Kapitel 101 - Rubinrot

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„Lily im Ernst, ich weiß nicht in welchem Fach ich sonst die Abschlussprüfung machen soll." Erklärte Amber fast panisch und gestikulierte wild während sie sprach. „Amber beruhige dich." Sagte Lily sanft. „Du hast doch noch vier andere Hauptfächer. Selbst wenn Wahrsagen wegfällt, reicht das doch." Amber starrte sie mit finsterer Miene an. „Natürlich reicht das. Vorausgesetzt ich verhaue keines der anderen Fächer! Wahrsagen wäre einfach das perfekte Ausgleichsfach." Jammerte Amber weiter. Sie lag ausgestreckt auf ihrem Bett und griff nach ihrem Kissen, was sie sich jetzt verzweifelt auf das Gesicht presste. Lily konnte ein Lachen nicht unterdrücken und erntete zugleich einen weiteren finsteren Blick. Amber hatte schon immer einen Hang zur Dramatik und Lily war sich manchmal nicht sicher, ob Amber wirklich so verzweifelt war, oder ob sie sich ein wenig zu sehr in manche Sachen hineinsteigerte. Ambers Noten waren gut, und sie hatte eigentlich keinen Grund zur Sorge in ihren anderen Hauptfächern durchzufallen. Und auch für ihren Berufswunsch als Verteidigerin im Zaubergamot war das Fach Wahrsagen eher unbedeutend. Lily konnte Ambers sorgen natürlich nachvollziehen, aber genau wie ihre Freundin ging sie insgeheim davon aus, dass Dumbledore nicht so schnell einen Ersatz für Professor Praevid finden würde, welche mitten im Schuljahr und ganz unerwartet in den Ruhestand gegangen war. Lily seufzte leise, wartete aber geduldig bis Amber unter ihrem Kissen hervorlugte, bevor sie wieder etwas sagte. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass du kein Ausgleichsfach benötigst." Amber verzog nur das Gesicht zu einer zweifelnden Grimasse. „Pass auf." Begann Lily von Neuem. „Wir stellen beide eine Liste mit Themen aus unseren Hauptfächern zusammen, in denen wir uns unsicher fühlen, und dann werden wir diese Themen zusammen erarbeiten. Ich bin mir sicher, dass wir uns gut ergänzen." Sagte Lily lächelnd und musterte Amber, die sich nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen ihr Kinn tippte, während sie ausgiebig über Lilys Vorschlag nachdachte. Nach einer Weile blickte Amber zu Lily und ein Strahlen erhellte ihr Gesicht. „Lily Evans, das ist eine grandiose Idee. Und sie könnte sogar funktionieren." Fügte sie spitzbübisch hinzu, was Lily erneut zum Lachen brachte. „Na siehst du. Alles halb so wild." Sagte Lily grinsend und stand auf. „Musst du dich schon fertig machen?" Fragte Amber stirnrunzelnd und setzte sich an die Kante ihres Bettes. „Ja. Das Treffen beginnt in einer halben Stunde." Amber seufzte. „Es war so schön ohne dieses Slugclub-Ding." Sinnierte sie und stand ebenfalls auf. „Dann werde ich mal zu den Jungs nach unten gehen." Sagte sie fröhlich und war im nächsten Moment auch schon aus dem Schlafsaal und die Treppen nach unten gestürmt. Lily schüttelte lächelnd den Kopf. Amber war zum Glück nie lange unglücklich oder betrübt, dachte sie und ein undefinierbares Gefühl stieg plötzlich in ihr auf. Sie konnte nicht sagen warum, vielleicht weil sie auch an Severus denken musste, den sie gleich treffen würde, aber ein beunruhigender Gedanke drängte sich in ihren Geist. Sie setzte sich auf ihr Bett und dachte nach. Amber hatte mittlerweile den Tod ihres Vaters und ihres Onkels einigermaßen überwunden. Sie hatte zumindest ihren Weg gefunden, nicht in ihrer Trauer zu versinken und nach vorne zu sehen. Aber wie würde Amber es sehen, wenn Severus wirklich etwas mit Todessern zu tun hatte? Selbst wenn er sich von ihnen abwenden würde. Ungeduldig schob Lily diese Überlegung wieder beiseite, die zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Relevanz hatte. Severus sprach noch nicht mal mit ihr, dachte sie frustriert, war aber trotzdem froh, sich Amber noch nicht anvertraut zu haben. Sie selbst wusste ja noch nicht einmal, ob sie Severus verzeihen könnte, wie sollte sie das von ihrer Freundin erwarten? Gedankenverloren zog sie eines ihrer Kleider aus dem Koffer und schlüpfte hinein.

Indessen saß Severus Snape auf seinem Bett in einem der Slytherin Schlafsäle und wartete nervös darauf, dass die Zeit verging. Er wollte auf gar keinen Fall als erster bei Slughorns Treffen erscheinen, aber dennoch früh genug dort sein, um noch einen Platz in Lilys Nähe ergattern zu können. Bei dem Gedanken an Lily biss er sich auf die Lippe. War es wirklich die richtige Entscheidung wieder auf sie zuzugehen? Er zweifelte immer noch, hatte Stunden über Stunden wach gelegen und über nichts anderes nachgedacht. Severus wusste, dass es eine dumme Idee war, aber er wusste auch, dass er es nicht ertrug, wenn Lily sich mit Potter traf und er selbst in ihrem Leben keine Rolle mehr spielte. Auch war ihm bewusst, dass dieser Beweggrund mehr als egoistisch war und er haderte mit seiner Schwäche. Vermutlich verleiteten ihn auch die sicheren Mauern von Hogwarts ein wenig zu sehr dazu, die Gefahren seiner Liebe zu Lily zu vergessen oder erfolgreich zu verdrängen. Hier im Schloss mit seinen mächtigen Abwehrzaubern, fühlten sich Du-weißt-schon-wer und seine düsteren Machenschaften  so unendlich fern und völlig surreal an. Vor allem weil Malfoy seit diesem Jahr nicht mehr hier war um ihn ständig an seine Loyalität dem dunklen Lord gegenüber zu erinnern. Was wohl ebenfalls seinen Teil dazu beitrug, dass seine Erinnerungen an Voldemorts Grausamkeit immer mehr verblassten und seine Gefühle für Lily langsam und schleichend wieder die Oberhand gewannen. Severus schloss die Augen, rieb sich mit beiden Händen durch sein Gesicht und atmete tief ein und aus, bis er sich bereit fühlte. Er stand auf, strich seinen Umhang zurecht und machte sich auf den Weg.

Lily saß bereits an dem großen runden Tisch in der Mitte des Raumes und unterhielt sich mit Sophie und Regulus, die beide links von ihr saßen. Regulus, der außen saß, beugte sich mit seinem Oberkörper ein wenig über die Tischplatte, um sich mit beiden Mädchen gleichzeitig unterhalten zu können. Seine lebhaften Erzählungen über Peeves letzten Streich zogen Lily so sehr in seinen Bann, dass sie überhaupt nicht bemerkte wie sich jemand neben sie setzte. Erst als Regulus seine Geschichte beendet hatte und sie lachend zu ihrem Wasserglas griff, sah sie ihn in ihrem Augenwinkel. Severus. Ihr stockte der Atem. Langsam drehte sie sich zu ihm um und sah ihn mit großen Augen an. Sie hatte natürlich damit gerechnet, dass er kommen würde, da er Professor Slughorn schließlich selbst auf die Treffen angesprochen hatte. Aber dass er sich jetzt direkt neben sie setzte, überrascht sie so sehr, dass sie einen Moment nicht wusste was sie sagen oder wie sie sich verhalten sollte. „Hey." Hauchte sie und spürte die Hitze in ihren Wangen aufsteigen. „Hey." Murmelte Severus und verzog die Mundwinkel zu einem zaghaften Lächeln. Lily erwiderte sein Lächeln und sie blickten sich in die Augen, jeder von ihnen auf der Suche nach Antworten und unfähig den Blick von dem anderen abzuwenden. Erst als Slughorn sie alle fröhlich begrüßte und das Abendessen mit einem ausladenden Schlenker seines Zauberstabs auf dem elegant eingedeckten Tisch erscheinen ließ, rissen sie sich unwillig voneinander los. Trotz der wunderbar duftenden Speisen verspürte Lily keinen Appetit. Sie kämpfte zu sehr mit ihren Gefühlen und versuchte zu verstehen, was geschehen war. Suchte Severus bewusst ihre Nähe? Oder war es Zufall? Unauffällig sah sie zu ihm hinüber und beobachtete, wie er mit ausdrucksloser Miene einer Geschichte von Slughorn lauschte, von der sie selbst kein einziges Wort mitbekam. Severus schien ihren Blick zu spüren und sah zu ihr. Sie errötete, wandte schnell den Blick ab und griff zu ihrem Wasserglas. Sie musterte es angestrengt um nicht wieder zu Severus zu sehen. Das bauchige Kristallglas glitzerte im Kerzenschein, der sein Licht in den feinen Mustern brach und das ganze Glas dadurch in einem warmen Gelbton erstrahlen ließ. Lily bewunderte das Lichtspiel der hundert kleinen Flammen in dem Kristallschliff, hob das Glas langsam zu ihrem Mund und spürte mit Erleichterung, dass die Schwere des Glases das Zittern ihrer Hand etwas abmilderte. In der leisen Hoffnung sich wieder gefasst zu haben, stellte sie das Glas behutsam wieder auf den Tisch. Sie war immer noch zu nervös um einen klaren Gedanken fassen zu können und überlegte, dass sie vermutlich einfach etwas anderes zu trinken brauchte. Entschlossen griff sie zu der Birnenförmigen Karaffe, die mit einer rubinroten Flüssigkeit gefüllt war und keine Armeslänge von ihr entfernt stand. Doch sie war offenbar nicht die einzige, der der Sinn nach einem Glas Rotwein stand. Severus griff im selben Moment nach der Karaffe wie sie, und für die Länge eines Wimpernschlags berührten sich ihre Hände. Keiner von beiden zog seine Hand zurück, auch wenn sich die Berührung anfühlte wie tausend kleine Stromschläge, die durch ihren ganzen Körper zuckten. Lily drehte den Kopf zu Severus und entdeckte die gleiche Überraschung in seinem Gesichtsausdruck, die auch sie verspürte. Sie musste lächeln, und auch Severus lächelte. Wenn auch sehr zaghaft und für jemand anderen wohl kaum merklich, kannte sie ihn gut genug um es trotzdem zu bemerken und ihr Herz machte einen Sprung. Ohne etwas zu sagen hob Severus die Karaffe und schenkte etwas in ihr Weinglas ein, bevor er sein eigenes Glas füllte. „Danke." Flüsterte Lily und Severus betrachtete sie kurz. „Gerne." Antwortete er leise und Lily nahm einen großen Schluck von dem Wein, der mit seinem beerigen Geschmack samtig weich ihre Kehle umschmeichelte und zugleich ihre flatternden Nerven etwas beruhigte.

Lily und Severus - Der Kampf zwischen Schatten und LichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt