Kapitel 93 - Flucht aus der Nokturngasse

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Lily fiel rücklings in die Tiefe. Ihren Blick würde Severus nie wieder vergessen und er wusste, dass er ihn in seinen schlimmsten Alpträumen immer und immer wieder verfolgen würde. Ihr blasses Gesicht, der immer noch flehende Gesichtsausdruck während ihre Augen traurig und wissend zu ihm herauf sahen. Sie schien in keiner Weise überrascht darüber zu sein, von ihm aus einem Fenster im vierten Stock gestoßen zu werden, und diese Erkenntnis erschütterte ihn zutiefst. Wenn selbst Lily so schlecht von ihm dachte, war er wirklich verloren, denn dann würde ihn nichts mehr retten. Mit zitternden Händen zielte er mit seinem Zauberstab auf Lily, die ihre Augen jetzt geschlossen hatte. „Arresto Momentum" Flüsterte er leise und beobachtete angespannt, wie Lily kurz vor dem Aufprall zum stoppen kam. Genau in diesem Augenblick stürmten die Todesser, die sie bis hierher verfolgt hatten in den großen Raum und Snape reagierte unmittelbar und ohne weiter darüber nachzudenken. Er musste etwas tun um die anderen abzulenken und gleichzeitig zu täuschen. „Stupor" Brüllte Snape und zielte erneut in Lilys Richtung.

Sie fiel und verspürte plötzlich keine Angst mehr. Gleich würde alles vorbei sein, dachte sie resigniert und bereitete sich innerlich auf den Aufprall vor. Sie schloss die Augen und hatte das Gefühl, dass ihr freier Fall niemals enden würde, bis sie plötzlich etwas abbremste. Erschrocken riss sie die Augen auf und plumpste unsanft die letzten Zentimeter auf das harte Kopfsteinpflaster der Nokturngasse. Sie keuchte auf und tastete ungläubig mit den Händen erst den Boden, und dann ihren Körper ab. Ihr war nichts geschehen, irgendetwas musste ihren Sturz abgefedert haben. Blinzelnd sah sie nach oben zum Fenster, an dem Severus immer noch mit erhobenen Zauberstab stand. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, hörte jedoch wie er jetzt einen Schockzauber auf sie feuerte, der sie nur knapp verfehlte. Entsetzt robbte sie ein Stück zur Seite, rappelte sich hektisch auf und stolperte davon. Kurz suchte sie nach ihrem Zauberstab, der, wie sie erleichtert feststellte, sicher und unversehrt in der Tasche ihres Umhangs steckte. Dann wandte sich in Richtung Winkelgasse und rannte los. Je näher sie ihr kam, desto deutlicher spürte sie wieder die grausamen Gefühle, die die Dementoren auch vorhin schon in ihr ausgelöst hatten. Dazu kamen nun auch noch unerträglichen Seitenstiche, die sie genau wie ihre brennenden Oberschenkel aufgrund des ganzen Laufens plagten. Sie blieb stehen um kurz durchzuatmen, während sie sich die Fäuste kräftig in die Seiten presste und fieberhaft nachdachte. Sie könnte einfach disapparieren, überlegte sie und versuchte es. Doch es schlug fehl. Leise fluchend und ungeachtet ihrer schmerzenden Rippen lief sie weiter, bis sie endlich die Winkelgasse erreichte und dort Richtung tropfenden Kessel abbog. Die klamme Kälte umschloss ihren Körper und es fiel ihr immer schwerer voran zu kommen. Sie blieb erneut stehen. Machte es noch Sinn fort zu laufen? Wofür sollte sie leben? Severus hatte sie verraten und mehrere Todesser waren aus irgendeinem Grund, den sie nicht kannte, hinter ihr her. Vielleicht sollte sie doch aufgeben, dachte sie niedergeschlagen und spürte plötzlich ganz deutlich den Schmerz in ihrem Herzen, den sie letztes Jahr nach dem Streit mit Severus gefühlt hatte. Unfähig sich zu bewegen starrte sie in den Nebel. Für Severus war sie ein Schlammblut, das hatte er ihr damals gesagt und offensichtlich auch so gemeint. Sie konnte sich nicht mehr gegen die dunklen Gedanken in ihr wehren und gab sich ihrer Trauer vollkommen hin. Sie spürte wie ihre Beine zu zittern begannen und wusste, dass sie es aus eigener Kraft nicht weiter schaffen würde. Auf einmal riss sie etwas am Arm, zerrte sie in einen Hauseingang und presste ihr fest eine Hand auf den Mund. Erstickt schrie sie auf und sah erschrocken in ein wage bekanntes Gesicht, das nur weniger Zentimeter von ihrem entfernt war. „Still, Mädchen. Ich tue dir nichts." Raunte der Mann, den sie jetzt als Florean Fortescue erkannte, ihr zu und sah sich vorsichtig um, bevor er sich wieder Lily zu wandte. „Bist du ruhig, wenn ich dich los lasse?" Fragte er leise, woraufhin Lily schnell nickte und Fortescue seine Hand von ihrem Mund nahm. „Wir müssen hier weg." Sagte er ernst, aber Lily schüttelte protestierend den Kopf. Der Schreck hatte sie aus ihrer Starre befreit und ihre Gedanken wurden wieder etwas klarer. „Ich muss meine Freundin finden." Erklärte Lily dem Besitzer des Eissalons, der sie stirnrunzelnd musterte. „Hier ist niemand mehr. Alle die bei gesundem Verstand sind, sind bereits vor Stunden geflohen. Ich schätze auch deine Freundin." Wieder sah Fortsecue sich nervös um und zog erneut an Lilys Arm, um sie zum weiterlaufen zu bewegen. Unsanft schüttelte sie ihn ab und funkelte ihn wütend an. „Sie verstehen nicht! Amber ist hier irgendwo. Wir waren verabredet." Sagte sie mit etwas zu lauter Stimme, in der man deutlich ihre Verzweiflung mitschwingen hörte. Fortescue seufzte ungeduldig. „Amber? Das Mädchen mit dem du immer zum Eis essen kommst? Amber Prewett?" Fragte er und Lily nickte hastig. „Die habe ich hier heute nicht gesehen." Sagte er und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Außerdem gehört die Familie deiner Freundin zu den unantastbaren achtundzwanzig. Ihr wird nichts geschehen, auch wenn sie noch irgendwo hier sein sollte. Das verspreche ich dir." Versuchte er sie zu besänftigen, aber sie war immer noch nicht recht überzeugt. „Mr. Fortescue, was ist wenn sie sie nicht als Reinblüterin erkennen?" Fragte sie verzweifelt. „Sie ist ein kluges Mädchen, sie wird es ihnen schon erklären und in Ruhe gelassen werden." Antwortete er und warf einen kurzen Blick über seine Schulter. „Dich scheinen sie jedoch zu verfolgen." Bemerkte er und blickte ihr jetzt direkt in die Augen. „Uns werden sie also beide umbringen wenn sie uns finden!" Fügte er ungeduldig hinzu und Lily erwiderte unsicher seinen Blick. Vielleicht hatte er Recht, überlegte sie als Fortescue wieder zu sprechen begann. „Hier über uns..." Er zeigte mit seinem Zauberstab in den Himmel. „... sind hunderte Dementoren. Die Todesser haben die Winkelgasse mit Schutzzaubern belegt, die das Apparieren und Disapparieren verhindern und es schleichen mehrere Gruppen von Todessern hier herum und verschleppen jeden, der sich ihnen in den Weg stellt, oder der ihnen von Nutzen ist. Einer Unantastbaren werden sie nichts tun, denn jede reinblütige Hexe und jeder reinblütige Zauberer ist von zu großem Wert für Du-weißt-schon-wen." Flüsterte er aufgeregt. „Außerdem bin ich mir wirklich sicher, deine Freundin hier heute nicht gesehen zu haben." Fügte er jetzt etwas drängender hinzu und Lily nickte deprimiert, während sie sich schließlich von ihm mitreißen ließ. Er schlug die entgegengesetzte Richtung ein, was Lily so sehr überraschte, dass sie kurz ins Stocken geriet. „Wäre es nicht am besten durch den tropfenden Kessel zu verschwinden?" Wisperte sie Fortescue zu, der mürrisch den Kopf schüttelte. „Habe gehört die haben Tom den Imperius auf den Hals gejagt. Wir können dort nicht raus. Ich kenne aber einen anderen Weg." Erklärte er knapp und eilte weiter. „Wieso sind Sie noch hier?" Flüsterte Lily und machte es ihm nach, als er sich jetzt in den nächsten Hauseingang drückte. Er lauschte angestrengt in die Stille hinein, bevor er, dicht gefolgt von Lily, weiter ging und in eine winzige Gasse zwischen zwei Häusern einbog. „Wurde von denen mitten auf der Winkelgasse überrascht und musste mich verstecken. Das Ministerium ist vermutlich informiert und wird hier mit ihrem gesamten Auroren-Team auftauchen. Da wir aber nicht wissen wann das geschehen wird, machen wir uns besser sofort aus dem Staub." Brummte er und bugsierte sie zu einer kleinen Nebentür in einem der Häuser. „Hintereingang meiner Eisdiele." Erklärte er murmelnd, schloss die Tür mit seinem Zauberstab auf und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken einzutreten. Nacheinander schlüpften sie durch die Tür, die Fortescue direkt danach wieder sorgfältig mit einigen ihr unbekannten Schutzzaubern verschloss. „Was wollen die hier?" Fragte Lily ängstlich und folgte Fortescue durch eine Art Hinterzimmer des Eissalons, der zu einer Treppe nach oben führte. Fortescue warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu und seufzte, während sie die Stufen in das obere Stockwerk hinauf stiegen. „Angst verbreiten. Ein paar unliebsame Zauberer und Hexen aufgreifen. Ihre Macht demonstrieren. Such dir was aus, Mädchen." Erklärte Fortescue angespannt und blieb oben vor einem steinernen Kamin in einem kleinen Wohnraum stehen. „Hör genau zu." Sagte er zu Lily gewandt und deutete mit einem Kopfnicken auf den Kamin. „Gleich muss alles ganz schnell gehen. Wir wissen nicht ob die Todesser das Flohnetzwerk überwachen. Es könnte sein, dass sie Spitzel im Ministerium haben. Vielleicht haben wir nur einen Versuch, bevor sie uns bemerken." Erklärte er schnell und sah Lily dabei eindringlich in die Augen. „Du wirst zuerst in den Kamin steigen und zum Eberkopf in Hogsmeade reisen. Hast du verstanden?" Fragte er mit Nachdruck in der Stimme und wartete auf Lilys Antwort. „Aber was ist mit Ihnen, wir könnten..." Begann Lily, doch Fortescue fiel ihr direkt ins Wort. „Tu einfach was ich sage, Mädchen. Reise zum Eberkopf und wende dich an den Wirt. Er wird dafür sorgen, dass du sicher nach Hogwarts kommst." Erklärte er und entzündete mit seinem Zauberstab ein loderndes Feuer im Kamin. Wie angewurzelt stand Lily da und blickte ängstlich zwischen Fortescue und dem Feuer hin und her, bevor sie sich durchrang eine Prise Flohpulver in die Flammen zu werfen und in den Kamin zu steigen. Noch einmal sah sie fragend zu Fortescue, der ihr mit einer wedelnden Handbewegung bedeutete, sich zu beeilen. „Zum Eberkopf, Hogsmeade." Sprach Lily mit heiserer Stimme und Fortescues Gesicht verschwand vor ihren Augen. Sie flog an unzähligen Kaminen vorbei, bis sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich am richtigen angelangt war und ausstieg. Unsanft fiel sie aus dem Kamin und prallte heftig auf dem harten Dielenboden des schäbigen Pubs auf. Unmengen an Asche flogen umher und sie begann heftig zu husten, während sie mühsam versuchte sich aufzurichten. Sie fühlte sich erschöpft und ausgelaugt und ihre Kehle brannte förmlich vor Durst. Suchend blickte sie sich in dem menschenleeren Raum um. War sie wirklich im Eberkopf gelandet? Es sah hier nicht aus wie in einem Pub, eher wie in einem Wohnzimmer, dachte sie verwirrt und klopfte sich den Staub aus ihrem Umhang, als plötzlich krachend eine Tür aufgeschlagen wurde. Eine große, hagere Gestalt kam mit schnellen Schritten durch den Raum auf sie zu gelaufen und packte sie unsanft am Arm. Lily wich erschrocken zurück und blickte in ein Gesicht, das ihr auf eine seltsame Art bekannt vor kam. Der Mann hatte langes graues Haar und einen ebenso grauen Bart, der ihm bis zu dem abgewetzten Gürtel seines Umhangs reichte. Die Brille auf seiner langen Hakennase war dreckig und man konnte die Augen dahinter nur schemenhaft erkennen. „Wer bist du und was machst du hier?" Fragte er barsch und Lily zuckte unwillkürlich zusammen. „Ich... ich..." Stotterte sie und versuchte zu erklären, warum sie einfach so hier aufgetaucht war. „Ich bin Lily Evans. Mr. Fortescue hat mich geschickt. Er wollte, dass ich hier her komme." Erklärte sie mit erstickter Stimme und beobachtete den Mann nervös, der mittlerweile ihren Arm losgelassen hatte, sie jedoch immer noch wütend anstarrte. „Wieso sollte dich ein Eisverkäufer über das Flohnetz hierher schicken?" Fragte er ungehalten und Lily rieb sich müde die Schläfen. Sie holte tief Luft, bevor sie in knappen Worten umriss, was in der Winkelgasse geschehen war. Langsam veränderte sich die Miene des Mannes und das unverhohlene Misstrauen seinem Eindringling gegenüber wich einem abschätzenden Mustern, und er runzelte fragend die Stirn. „Fortescue meinte, dass ich von hier sicher nach Hogwarts kommen würde." Schloss Lily ihre Erzählung ab und wartete auf die Reaktion des Wirts. Aber dieser schnaufte bloß verächtlich und ging zurück zur Tür. „Ich sage in Hogwarts Bescheid." Brummte er noch, bevor er verschwand und Lily alleine in dem großen Raum zurück blieb.

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Ein kurzes Nachwort zu diesem Kapitel:

Die eingefleischten Potterheads unter euch wissen vielleicht, dass Florean Fortescue zu Beginn des zweiten Zaubererkrieges, also kurz nachdem Voldemort zurück gekehrt war und mit seinen Anhängern wieder begonnen hatte öffentlich anzugreifen, von den Todessern überfallen verschleppt wurde. In den Büchern wurde nie aufgelöst, was genau mit ihm geschehen ist. J.K. Rowling hat jedoch in einem Interview (Pottercast mit Rowling im Dezember 2007) aufgelöst, dass er etwas mit dem Elderstab zu tun hatte und deswegen von Voldemort und seinen Todessern umgebracht wurde. Ich persönlich finde schade, dass es die Geschichte und deren Auflösung nicht in die Bücher geschafft haben und habe deshalb überlegt, mir mit diesem Kapitel eine Hintertür offen zu lassen, die Geschichte irgendwann in meine Fanfiction mit einzubauen. Aber das steht noch ein bisschen in den Sternen und kommt darauf an, ob sie sich logisch einbauen lässt.

Lily und Severus - Der Kampf zwischen Schatten und LichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt