In der großen Halle angekommen verabschiedeten sich Severus und Lily nur widerwillig voneinander. Die Mahlzeiten mussten sie an ihren jeweiligen Haustischen einnehmen, weshalb sich ihre Wege meistens bereits am großen Eichenportal trennten. Lily blickte noch einmal lächelnd zu Severus, bevor sie ihm zum Abschied sanft auf die Wange küsste und sich auf den Weg zum Gryffindortisch machte. Ihre Freunde waren bereits am Essen und begrüßten sie freudig, als sie sich zu ihnen gesellte. Sofort fiel ihr auf, dass James nicht wie gewohnt neben Sirius saß, und auch sonst konnte sie ihn nirgendwo entdecken. Mit einem mulmigen Gefühl setze sie sich neben Amber auf die Bank und griff nach der Karaffe, die direkt vor ihr stand. „Ist James gar nicht bei euch?", fragte sie ihre Freundin und versuchte es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen, während sie sich von dem Saft einschenkte. „Nein. Der hatte heute Nachmittag keine Lust mit uns zum See zu gehen.", erklärte Amber schulterzuckend und spießte mit ihrer Gabel ein Stück Kartoffel von ihrem Teller auf. Stirnrunzelnd sah Lily sich in der großen Halle um und erhaschte dabei zufällig einen Blick auf Severus, der sich gerade mit Avery unterhielt. Sie verspürte einen gewissen Unmut darüber, dass er sich mit solch schlechten Menschen wie Avery oder Mulciber abgab, aber was sollte er auch sonst tun? Er war mit ihnen in einem Haus und sie teilten sich sogar einen Schlafsaal, weshalb er schlecht nicht mit ihnen reden konnte, dachte sie seufzend und wandte sich wieder ihrem Teller zu. Ihre Gedanken schweiften erneut zu James. Ob er vorhin das Rascheln am See verursacht hatte? Hatte er Severus und sie dort gesehen? Sie spürte wie sie errötete und strich sich verlegen eine Strähne aus ihrem Gesicht, als sich jemand auf den freien Platz neben sie setzte. „James.", rief sie überrascht aus und lächelte freundlich. „Hey.", sagte James und sie konnte weder an dem Klang seiner Stimme, noch an seiner Mimik deuten, in welcher Stimmung er sich gerade befand. Sie schwiegen, während James sich ebenfalls seinen Teller mit dem Essen aus den dampfenden Schüsseln in der Mitte des Tisches belud und zu essen begann. „Hattest du einen schönen Tag?", fragte sie irgendwann und spielte nervös an ihrem Besteck, welches neben ihrem noch fast komplett gefüllten Teller lag. Er nickte kauend und betrachtete sie einen Moment lang, bevor er den Bissen hinunter schluckte und mit einem Schluck Kürbissaft nachspülte. Sie beobachtete ihn und verspürte eine merkwürdige Nervosität. Selbst wenn James sie gesehen hatte, gab es nichts wofür sie sich schämen musste. Severus und sie hatten schließlich nichts verbotenes getan, redete sie sich ein. Trotzdem errötete sie gegen ihren Willen erneut und versuchte an etwas anderes zu denken. Sie wusste genau, dass es fast zu etwas Verbotenem gekommen war, und bei dem Gedanken daran durchfuhr ihren Körper ein brennendes Kribbeln. Das gleiche Kribbeln, das sie auch vorhin verspürt hatte, als ihr Körper nach noch mehr Nähe verlangt hatte. „Mein Tag hätte besser sein können.", unterbrach James ihre Gedanken und blickte ihr direkt in die Augen. „Deiner war offensichtlich... aufregender, als meiner.", fügte er hinzu und widmete sich wieder seinem Rinderbraten. Er war es. Da war Lily sich plötzlich ganz sicher. James hatte sie am See durch das Dickicht des Waldes beobachtet. Vielleicht sogar in seiner Hirschgestalt, dachte sie und betrachtete ihn, während er ungerührt weiter aß. Sollte sie ihn darauf ansprechen? Aber was sollte das bringen? Er würde es sowieso nicht zugeben. Sie seufzte leise und zog damit wieder James Aufmerksamkeit auf sich. „Mhm?", fragte er unschuldig und Lily wusste nicht, ob sie wütend sein, oder seine gespielte Unwissenheit einfach ignorieren sollte. Sie entschied sich für letzteres, da sie keine Lust auf einen erneuten Streit hatte. Trotzdem ärgerte es sie, dass er ihr hinterher spionierte und jetzt so tat, als sei nichts gewesen. Schlecht gelaunt schob sie ihren Teller von sich und stand auf. James sah fragend zu ihr auf. „Ich muss noch etwas erledigen.", murmelte sie, drückte Ambers Schulter kurz zum Abschied und verließ die große Halle. Zielstrebig schlug sie den Weg zum Gryffindorturm ein, als sie sich kurzfristig um entschied und in Richtung Bibliothek ging. Dort wäre sie wenigstens noch ein wenig ungestört, weil die meisten Schüler gerade beim Abendessen waren. Normalerweise ging sie nach dem Essen mit Severus dorthin, wenn sie den Abend nicht gerade mit ihren Freunden im Gemeinschaftsraum verbrachte. Sie versuchte die Waage zwischen ihren Freundschaften zu halten und niemanden zu vernachlässigen, aber heute war ihr ausnahmsweise einfach danach allein zu sein. An der Bibliothek angekommen öffnete sie leise die Tür und trat fast geräuschlos ein, bevor sie sich kurz umsah und sich für einen Tisch in der Nähe der mittleren Regalreihen entschied. Sie setze sich und sah sich noch einmal um. Außer ihr waren nur noch wenige vereinzelte Schüler hier, die alle in ihre Aufgaben oder Bücher vertieft zu sein schienen. Sie sah niemanden den sie näher kannte und atmete erleichtert auf, bevor sie in ihrer Tasche nach einer leeren Rolle Pergament, ihrem Tintenfass und einer Feder suchte. Als sie fündig geworden war, breitete sie alles vor sich auf dem kleinen Tisch aus und überlegte einen Moment, ob sie die Gelegenheit nutzen sollte, um einen Brief an ihre Eltern zu schreiben. In letzter Zeit kam sie viel zu selten dazu und sie hatte schon ein schlechtes Gewissen, dass sie sich nicht öfter bei ihnen meldete, weil sie so viel andere Dinge im Kopf hatte. Also tauchte sie ihre Feder in das kleine gläserne Tintenfässchen und begann zu schreiben. Sie schrieb zuerst einen kurzen Brief an Petunia, obwohl sie wusste, dass diese den Brief nicht beantworten würde. Wenn sie ihn überhaupt las, dachte sie frustriert, rollte den Brief zusammen, versiegelte ihn und steckte ihn in ihre Tasche. Danach begann sie mit dem Brief an ihre Eltern, der wie immer etwas länger ausfiel, als der an ihre Schwester. Ihre Eltern schrieben ihr immer zügig zurück und freuten sich über jedes noch so kleine Detail, dass sie über das magische Leben ihrer Tochter erfuhren, das so anders war als ihr eigenes. Ganz anders als Petunia waren sie sogar stolz auf Lily und sie war unglaublich froh über diesen Rückhalt, der ihr den Übergang in ihre neue, oft auch beängstigende Welt deutlich erleichtert hatte. Lily machte gerade eine kurze Pause und überlegte, was sie ihren Eltern noch berichten könnte, als ein bekanntes Geräusch ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie blickte neugierig auf und in Richtung Tür, weil es sich so angehört hatte, als hätte jemand die Bibliothek betreten. Im schwachen Schein der Laternen, die überall auf den Tischen standen, konnte sie jedoch niemanden erkennen und sie warf einen kurzen Blick auf die große Standuhr, die in einer der Ecken stand und leise vor sich hin tickte. Es war schon spät und ihr fiel erst jetzt auf, dass die anderen Schüler offensichtlich bereits gegangen waren. Auch für sie wurde es langsam Zeit, weshalb sie sich schnell daran machte, die letzten Sätze auf das Pergament zu bekommen. Erst als sie glaubte einen Schatten gesehen zu haben, der über die Wand gehuscht war, sah sie wieder auf, griff nach ihrem Zauberstab und hielt ihn ein Stück von sich weg. Lumos, flüsterte sie und sofort tauchte ein heller Lichtkegel vor ihr auf. Es war immer noch weit und breit niemand zu sehen, weshalb sie das Licht wieder löschte, eilig noch ein paar Abschiedsworte auf das Pergament kritzelte und schließlich ihre Sachen zusammen packte. Wieso spielte ihr Verstand ihr in letzter Zeit bloß so viele Streiche? Langsam konnte man ja schon von einem ausgewachsenen Verfolgungswahn sprechen, dachte sie missmutig und schloss eilig die Schnallen an ihrer Ledertasche. Seit dem Überfall und dem verstörenden Erlebnis in der Winkelgasse war sie nicht mehr so unbefangen wie früher, als sie sich in den Mauern von Hogwarts immer wohl und sicher gefühlt hatte. Auch wenn sie mittlerweile meistens gut damit zurecht kam, waren die Angriffe auf ihre Person natürlich nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Vor allem weil sie befürchtete, dass dies nur der Anfang gewesen sein könnte, wenn Du-weißt-schon-wer weiterhin so rasant an Macht gewann. Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich keiner ihrer Welten richtig zugehörig. Als Hexe gehörte sie nicht in ihre alte Welt, die Muggelwelt. Jedoch gehörte sie nach Meinung einiger Hexen und Zauberer ebenso wenig in diese. Und die Anzahl der Vertreter dieser Meinung wuchs von Tag zu Tag und täglich überschlugen sich die Meldungen darüber, dass Muggelstämmige bloß wegen eben dieser Abstammung verfolgt, zum Teil gefoltert und umgebracht wurden. Wie immer schüttelte sie diese trüben Gedanken schnell wieder ab, denn es brachte nichts sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Trotzdem beschäftigten sie diese Dinge, vor allem in solchen Situationen wie dieser, in der sie ihre Erlebnisse einholten und sie daran erinnerten, dass sie für viele nur wegen ihrer fehlenden Zaubererabstammung wertlos und verachtenswert war. Mit einem schweren Herzen machte sie sich auf den Weg zur Tür, klammerte unwillkürlich ihre Hand noch fester um ihren Zauberstab und trat nach draußen.
Severus saß vor dem Kamin im Gemeinschaftsraum der Slytherins und starrte gedankenverloren in die lodernden Flammen, die unheilvolle Schatten auf die Kerkergewölbe warfen. Er fühlte sich verloren, obwohl er so voller Liebe war. Wieder einmal versank er in dem düsteren Strudel von Selbstvorwürfen und Selbstzweifeln und badete sich in seinem eigenen Schmerz. Er hatte nichts besseres verdient. Und selbst dieser Schmerz war noch zu gut für ihn, denn er bedeutete zwangsläufig, dass er Liebe erfuhr. Eine Liebe, die er sich durch Lügen erheuchelt hatte, weil er selbst nicht gut genug war. Nicht genug für Lily. Was war er denn schon? Ein armseliger Todesser, dessen Seele für immer verloren war. Wieso sollte jemand wie er die Liebe eines anderen Menschen verdient haben, dachte er und stand ruckartig auf, in einem verzweifelten Versuch so seinem verheerenden Gedankenstrudel zu entkommen. Er wusste, dass es zwecklos war, weil dieser ihn nicht so schnell wieder los lassen würde. Die Dunkelheit war hartnäckig und sie hatte Zeit. Unendlich viel Zeit, weil sie stetig und mit Gewissheit wieder kam, egal was um sie oder einen selbst herum geschah. Nachts schlich sie sich in die Wirklichkeit und vertrieb jedes bisschen Licht, das sie erwischen konnte und löschte es aus. Auch diese Flammen übernahm sie früher oder später, dachte er, während er regungslos vor dem Kamin verharrte und dem Knacken der Holzscheite lauschte, die in der Hitze zerbarsten und dem Feuer schließlich kampflos nachgaben. Wie erbärmlich, dass so etwas starkes wie Holz seine Stärke einfach so aufgab, nur um das Licht ein wenig länger leben zu lassen. Aber das Licht nährte sich wenigstens von den Fasern des Holzes. Anders als Lily es tat, dachte er melancholisch und ging einen Schritt auf die Flammen zu. Lily brauchte ihn nicht um zu scheinen. Er opferte sein eigenes Leben bloß wegen einer reinen Sentimentalität. Das war ihm mehr als bewusst, und er dachte oft darüber nach. Seine Schwäche für Lily würde ihn eines Tages umbringen, das wusste er, aber das war es Wert. Lilys Leben war der Verlust jedes anderen Lebens auf dieser Welt Wert. Erst Recht seines. Mit einem letzten schweifenden Blick durch den Gemeinschaftsraum verließ er diesen und ging in seinen Schlafsaal hinüber. In dem Wissen, dass er vermutlich nur schwer in den Schlaf finden würde, machte er sich für die Nacht bereit und stieg in sein Bett. Es fröstelte ihn, obwohl der kleine Ofen in der Mitte des Raumes angefacht war. Er zog seine Decke enger um seinen Körper, bevor er sich zur Seite drehte und seine Augen schloss. Wie jeden Abend sah er Lily vor sich. Und wie jeden Abend wünschte er sich mehr als alles andere, dass sie jetzt bei ihm sein könnte, um ihn zu wärmen.
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Lily und Severus - Der Kampf zwischen Schatten und Licht
FanfictionDie Geschichte einer Liebe, die in einem Kampf zwischen Schatten und Licht ausgetragen wird. In einem stetigen Kampf zwischen den verschiedensten Gefühlen, Ängsten und Sorgen, müssen Lily und Severus Entscheidungen treffen, die ihr Leben für immer v...