Folge 4 - Teil 4: „Lilly, du hast eine große Schwester..."

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Inzwischen hatte, gute 350 Kilometer von Leipzig entfernt, auch Markus, Lauras leiblicher Vater, endlich Feierabend und holte gerade seine knapp sechsjährige Tochter Lilly von seinem Bruder, der die Kleine aus der Kita geholt hatte, ab.
„Papa...", freute sich das Mädchen und sprang ihrem Vater freudig in die Arme. „Hallo Papa... Du bist endlich da. ... Ich hab heute schon für meine Schuleinführung eine Einladung gebastelt... Für Mama..."
„Ach, Lilly. Du weißt doch, dass Mama zu deiner Schuleinführung wahrscheinlich nicht kommen wird. Sie hat auf Arbeit einfach sehr viel zu tun...", erzählte Markus seiner kleinen Tochter und überlegte.

Sollte er Lilly jetzt gleich von ihrer großen Schwester erzählen?

„Lilly, ich... Ich muss dir noch etwas erzählen... Weißt du, Süße. Ich bekomme morgen Besuch von einer alten Freundin... Wir haben zusammen gelernt... Und... Und übermorgen muss ich mit der alten Freundin wegfahren. Aber ich habe schon mit Tante Soraya gesprochen, sie nimmt dich mit zu sich, bis ich wieder für dich Zeit habe."

„Darf ich denn nicht mitkommen?", fragte das fünfjährige Mädchen enttäuscht und ihr Vater schüttelte den Kopf. „Nein, Lilly. Du kannst leider nicht mitkommen, Süße. Weißt du, ich muss... mit meiner alten Freundin etwas ganz wichtiges klären. ... Und da würdest du... dich langweilen."

„Hast du dich wohl jetzt endlich dafür entschieden, nach Leipzig zu fahren und deine Tochter zu besuchen?", erkannte Markus' Bruder und der nickte. „Ja, habe ich. Lea wird mich nicht umsonst angerufen haben... Und dass sie sich extra morgen auf den Weg hierher nach Hamburg macht... Das zeigt doch auch, dass es ihr wichtig ist, dass ich mich um Laura kümmere...", raunte Markus seinem Bruder zu.

„Wer ist Laura?", fragte Lilly, die vor ihrem Vater stand. „Bekomme ich bald eine neue Mama? Hast du meine Mama denn nicht mehr lieb?"
„Doch, natürlich habe ich deine Mama noch lieb. ... Aber... Weißt du, Lilly. Diese alte Freundin und ich... Wir beide haben... eine gemeinsame Tochter. Du hast sozusagen eine große Schwester."
„Ich hab eine Schwester?!" Die Freude in den Augen des kleinen Mädchens schien zu steigen und Markus nickte. „Ja, du... Du hast eine Schwester. Eine große Schwester; Laura ist schon 16 Jahre alt."

„Darf ich meine große Schwester denn mal besuchen? Oder bringst du sie mit?" „Lilly, das... Das ist eher schwierig. Laura ist im Krankenhaus; es geht ihr nicht gut..."

„Warum geht es meiner großen Schwester denn nicht gut, Papa? Da musst du ihr doch helfen... Du bist doch auch Doktor!", erhob das Mädchen ihre Stimme und Markus lächelte kurz. „Mach dir keine Sorgen; ich werde natürlich deiner großen Schwester auch helfen, wenn ich bei ihr bin. Aber die Kollegen in Leipzig, wo deine große Schwester wohnt, werden sich schon um Laura kümmern. Da brauch ich nichts machen."
„Aber... Dann musst du doch gar nicht zu meiner großen Schwester fahren. Wenn sich ein anderer Doktor schon um meine große Schwester kümmert...", wusste Lilly und sie stellte sich mit verschränkten Armen vor ihren Vater.
Markus nahm seine kleine Tochter in den Arm und versuchte ihr zu erklären: „Doch, meine kleine Maus... Ich muss zu deiner großen Schwester fahren. ... Weißt du, Liebling. Die Mama von deiner großen Schwester hat mir gesagt, dass deine Schwester... ganz schlimm krank ist. Und deswegen muss ich sofort zu Laura fahren und ihr helfen."

„Was hat meine große Schwester denn?", wollte Lilly wissen, worauf ihr Vater wahrheitsgemäß antworten konnte, dass er selbst noch nicht wusste, was Laura fehlte. „Aber ich werde mir deine große Schwester gleich anschauen, wenn ich bei ihr bin. Und dann weiß ich ganz schnell, was ihr fehlt. Wenn mir das ihre Mama nicht schon morgen sagt, wenn sie hier ist..."
„Ich finde das blöd, dass ich nicht mitfahren darf. Ich möchte meine große Schwester auch besuchen...", motzte Lilly und verschränkte ihre Arme noch einmal vor ihrer Brust. „Ich will meine große Schwester im Krankenhaus besuchen... Ich will zu meiner großen Schwester..."
„Das kannst du bestimmt auch bald.", mischte sich der Bruder von Lillys Vater ein und erinnerte Lilly daran, dass sie doch so gerne mit dem Sohn von Markus' Kollegin spielte. „Was hältst du denn davon, wenn wir am Montag zusammen mit deinem kleinen Freund in den Zoo fahren? Da waren wir schon eine ganz lange Zeit nicht mehr zusammen..."

Lilly allerdings schien von der Idee ihres Onkels nicht begeistert zu sein und mit immer noch verschränkten Armen blieb sie bockig vor ihrem Vater stehen. „Du hast mich doch gar nicht mehr lieb, Papa. Ich möchte zu meiner großen Schwester ins Krankenhaus... Sie freut sich doch, wenn ich sie besuche."
„Das wird aber leider nicht gehen, dass du deine große Schwester schon diese Woche im Krankenhaus besuchst... Es geht ihr momentan gar nicht gut.", erklärte Markus seiner Tochter, als er ihr die Jacke vom Garderobenhaken reichte und die Fünfjährige bat: „Ziehst du jetzt bitte deine Jacke an, Süße. Wir wollen jetzt nach Hause fahren. Ich muss auch noch eine ganze Menge für den Besuch morgen vorbereiten. ... Du kannst ja in der Zwischenzeit, wenn ich mich um unser Zuhause kümmere, für deine große Schwester ein Bild malen. Da freut sie sich bestimmt sehr drüber. Und wenn es deiner großen Schwester wieder besser geht, dann kannst du sie auch besuchen..."

„Ooch, Papa... Ich will aber schon morgen zu meiner großen Schwester. Sie freut sich doch ganz bestimmt, wenn ich bei ihr bin...", nörgelte Lilly. „Dann geht es ihr wieder gut..."
„Ihr wird es auch gut gehen, wenn du sie nicht besuchst, Lilly. ... Komm jetzt, wir haben noch eine ganze Menge vorzubereiten. Gut, dass ich morgen frei habe.", erkannte Markus, während sich seine Tochter endlich ihre Jacke anzog. „Ich verspreche dir, wenn ich bei deiner großen Schwester bin, dann grüße ich sie ganz lieb von dir und erzähle ihr, dass du sie gerne besuchen würdest. Aber wenn ich die Mama von deiner großen Schwester richtig verstanden habe, dann... Dann braucht deine Schwester ganz viel Ruhe. Es geht ihr gerade gar nicht gut..."



Am nächsten Tag hatte Lea schon sehr früh die Sachsenklinik erreicht und traf vor dem Eingang des Krankenhauses auf den Klinikchef.
„Guten Morgen, Dr. Heilmann.", rief Lea ihrem Chef zu, als sie noch gut gelaunt die Klinik betrat und Roland am Empfang traf.
„Ah, Frau Dr. Peters... Schön, dass sie da sind.", grüßte Roland die Ärztin freundlich und während die Schwester am Empfang der Ärztin ihre Post gab, erkundigte sich Lea bei ihrem Chef nach ihrer Tochter. „Wie geht es Laura?"
„Bisher habe ich noch nicht mit Dr. Brentano gesprochen; er hatte heute Nachtdienst. Aber ich denke, es geht ihr ganz gut. ... Aber sie können Dr. Brentano ja gleich selbst fragen, wie es Laura geht...", deutete Roland auf den sich nähernden Philipp.

„Dr. Brentano... Wie geht es meiner Tochter?", wandte sich Lea sofort an den Kollegen und Philipp räusperte sich kurz, bevor er antwortete: „Es geht Laura nicht besonders gut, Lea. Wir haben heute Nacht häufig nach ihr geschaut... Aber du wirst bestimmt sowieso gleich zu ihr wollen."

„Woher du das schon wieder so genau weißt, Philipp..." Lea nahm den erstbesten Weg zu ihrer Tochter und erreichte schon drei Minuten später in vollem ITS-Outfit das Zimmer der Sechzehnjährigen, die noch immer intubiert auf der Intensivstation lag.

„Hallo, mein Liebling... Guten Morgen. Wie geht es dir denn?" Um zu prüfen, ob ihre Tochter wieder einmal Fieber hatte, legte Lea ihre Hand auf Lauras Stirn und schüttelte erfreut den Kopf. „Dein Fieber ist endlich wieder runter. ... Süße, du hast mir ganz schöne Angst gemacht, als es dir so schlecht ging. Weißt du das? ... Natürlich weißt du das, mein kleines Baby..."

„Dr. Peters..." Dr. Koshka, die ebenfalls einen grünen Intensivkittel trug und die Krankenakte von Laura in der Hand hielt, wandte sich mit einem besorgten Blick an die beunruhigte Mutter der Schülerin: „Wie geht es ihnen denn heute Morgen?"
„Gut, danke. Aber... Deswegen sind sie ja nicht hier, Dr. Koshka. ... Haben sie endlich herausgefunden, warum es Laura in den letzten Tagen so schlecht ging?"

Lea tat es in der Seele weh, dass sie, trotz der Tatsache, dass sie selbst Medizinerin war, nichts für Laura tun konnte – außer abzuwarten, bis man eine Diagnose gestellt hatte.

„Wir haben Dr. Ahrend einmal damit beauftragt, Laura gründlich zu untersuchen. ... Ihre Tochter hatte eine Entzündung an der Gebärmutter, die sie verschleppt hatte... Vermutlich noch durch die Geburt ihres Säuglings. Aber Dr. Ahrend ist guter Dinge, er denkt, dass wir die Entzündung restlos in den Griff bekommen, ohne Laura die Möglichkeit einer erneuten Schwangerschaft zu geben."
„Das heißt... Laura hatte wohl schon weit vor ihrem Zusammenbruch hier... Schmerzen und ist damit einfach nicht zum Arzt gegangen? Dann hatte der Unfall von Lauras Adoptivschwester Maja doch etwas Gutes... Sonst wäre wohl alles etwas Schlimmer ausgegangen..."
„Vermutlich wäre Laura trotzdem zusammengebrochen; allerdings nicht im Krankenhaus, sondern auf der Straße. ... Aber sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, Dr. Ahrend hat Laura auf ein sehr schnell wirkendes Antibiotikum eingestellt und dann sollte in ein paar Wochen der Beginn der Chemotherapie möglich sein. ... Sie können beruhigt sein, ihre Tochter wird wieder vollständig gesund..."
„Danke, Dr. Koshka. ... Laura... Laura, mein Engel. Hast du das gehört? Du wirst wieder ganz gesund. Und einem zweiten Baby steht auch nichts im Wege...", freute sich Lea und drückte Laura einen Kuss auf die Stirn.



Mittlerweile war es kurz nach halb 10, als auch endlich Sarah Marquardt die Sachsenklinik erreichte.
Sie hatte sich den Vormittag freigenommen, um noch einiges für den alljährlichen Ausflug der Mitarbeiter zu organisieren; war dabei allerdings von einem kräftigen Regenschauer überrascht wurden.

Klack-Klack-Klack... - auf hohen Absatzschuhen stöckelte die Verwaltungschefin der Sachsenklinik Leipzig nun über den Flur der dritten Etage. Heute, ja heute, war er da. Heute war der Tag, an dem... nichts passierte.

Es war wieder so ein Tag, den man am liebsten mit einem guten Buch im Bett verbrachte. Schon das Wetter, dieses nasskalte Regenwetter, hatte Sarah Marquardt die Laune vermiest. Dicke Wassertropfen, die vom Himmel fielen, hatten ihren den Weg zur Klinik heute Morgen komplett verhagelt; wie ein begossener Pudel sah die Verwaltungschefin aus, als sie über den Flur in ihr Büro stöckelte.

„Guten Morgen, Frau Marquardt.", grüßte Urologe und Belegarzt Dr. Rolf Kaminski mit einem süffisanten Lächeln die Mittfünfzigerin, als er sie, mittlerweile an ihrem Büro stehend, antraf. „Wohl ein feucht fröhlicher Start in den Tag gewesen, was?"
„Kaminski..." Sarah sah den Urologen empört an. „Das ist überhaupt nicht witzig. ... Ich bekomme übrigens noch ihre Quartalsabrechnung und die Berichte des letzten Monats. ... Bis heute Mittag."
„Ich... muss in den OP.", wich der Arzt plötzlich aus und ließ "Pudel" Sarah stehen, die triefend in ihr Büro ging, ihre Tasche auf ihrem Tisch abstellte und sich in ihren Schreibtischstuhl fallen ließ.

Kaum jedoch hatte Sarah sich an ihren Schreibtisch gesetzt, klopfte es an ihrer Tür und nachdem sie die Gäste „herein" gebeten hatte, betrat der leicht verärgert wirkende Oberarzt Dr. Martin Stein das Büro.
„Ist das wirklich ihr Ernst, Frau Marquardt?", brüllte der Mediziner, während er mit einem Brief in der Hand die Büro hinter sich laut zuschlug.
Sarah erschrak durch das Türenschlagen und beschwerte sich bei dem Oberarzt sogleich für die Lautstärke an diesem noch jungen Morgen.
„Dieser Brief ist doch hoffentlich ein Scherz von ihnen! Ich kann nicht glauben, dass schon wieder über meinen Kopf hinweg Entscheidungen getroffen werden. Erst darf ich der Klinik für zusätzliche Einnahmen durch diese außerhäuslichen Operationen sorgen; darf mit Dr. Heilmann darüber streiten... Und jetzt werden mir die Hälfte meiner Betten in dieser Klinik gestrichen. Wollen sie mich... Wollen sie mich aus der Klinik mobben? Ist das jetzt so ein billiger Marquardt-Versuch, meine Stelle neu zu besetzen?"

„Herr Dr. Stein, setzen sie sich doch bitte erst mal...", bat Sarah den Oberarzt und Martin, der ihr den Brief auf den Schreibtisch geknallt hatte, setzte sich der Verwaltungschefin gegenüber.

Die Verwaltungschefin klappte das Schreiben auf und sah wieder auf den erzürnten Oberarzt Dr. Stein, dem sie sogleich zu erklären versuchte, dass sie keinesfalls vorhatte, den langjährigen Oberarzt aus der Sachsenklinik zu ekeln. „Aber sie haben in den letzten zwei Monaten mehr Operationen außer Haus durchgeführt; waren im vorletzten Monat und im letzten Monat für jeweils zwei Wochen sogar durchweg in Erfurt..."
„Dabei ging es um zwei ehemalige Patienten von mir, den einen Patienten habe ich vor einem halben Jahr operiert; den zweiten habe ich schon als Jugendlichen behandelt. Ich... Dr. Moreau hat mich angerufen und gefragt, ob ich denn nicht nach Erfurt kommen könnte. Das war allerdings auch mit ihnen so abgesprochen, Frau Marquardt! Und sie hatten nichts dagegen, dass ich wegen den beiden Patienten nach Erfurt fahre." Martin schlug mit seiner flachen Hand auf die hellbraune Tischplatte und sprang anschließend immer noch leicht gereizt auf.

„Im Prinzip haben sie doch Recht, Dr. Stein. Aber... Wir haben von einer Woche gesprochen. Und nicht von insgesamt vier Wochen, die sie in einer anderen Klinik ihren Dienst tun... Auch, wenn wir einer Zusammenarbeit mit dem Johannes-Thal-Klinikum nie abgeneigt sind...", kam Sarah dem Oberarzt entgegen, doch Martin war viel zu aufbrausend, weswegen er noch einmal auf den Tisch schlug.

„Sie können nicht einfach... Frau Marquardt, ich habe vor meiner Abfahrt nach Erfurt mit ihnen über das Thema gesprochen. Und... Deswegen habe ich... Ich war nur eine Woche in Erfurt. Sie können gerne mit Dr. Moreau sprechen; der wird ihnen das gerne bestätigen."
„Ich habe diese Entscheidung doch auch nicht alleine getroffen. Ich habe gestern Abend noch einmal mit Dr. Heilmann und Dr. Globisch die Situation abgesprochen. Und wir sind uns einig. ... Sie sollten lieben mit ihren beiden Kollegen sprechen. Und nicht mit mir. ... Und jetzt beende ich dieses Gespräch hier an dieser Stelle, sonst könnte es noch böse enden. Gehen sie wieder an ihre Arbeit."

„Dieses Thema ist noch nicht fertig besprochen.", warnte Martin mit bedrohlichem Gesichtsausdruck, bevor er schnelleren Schrittes das Büro der Verwaltungschefin verließ, sich jedoch noch einmal umdrehte und ihr sagte: „Das lasse ich nicht mit mir machen."

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