auf dem Gang hörte. Im nächsten Moment ging die Tür auf und Mulciber kam herein, gefolgt von Dumbledore und Slughorn. Mulcibers Gesichtsausdruck war resigniert, der Dumbledores entschlossen und Slughorns ungewohnt streng, fast wütend. Niemand sprach ein Wort, während Mulciber geräuschvoll seinen Schrankkoffer unter dem Bett hervor zog und begann seine Habseligkeiten hineinzuwerfen. Wie erstarrt beobachtete Severus ihn dabei und war sich nicht sicher, ob überhaupt einer der drei seine Anwesenheit wirklich wahr nahm. Sobald Mulciber seine Sachen verstaut und den Koffer geschlossen hatte, hievte er ihn wieder vom Bett hinunter und zog ihn unsanft hinter sich her zur Tür. Dumbledore und Slughorn gingen bereits voran, aber Mulciber blieb noch einen kurzen Moment genau auf Severus Höhe stehen, ohne ihn jedoch anzusehen. „Das wird dieses kleine dreckige Schlammblut noch bereuen.", zischte er bedrohlich, bevor er mit einem wütenden Schnauben den Schlafraum verließ. Fassungslos sah Severus ihm nach, dann atmete er erleichtert aus. Zumindest musste Lily sein Gesicht jetzt nicht auch noch jeden Tag sehen. Er krallte sich an einem der Bettpfosten fest und lehnte erschöpft seinen Kopf dagegen. Er wusste, dass er nicht untätig hier herumsitzen konnte, aber er wusste nicht, was er tun sollte und ließ sich resigniert auf sein Bett fallen, wo er sich seinen finsteren Gedanken hingab, während er wie in Trance auf den Boden starrte.

Lily und Severus - Der Kampf zwischen Schatten und LichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt