Kapitel 154 - Abschied

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Severus spürte, dass etwas mit Lily nicht stimmte. Irgendetwas schien sie zu bedrücken, aber er konnte nur erahnen, was es war. Es hatte gestern Abend vor dem Abendessen begonnen. Dort kam es ihm schon merkwürdig vor, dass sie nicht aus der Richtung der Marmortreppe, sondern von draußen gekommen war, obwohl sie beide bereits den ganzen Tag draußen verbracht hatten und danach in ihre jeweiligen Schlafsäle gehen wollten. Wieso hatte sie das nicht getan? Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, aber er ignorierte es. Heute war ihr letzter Tag in Hogwarts und er wollte ihn zu einem besonderen machen. Genauso besonders wie ihr erster Tag gewesen war, an dem sie voller Aufregung und Vorfreude in den Hogwartsexpress gestiegen und danach mit den kleinen Booten über den See zum Schloss gefahren waren. Er erinnerte sich an Lilys staunendes Gesicht, das sich mit großen grünleuchtenden Augen umgesehen hatte. Er erinnerte sich an den Stolz in seiner Brust, weil er ihr als erster von dieser magischen Welt erzählt hatte. Noch bevor sie überhaupt wusste, was sie war und zu was sie in ihrem Leben noch fähig sein würde. Er hatte ihre Magie sofort gespürt, welche ungewöhnlich stark von ihr ausgegangen war. Dieser Gegensatz hatte ihn von der ersten Sekunde an gefesselt. Das kleine zarte Mädchen mit den wilden roten Haaren, das von Muggeln geboren wurde, aber trotzdem vollkommen von Magie umgeben war. Zunächst war er eifersüchtig darauf gewesen, dass sie ihre Magie auch ohne Zauberstab und ohne jeglichen Wissen fast genauso gut gebrauchen konnte, wie er, der sich so lange er denken konnte schon darin übte. Aber dieses Gefühl war nach dem Augenblick eines Wimpernschlags wieder erloschen. Er hatte einfach keine schlechten Gefühle für so ein faszinierendes und gutherziges Wesen hegen können. Ihre Lebensfreude hatte sein Herz berührt, sobald er sie das erste mal auf dem Spielplatz in Cokeworth beobachtet hatte, und als sie dann auch noch als erster Mensch auf dieser Welt freundlich zu ihm gewesen war, war er ihr endgültig verfallen. Vielleicht tat er ihr in diesem Moment Unrecht mit seinem merkwürdigen Gefühl ihr gegenüber. Vielleicht war sie wirklich, wie sie behauptet hatte, nur etwas melancholisch gewesen, weil ihre Zeit hier in Hogwarts morgen vorbei sein würde. Er konnte sie verstehen, denn auch sein Herz wurde schwer bei diesem Gedanken. Dieses Schloss war vom ersten Tag an sein Zuhause gewesen. Sein erstes richtiges Zuhause, und er hatte sogar so etwas wie Freunde hier gefunden. Zumindest hatte er sich beweisen können. Sich und seine Fähigkeiten, für die er das erste mal in seinem Leben Anerkennung erfahren hatte. Auch er würde Hogwarts vermissen. Vermutlich sogar noch mehr als Lily. Er dachte nach. Dann wusste er plötzlich, was er tun konnte, um sich von seinem Zuhause zu verabschieden. Eilig zog er sich seinen Umhang über den Kopf und blickte auf die magische Uhr im Schlafsaal. Er fluchte leise. Lily würde um diese Zeit schon beim Abendessen sein, dachte er und griff nach seinem Zauberstab, der auf dem Nachtschränkchen lag.

Lily griff lächelnd nach Ambers Hand, während diese sich verstohlen mit ihrer freien Hand ein paar Tränen aus den Augenwinkel wischte. Amber lachte verlegen, aber auch Lily kämpfte mit den Tränen. Dumbledores Abschlussrede für die Hogwartsabgänger diesen Jahres hatte sie alle zutiefst bewegt und Lily war in diesem Moment von einer Woge der Melancholie erfasst worden. Durch einen Schleier von Tränen blickte sie zu der verzauberten Decke und legte einen Arm um Amber, die ihren Kopf auf Lilys Schulter legte. „Ich schätze, jetzt ist es vorbei.", flüsterte Amber, aber Lily nickte nur stumm. Ihr Blick traf den von Severus, der sie mit besorgtem Gesichtsausdruck vom Tisch der Slytherins aus beobachtete. Sie lächelte traurig und sah wieder zu Amber, die sich gerade aufrichtete und betreten ihren Umhang glatt strich. „Genug geweint.", sagte sie bestimmt und drehte sich zu Sirius, der auf ihrer anderen Seite saß und sie angesprochen hatte. Lily spürte James Blicke wie kleine Pfeilspitzen auf ihrer Haut, aber sie sah nicht zu ihm hinüber. Sie tat so, als würde sie etwas in ihrer Tasche suchen bis sie im Augenwinkel bemerkte, dass er sie nicht mehr im Visier hatte, weil er mit Remus sprach. Sie nutzte seine Unaufmerksamkeit und den plötzlich entstandenen Trubel in der großen Halle, um unauffällig aufzustehen und hinaus zu gehen.

Severus beobachtete Lily, wie sie verstohlen nach ihrer Tasche griff und sich eilig vom Gryffindortisch erhob. Er sprang ebenfalls auf und folgte ihr. Jedoch lief sie so schnell, dass er sie erst in der Eingangshalle einholte und sie dort stoppte, indem er sie sanft an der Schulter fasste. „Lily.", sagte er und Lily drehte sich zu ihm um. Erwartungsvoll blickte sie ihm entgegen und für einen Moment verließ ihn sein Mut. „Sev.", sagte sie lächelnd und Severus senkte verlegen den Blick. „Ich habe überlegt... also ich hätte...", er stockte und blickte wieder auf, geradewegs in Lilys Augen, die in einem dunklen Smaragdgrün schimmerten, wie sie es immer taten, wenn es ihr nicht gut ging. „Ich dachte, dass wir ein letztes Mal auf den Glockenturm gehen könnten.", sagte er leise und bereute seine Worte bereits im nächsten Augenblick, als sich Lilys Miene schmerzerfüllt verzog. „Es war nur eine Idee.", fügte er schnell hinzu, aber Lily griff nach seiner Hand und lächelte traurig. „Lass uns gehen.", flüsterte sie, bevor sie sie ihn sanft mit sich zog.

Der Anblick überwältigte Lily noch genau so, wie bei ihrem ersten Mal, als sie hier gestanden und die untergehende Sonne über den schottischen Highlands betrachtet hatte. Wie immer raubte es ihr den Atem, nur mit dem Unterschied, dass dieses Mal heiße Tränen in ihren Augen brannten. Sie spürte wie Severus vorsichtig einen Arm um sie legte, spürte seine Wärme an ihrer Seite und lehnte ihren Kopf an ihn, woraufhin er sie fest an sich zog. Sie schwiegen. Verabschiedeten sich beide im Stillen von ihrem Zuhause und von einer unglaublichen Zeit, die sie hier verbracht hatten. So viele bewegende Momente, die sie mit Hogwarts verbanden. Lily hatte eine ganz neue Welt entdeckt, Freunde gefunden, gelacht, geweint, die schönsten und schlimmsten Momente ihres Lebens in diesen Mauern durchlebt. Hogwarts war so ein großer Teil von ihr, dass sie sich ihr Leben gar nicht mehr ohne es vorstellen konnte. Es machte ihr regelrecht Angst daran zu denken, wie es in Zukunft sein würde. Der Abschied war gekommen und sie musste los lassen. Sanft löste sie sich von Severus, ging einen Schritt auf die steinerne Balustrade zu, legte sanft ihre Hände auf den kalten Stein und schloss mit einem tiefen Atemzug ihre Augen.

Severus betrachtete sie einen Augenblick. Wie sie ganz ruhig da stand, während ihr Haar durch den warmen Abendwind immer wieder leicht umher wirbelte. Er lächelte traurig, als er neben sie trat und sie jetzt von der Seite ansah. Sie schien seinen Blick zu spüren, denn sie öffnete ihre Augen und wandte sich ihm zu. Eine Träne lief ihr über die Wange und er konnte den Impuls nicht unterdrücken, nach ihr zu greifen. Ganz sacht legte er seine Hand auf ihre Wange und wischte die Träne behutsam mit seinem Daumen davon. Aus glitzernden Augen sah Lily ihn an, dann legte sie ihre Handflächen auf seine Brust, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er spürte ihre warmen weichen Lippen auf seinen und vergaß die Welt um sich herum. „Zum Glück haben wir noch uns.", flüsterte Lily heiser und lächelte zärtlich. „Für immer.", fügte sie leise hinzu und Severus hatte das Gefühl, als hätte ihn jemand in das eiskalte Wasser des Sees, am Fuße des Schlosses, gestoßen. Beklommen schluckte er den Kloß in seiner Kehle hinunter, als er Lilys Kopf an seinen Oberkörper lehnte, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. „Für immer.", erwiderte er schließlich mit erstickter Stimme, wohlwissend, dass seine Worte nur seiner Liebe zu Lily galten. Denn diese würde für immer sein. Egal was geschah und wie sehr sie ihn irgendwann hassen würde. Nur sie beide würden nicht für immer sein. Sie durften nicht für immer sein und es tat weh zu wissen, dass die Zeit unaufhaltsam wie durch eine Sanduhr nach unten rieselte und nicht aufzuhalten war.

Lily und Severus - Der Kampf zwischen Schatten und LichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt