Kapitel 77

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Mario's Sicht:

Herzlichen Glückwunsch, jetzt hast du mich wirklich verloren. Das war der schlimmste Satz, den ich mit meinen 22 Jahren je gehört hatte. Und das nicht, weil er so dramatisch klang. Sondern weil er aus ihrem Mund kam. Aus Nell's Mund. Ich hatte gerade mein Leben gehen lassen. Abgeholt von einem kleinen Motorboot. Hätte mir vor wenigen Tagen jemand gesagt, dass ich mit Nell keine Zukunft vor mir hatte, hätte ich denjenigen ausgelacht. Und jetzt war genau das eingetreten. Die Gefühle, die ständig dumpf in mir herumschwirrten, brachen jetzt mit voller Wucht auf mich ein. Ich sank auf dem Deck in mich zusammen. Sie hatte Recht, ich war wirklich ein Arschloch. Denn ich bereute nicht, wie ich reagiert hatte. Ich konnte dieses Kind nicht akzeptieren. Jeden Morgen mit der Frage aufzuwachen, ob meine schwangere Frau neben mir noch atmet, wäre die Hölle auf Erden. Stattdessen bereute ich aber meine Worte. Was war nur in mich gefahren, dass ich sie so angemacht, wenn nicht niedergemacht hatte? Mit Worten verletzte man oft mehr, als mit Taten. Manchmal muss man einfach die Klappe halten und überlegen, bevor man seinen Gefühlen freien Lauf lässt. Und ich hatte es verbockt. Wie oft hatte sie mir schon eine neue Chance gegeben? Eigentlich war es bis jetzt immer nur eine kleine Lapalie, so heftig hatten wir uns nie gestritten. Und vor allem nicht über so ein Thema. Obwohl es mir in diesem Moment eigentlich völlig egal sein sollte, dachte ich darüber nach, was meine Familie von mir hielt, wenn sie das erfuhren. Ich hatte meine schwangere Frau im Stich gelassen. Und Nell war ganz sicher niemand, die angekrochen kam, wenn sie es nicht schaffte. In der Ironie des Schicksals klingelte mein Handy. Es war meine Mutter. "Ja?" meldete ich mich emotionslos. "Mario, Schatz. Es tut mir leid, dass ich so spät noch störe, aber ich dachte es wäre vielleicht wichtig, dass du es weißt. Fabi hat sich das Schlüsselbein beim Fußballspielen gebrochen." berichtete sie. Das konnte jetzt nicht wahr sein. "Oh nein, nicht auch noch das." fluchte ich leise. "Auch noch? Ist etwas, Schatz?" fragte sie besorgt. "Mama, ich erklär dir alles ein andermal. Sag Fabi gute Besserung!" erwiderte ich und legte dann einfach auf. Ich blickte in den Himmel. "Was soll das?! Was hab ich dir denn getan?!" rief ich 'zu Gott' hinauf. "Sag mir wenigstens, was ich tun soll." wimmerte ich leise. Plötzlich wehte eine Windböe vorbei. Ich musste langsam verrückt werden, denn das Zeichen von Gott kam tatsächlich. Der Umschlag, mit den Bildern vom Fotoshooting wehte vor meine Füße. Tu es nicht. sagte mir mein Verstand. Aber ich hörte nicht darauf und zog die Fotos heraus. Als ich ihr Lächeln sah, ihre Lippen, die meine Wange streiften, stiegen mir Tränen in die Augen. Jedes Bild, das ich angesehen hatte, legte ich vor mich hin. Plötzlich kam ein weiterer Windstoß. Die Bilder flatterten in die Luft. "Nein!" rief ich und sprang auf. Doch sie waren schon weg, sanken auf das Wasser nieder. Das einzige, was mir blieb, war der Ausdruck des Posters vom Fotostudio. Aber auf diesem war Nell allein. Kein Strahlen, nicht der kleinste Anflug eines Lächelns und ein schwarzes Kleid, die Farbe der Trauer. Wollte mir der da oben etwa sagen, ich solle sie vergessen? Sie einfach aus meinem Leben streichen? Doch was war mein Leben, wenn der wichtigste Lebensinhalt fehlte? Ich ging nach drinnen in die Küche. Mein Blick blieb sofort an dem Schwangerschaftstest kleben, den ich vorhin so wutentbrannt auf den Boden geschmettert hatte. Ich hob ihn auf und hoffte, dass er diesen zweiten Strich nicht wirklich anzeigte. Doch das tat er. Und selbst wenn, was hätte es mir genutzt? Ich hatte sie verletzt. Und das konnte ich nicht wieder gut machen. Die Wut keimte erneut in mir auf. Ich warf den Test durch den ganzen Raum. Dann holte ich aus dem Kühlschrank den Sekt. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, ein Glas zu nehmen, sondern stürzte direkt den ersten Schluck hinab, nachdem der Korken an die Decke knallte. Als ich die halbe Flasche geleert hatte, überkam mich langsam der Rausch. Mit der Flasche taumelte ich zur Couch und ließ mich darauf fallen. Meine Gedanken kreisten um Nell. Wo war sie jetzt? Liebte sie mich überhaupt noch? Die Fragen quälten mich. Nach weiteren Minuten oder Stunden fiel ich in einen unruhigen Schlaf, doch auch in meinen Träumen suchten mich meine Gefühle heim. Absurderweise träumte ich von der Nacht im Bungalow. Wir waren uns so nah. Ich sah ihr Gesicht vor mir, wie sie die Augen schloss und den Kopf in den Nacken legte. Wie ich fast verrückt wurde, wenn sie meinen Hals sanft küsste. Ich konnte ihren warmen Atem und ihre Fingernägel spüren, die über meinen Rücken kratzten. Und dann wurde ich von einem lauten Handyklingeln aus dem Schlaf gerissen. Mein Schädel dröhnte. Wie in Trance hob ich ab. "Hallo?!" rief derjenige ins Telefon, weil ich mich anfangs nicht meldete. Ich richtete mich ein Wenig auf. "Marco?" fragte ich und rieb mir die Augen. "Sag mal Mario, kannst du mir vielleicht verraten, wieso Nell mich gerade anruft und mir sagt, dass eure Hochzeit abgeblasen ist?!" schrie er mich an. Sie hatte die Hochzeit abgesagt? Klar, was hatte ich erwartet? "Scheiße..." murmelte ich nur vor mich hin. "Ja, das kannst du laut sagen! Was tust du dieser Frau nur an, Mario?! Sie hat kaum ein Wort herausgebracht! Hast du sie betrogen? Geschlagen?" wollte er wissen. Ich wollte ihn jetzt auf keinen Fall vor mir haben, denn er hätte mich 100%-ig verprügelt. "Geschlagen?! Spinnst du?!" regte ich mich auf. "Also hast du sie betrogen?" fragte er weiter. "Nein, verdammt!" antwortete ich. "Was dann?! Nell würde nicht ohne Grund den nächsten Flieger nehmen, um von dir wegzukommen." Flieger? Sie war also auch schon in Deutschland? "Sie ist schwanger." erklärte ich jetzt. Marco schwieg. Er kannte mich zu gut. Er wusste genau, was in mir vorging. "Was hast du gesagt, das sie so verletzt hat?" fragte er jetzt etwas ruhiger. "Ich... Dass sie abtreiben soll." gestand ich. Ich hörte Marco's tiefes Atmen. "Du hast es verkackt, Mario. Das ging zu weit. Und das weißt du." meinte er. Ehe ich etwas sagen konnte, legte er auf. Jetzt war ich voll und ganz auf mich allein gestellt. Mein bester Freund hatte keinen Rat. Das Problem war nur: Ich konnte nicht mehr. Ich war fertig. Ich beschloss, zu gehen. Was hielt mich noch hier? Die Erinnerungen an einen Urlaub, der unvergesslich hätte werden sollen? Er war unvergesslich, aber nicht im positiven Sinne. Nachdem ich ein Flugticket besorgt hatte, schaltete ich den Fernseher an. Ich zappte gelangweilt durch die Kanäle. "... -eht Trennung bevor?" Ich setzte mich auf und konzentrierte mich jetzt doch auf den Fernseher. "Möglicherweise ist der Ruhm ihres Weltmeister-Freundes doch zu viel. Nachdem wir sie aber so gesehen haben, gehen wir eher von einer schwerwiegenden Beziehungskrise aus." wurde dort gesagt und Bilder liefen im Hintergrund. Mich hatten sie nicht erwischt, dafür aber Nell. Die Paparazzi waren hier überall auf eigenen Booten unterwegs. Man sah, wie sie verzweifelt in ein Taschentuch heulte. Es tat mir unendlich weh, sie so zu sehen. Sollte ich versuchen, sie anzurufen? Ich nahm meinen restlichen Mut zusammen und zückte mein Handy, um ihre Nummer zu wählen. Es tutete. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann klickte es leise. "Mario, ich bin's Marco." Ich war ziemlich überrascht. "Was tust du an Nell's Handy?" wollte ich wissen. "Sie hat mich gebeten, sie abzuholen. Mario, lass es einfach. Es bringt nichts. Sie wird dich auch in einer Woche oder in einem Jahr wegdrücken." meinte er. "Marco, ist sie gerade bei dir?" fragte ich trotzdem. "Ja, aber sie will auf keinen Fall mit dir reden." lehnte er sofort ab. "Bitte, Marco. Nur ein Wort!" Ich konnte es fast vor mir sehen, wie Marco zögerte. "Sag, was du zu sagen hast, sie hört jetzt mit." verkündete er schließlich. "Nell, es tut mir so unendlich leid. Lass uns nochmal reden, bitte. Ich liebe dich, Nell. Ich will das nicht einfach weg-..." begann ich, doch jetzt durchschnitt sie mir das Wort. "Spar's dir, Mario. Ob du dich entschuldigst oder nicht spielt keine Rolle. Du willst das Kind nicht. Ich kann keinen Mann lieben, der ein unschuldiges Lebewesen umbringen will. Du bist einfach nur egoistisch. Hätte ich gewusst, dass du so drauf bist, wären wir nie zusammengekommen. Und deshalb kannst du jetzt auch nichts mehr retten. Leb wohl, Mario." "Nein, Nell, warte." "Ich zeige dich an, wenn du mich nicht in Ruhe lässt." fügte sie schnell hinzu und legte auf. Autsch.
Nell's Sicht:

Liebe stirbt nicht {Mario Götze u.A.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt