Kapitel 123

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Nell's Sicht:

"Sie dürfen unter keinen Umständen Ihre Angst zeigen. Allerdings dürfen Sie auch nicht zu selbstsicher wirken. Keine Andeutungen, dass Sie bereits bescheid wissen. Haben Sie das verstanden Frau Neuer?" fragte der Polizist mich eindringlich. Ich nickte und schluckte dabei erst einmal wieder den Kloß hinunter, der meine Kehle zuschnürte. Ich wurde verkabelt. In meiner Jacke waren eine kaum sichtbare Kamera und ein ebenso winziges Mikro eingearbeitet. Man würde die beiden Dinge nur erkennen, wenn man gezielt danach suchte. Wir hatten mit einem unauffälligen VW-Sprinter vor der Wohnung meines Vaters geparkt. Manu, Mario und sogar Marco wollten mich neben den Polizisten unbedingt begleiten. Außerdem warteten natürlich noch eine Truppe weiterer Beamten in der Nähe um eingreifen zu können, sollte... sollte etwas nicht nach Plan verlaufen. Zugegeben, ich hatte ziemliche Angst. Die Frage war nur, was mir mehr Sorgen bereitete. Die möglicherweise schmerzliche Wahrheit zu erfahren, oder diese Aktion an sich. So oder so würde die Beziehung zu meinem Vater zerstört sein. Denn zu meinem Bedauern würde sich nicht herausstellen, dass er vollkommen unschuldig war. Mario musterte mich die ganze Zeit. Dabei war er selbst sehr blass und merklich angespannt. Manu wirkte einfach nur wütend, wie immer wenn es um unseren Vater ging. Und Marco? Der saß nur stumm da und behielt seine Gedanken für sich. Egal, wie das hier ausgehen würde, ich musste nur noch eine Nacht überstehen, dann würden wir alle wieder ins Mannschaftsquartier ziehen und es würde Ruhe einkehren... Hoffentlich. "Steigen Sie bitte jetzt aus und gehen Sie hoch. Ihr Vater wurde die letzten Tage beschattet und wir wissen aus sicherer Quelle, dass er heute mit Herrn Schiebler Kontakt aufnehmen müsste." erklärte Herr Bauermeister. "Was?!" stieß ich hervor. Mario erhob sich von der Sitzbank mir gegenüber und ließ sich neben mir nieder. Ich folgte seinen Bewegungen mit angsterfülltem Blick, als könnte er mir irgendwie helfen. Er strich mir nur durchs Haar und legte dann den Arm um meinen Rücken. "Was ist wenn er vorbei kommt? Wenn Schiebler die Wohnung betritt?" fragte Mario erstaunlich ruhig und drückte mich an seine Brust. Ich sog seine Wärme in mir auf und versuchte sie festzuhalten. "Wir haben überall Posten aufgestellt. Der Plan ist Idiotensicher. Glauben Sie mir. Und sollte er Frau Neuer doch zu nahe kommen... werden wir schießen." wollte Herr Meyer uns beruhigen. Ich schnappte nach Luft. Es war wohl lauter als gedacht, denn alle Personen im Sprinter wandten mir ihre Gesichter zu. Marco legte seine Hand auf mein Knie. Ich sah ihn nur ausdruckslos an. "Frau Neuer, Sie müssen sich nun wirklich nach oben begeben. Die Planung ist sonst hinfällig. Wieder brachte ich nur ein stummes Nicken zu Stande. "Du schaffst das, Prinzessin." raunte Marco mir zu, als Mario mich auf die Beine zog. Dieser küsste mich nur sanft auf die Stirn. Er ließ mich los und augenblicklich verflog die Wärme. Herr Meyer öffnete die Türen des Sprinters. Mit zitternden Beinen schritt ich zur Tür. "Nell warte." hielt mich Manu nun doch auf. Ich drehte mich zu ihm. Er kam herüber und zog mich in seine Arme. "Egal, was du da drin jetzt erfährst, wir beide halten immer zusammen, okay?" flüsterte er. "Okay." Mehr brachte ich unter meiner tränenerstickten Stimme nicht hervor. Ich kletterte aus dem Wagen und sammelte mich noch einmal, damit ich es überhaupt über mich brachte, das durchzuziehen. Ich klingelte, das Summen ertönte und ich ging Stufe für Stufe der Wahrheit entgegen. "Heute bist du ausnahmsweise mal zu früh hi-... Elena? Was machst du hier?" fragte er überrascht, nachdem er wohl jemand anderen erwartet hatte, bevor ich die Treppe komplett heraufgekommen war. Seine Stimme klang nicht sehr überrascht. Eher...gereizt. Ich setzte ein Lächeln auf. "Erwartest du Besuch?" wollte ich wissen und hoffte, dass man mein Zittern nicht allzu sehr heraushörte. "Ich ähm... Nein... Naja." stammelte er, brach dann aber ab und sah mich entschuldigend an. "Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du eine neue Frau hast. Mama würde wollen, dass du glückich bist." Ich wusste nicht, woher diese Worte, dieser Gedanke auf einmal kam. Aber es klang umso authentischer, da man mir den säuerlichen Unterton deutlich anhörte. Er legte seine Hand auf meine Schulter und schob mich durch die Tür. "Um Gottes Willen, ich könnte eure Mutter nie ersetzen, Kleines." tröstete er mich. Konnte dieser Mensch wirklich seine eigene Tochter vergiften. Mein Unterbewusstsein meldete sich sofort zu Wort. Ja. Er hatte mich geschlagen. "Möchtest du etwas trinken?" bot er schließlich höflich an. Ich nickte nur. Langsam wandte er sich ab und verschwand in Richtung Küche. "Frau Neuer, ich habe etwas vergessen..." Ich quietschte erschrocken auf, als die Stimme zu mir sprach. Sofort hielt ich mir den Mund zu. "Es tut mir leid. In Ihrem Ohrring befindet sich ein Lautsprecher. Ich wollte Ihnen nur mitteilen: Sollte es ein Problem geben - zum Beispiel dass Sie sich aufregen und ihr Herz wieder schlapp macht - dann geben Sie uns ein Zeichen und wir brechen das unverzüglich ab." Bevor ich überhaupt versuchen konnte, über das versteckte Mikro zu antworten, kehrte mein Vater zurück. Er reichte mir das Glas. Ein lautes Handyklingeln durchbrach die Stille. "Oh, du entschuldigst mich?" reagierte mein Vater sofort und verschwand erneut. Jetzt klang alles logisch. Das war Schiebler. Und mein Vater hatte auch ihn erwartet. Nicht mich. Plötzlich war ich entschlossen, hinterher zu gehen. Ich erhob mich langsam von der Couch. "Frau Neuer, bleiben Sie, wo Sie sind. Gehen Sie nicht hinterher." riet mir Bauermeister mit säuberlich ausgesprochenen Worten. Es war mir egal. Hier ging es nicht nur um einen Kriminellen. Hier ging es auch um mich, um meine Existenz, auf der ich seit Jahren lebte. Was für ein ausgesprochen dummer Zufall, dass mein Vater die Küchentüre nicht geschlossen hatte. Ich lehnte mich daneben an die Wand. "...komm bloß nicht jetzt vorbei! Meine Tochter ist aufgekreuzt." ... "Das hat nichts mit unserem Plan zu tun, das ist allein dein Wille." ... "Ich weiß auch nicht. Nachdem sie im Krankenhaus war, dachte ich, es wäre so weit, aber es braucht wohl noch." ... "Jaja, ich hab's ihr eben wieder ins Glas gekippt." Es klirrte. Mein Vater wirbelte herum. "Ich muss auflegen." sagte er schnell ins Telefon und warf es achtlos auf die Arbeitsfläche. Ich hatte das Glas fallen lassen - glücklicherweise noch unberührt. Zu meinen Füßen waren Scherben verteilt. Außerdem die Flüssigkeit, mit der mein Vater mich vergiften wollte. Einen Moment blieben wir beide regungslos stehen. Er schien sich zu fragen, was ich gehört hatte. "Dad, warum?" waren die einzigen Worte, die meinen Lippen entwischten. Seine Miene versteinerte sich. Ehe ich reagieren konnte, hatte er meinen Arm gepackt. Seine Hände waren so groß, dass er meinen Arm komplett umfassen konnte. Es war kein Funke einer liebevollen Geste. Nein. Er drückte so fest zu, dass meine Fingerspitzen immer kälter wurden, weil das Blut abgedrückt war. Dann riss er mich herum und zerrte mich hinter sich her. Durch den Flur leitete er mich ins Wohnzimmer. Mir entfuhr ein schmerzerfülltes Wimmern. Daraufhin ließ er mich los und stieß mich grob von sich. Ich musste zu ihm aufsehen, als er direkt vor mir stand. "Du hast es nicht anders verdient du kleine Schlampe." fauchte er. Ich zuckte zurück. Wie naiv war ich? Wie konnte ich denken er hätte sich geändert? "Was hab ich dir getan?" schluchzte ich. Er lachte hämisch auf. "Dass sowas wie du meine Tochter sein kann! Du bist nichts! Du bist ein Stück Dreck!" schrie er mich an und schon landete seine flache Hand mit einem Klatschen auf meiner Wange. Ich schrie auf und versuchte mich mit meinen Händen zu schützen. "Du und dein Bruder, ihr habt mein Leben kaputt gemacht. Ihr wisst nur nichts davon. Deine Mutter hat euch ein Millionenschweres Erbe hinterlassen. Mich hat sie dabei nicht bedacht. Ihr beide hockt doch so schon auf eurem Geld, aber nein! Sie muss euch auch noch das doppelte Vermögen in den Arsch schieben! Ist das fair, he?!" brüllte er und schüttelte mich kräftig. "Und dann hast du dich mit Schiebler zusammengetan? Um Manu und mich zu zerstören? Damit du dieses Geld bekommst?" entgegnete ich tränenschwer. Er lachte wieder auf. "Wie hast du es rausbekommen?" fragte er mit deutlich aufgesetzter Freundlichkeit. "Ich...wusste es nicht. Bis zu dem Anruf." krächzte ich. Aber er glaubte es. "Es hätte niemandem geschadet, wenn du daran verreckt wärst. Deine Gutgläbigkeit ist echt zum Schreien." lachte er. Meine Sicht verschwamm unter dem Tränenmeer. Kein Schlag könnte mehr wehtun als diese Worte es taten. "Aber was ist mit Mama. Du hast gesagt, du liebst sie. Ist dir das nicht mehr wert als ihr Geld?" flüsterte ich. Er fuhr beinahe sanft mit seiner Hand in meinen Nacken. Doch dann drückte er zu. Packte mich wie ein Tierbaby, damit ich hilflos war. Und genau so fühlte ich mich. "Sowas wie Liebe existiert auf diesem Planeten nicht mehr. Du warst schon immer wie deine Mutter. Vielleicht sollte ich dir auch dasselbe antun." fauchte er. Seine Finger schlossen sich fester um meinen Nacken. Er wartete, bis ich einen unterdrückten Schrei von mir gab, dann ließ er seine Hand nach vorne wandern, an meine Kehle. Sofort schnellten meine Hände hoch und versuchten seine Finger loszumachen, aber er war stark. Und entschieden. "Was hast du mit Mum gemacht?" keuchte ich. Ich musste das jetzt wissen. Augenblicklich drückte er mich gegen die Wand. All die Leute, die gerade unten im Sprinter saßen, waren mir egal. "Sie hat euch geliebt. Aber sie hat mich irgendwann nicht mehr geliebt. Euch zu Liebe ist sie bei mir geblieben." begann er. "Aber dann... ist... vergewaltig worden und hat es nicht... ertragen." presste ich schlussfolgernd hervor. Während sich seine Finger immer fester um meinen Hals schlangen und ich langsam Schmerzen hatte, lachte er abermals. "Falsch. Ich wollte Sex. Sie nicht. Ich habe sie vergewaltigt." fuhr er trocken fort. Ich schnappte nach Luft, worauf ich noch weniger Reserve hatte. Erschrocken wimmerte ich, aber er überhörte es. "Sie hat gejammert und gejammert. Bis Manu alt genug war. Sie wollte es ihm beichten, weil sie wusste, dass er etwas unternehmen würde, aber ich kam ihr zuvor. Hast du dich nie gefragt, warum ich dir den Abschiedsbrief damals vorgelesen habe? Es waren meine Worte...Nell. Es gab keinen Abschiedsbrief, geschweige denn einen Selbstmord." Er nahm nun fast beiläufig die zweite Hand dazu und drückte mit beiden Daumen auf meinen Kehlkopf ein. "Ich werde diese schrecklichen blauen Augen nicht vermissen." seufzte er. Ich keuchte und ächzte und strampelte schließlich mit den Beinen. Mir wurde schwindlig. Und genau in diesem Moment schwang die Tür auf. Männer in Uniformen stürmten in das Zimmer. "Lassen Sie die Frau los und nehmen Sie ihre Hände hoch!" echote es dumpf in meinem Kopf. Und plötzlich strömte schwere Luft in meine Lungen. Mein Rachen brannte höllisch. Mit meinem verwirrten Gehirn versuchte ich, die Augen zu fokussieren, die sich auf mich richteten. Manu! Nein halt. Mein Vater. Immernoch mein Vater. "Dad, bitte. Hör auf. Du kannst nichts mehr tun. Lass-..." setzte ich an. "HALT DEIN MAUL VERDAMMT! WAS HAST DU GETAN?!" Sein Schrei ging mir durch Mark und Bein. Und dann trat er zu. Er traf mich in die Seite. "Zugriff!" raunte es von der Polizei, als ich zu Boden glitt und mich weinend zusammenrollte. Ich hielt mir die Ohren zu. Ich ertrug das alles nicht.
Mario's Sicht:

Wir saßen mit offenen Mündern vor dem Monitor, der längst ausgeschaltet war. Ich wagte einen Blick zu Manu. Er starrte auf den Boden. "Die Herren, Sie können nun-..." wollte Herr Meyer uns erlauben, doch ich sprang auf, noch ehe er geendet hatte. Ich rannte so schnell ich konnte zum Haus und durch die Tür. Als ich durch die Tür stürmte, musste ich abbremsen. Herr Neuer. Flankiert von zwei Beamten. Er warf mir einen hasserfüllten Blick zu. "Arschloch." zischte er mir im Vorbeigehen zu, worauf er einen warnenden Blick der Polizisten kassierte. "Warten Sie einen Moment!" rief ich ihnen hinterher. Sie blieben stehen. "Herr Neuer?" fragte ich ruhig. Er sah mich nicht an. "Sie sind ein verschwissener Wixxer. Wollte ich nur endlich mal gesagt haben." sagte ich und setzte meinen Weg fort. Ich betrat die Wohnung und ließ meinen Blick schweifen. "Wo ist sie?" sprach ich den erstbesten an. Er deutete mit dem Daumen hinter sich, wo ein paar Meter entfernt ein Kollege über einer Gestalt kniete. Oh gott. Was war passiert, seit der Monitor aus war? "Frau Neuer, bitte sprechen Sie mit mir." bat der Polizist einfühlsam und tastete ihre Seite entlang. "Ah!" stöhnte die Gestalt nur auf. Nell. Ich schob mich zwischen den Personen durch. Nell lag zusammengekrümmt auf dem Fußboden und weinte. Sie hatte Schmerzen, das war offensichtlich, aber ich kannte sie mittlerweile lange genug, um zu wissen, dass das nicht ihr einziger Schmerz war. "Frau Neuer, ich bitte Sie. Reden Sie mit mir. Soll ich einen Krankenwagen rufen?" fragte er wieder. Sie schüttelte energisch den Kopf. "Frau Neuer, ich schaue mir Ihre Verletzung jetzt an, okay?" meinte der Polizist, wartete aber erst gar keine Reaktion ab. Er versuchte, ihr Oberteil hoch zuschieben, aber als es ihm nicht gelang, zerriss er es leichtfertig. Ich stürzte auf sie zu, als ich ihre Seite sah. Der Polizist hob den Kopf. "Frau Neuer, Ihr Freund ist jetzt da." verkündete er laut und deutlich, nickte mir zu und erhob sich. "Nell?" fragte ich leise. Sie weinte nur weiter. Ich sah mir nun auch ihre Verletzung an. Grün und blau geschlagen. Ich streckte die Hand aus und berührte sie leicht. Ihr Schluchzen verstummte. "Nell. Sag etwas. Nur ein Wort, für mich." machte ich da weiter, wo der Ploizist aufgehört hatte. "Er hat Mum umgebracht." schluchzte sie. Okay, diesen Teil, hatte ich auf dem Monitor nicht mehr gesehen...

Liebe stirbt nicht {Mario Götze u.A.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt