Kapitel 115

5K 282 16
                                    

Mario's Sicht:

Mein Kopf lag auf dem Lenkrad. Das durfte einfach nicht wahr sein. Herr Neuer und Schiebler. Unter einer Decke. Das erklärte alles. Sie waren zur selben Zeit im selben Gefängnis. Beide prägten einen ungemeinen Hass auf Nell. Und dass es ihr immer schlechter ging in letzter Zeit, mittlerweile auch körperlich, hatte rein gar nichts mit der psychischen Belastung zu tun. Sie wurde vergiftet. Von ihrem eigenen Vater. Und Schiebler hatte nie vorgehabt, Nell irgendetwas ernstes anzutun. Er wollte uns einfach nur auf brutalste Weise Angst machen. Was auch immer das Ziel von Herr Neuer's Plan war, es würde uns allen wehtun. Womöglich war Manu's Sorge die ganze Zeit berechtigt. Sollte diese skurrile Anschuldigung, dass Nell's Mutter sich gar nicht selbst umgebracht hat, sondern ihr eigener Mann, tatsächlich stimmen, dann wollte ich nicht wissen, was er meiner Freundin antuen würde, wenn ihr Zustand sich weiter verschlechterte. Ich warf einen Blick zu meinem Elternhaus. Im Gästezimmer, dessen Fenster zur Straße gelegen war, brannte Licht. Ich hatte Nell so oft versprochen, sie zu beschützen. Aber ich war blöd, so blöd. Wieso hatte ich Manu keinen Glauben geschenkt? Wieso war ich verdammt nochmal so blind?! Ich schlug vor Wut auf das Lenkrad ein. Dann zog ich mein Handy hervor. Mit zitternden Fingern tippte ich Manu's Nummer ein. Es tutete zweimal, bevor er abhob. "Mario? Was gibt's?" meldete er sich. Ich brauchte einen Moment, bis ich sprechen konnte. "M-manu...du...du hattest die ganze Zeit Recht." sagte ich. "Hä Mario, was meinst du?" fragte er etwas gereizt. "Dein Vater..." setzte ich an, doch jetzt unterbrach er mich. "Was? Was ist passiert?" "Kannst du bei meinen Eltern vorbeikommen?" schlug ich vor. "Ich fahr gleich los." verkündete er und legte auf. Ich packte mein Handy weg und begab mich langsam nach drinnen. Ich stand für einen Moment einfach vor der Tür, die Hand an der Hauswand abgestützt. Schwerfällig bewegte ich meinen Finger zur Klingel. Felix öffnete die Tür. "Wie geht's ihr?" fragte ich wie hypnotisiert. Er zuckte mit den Schultern und warf mir nur einen mitleidigen Blick zu. "Konntest du etwas herausfinden?" wollte er wissen, als ich eintrat und meine Schuhe auszog. Ich blickte ihm kurz in die Augen. Er liebte Nell wie seine eigene Schwester und ich sah ihm an, dass er sich ehrlich Sorgen machte. Mir war bewusst, dass er kein kleines Kind mehr ist mit seinen 16 Jahren, aber ich hatte Angst, dass ihn die Geschichte noch mehr überforderte als mich selbst. Ich schluckte schwer und schüttelte knapp den Kopf. Felix nickte mir aufmunternd zu und machte mir den Weg frei, damit ich nach oben konnte. Als ich vor dem Gästezimmer stand, klopfte ich leicht. "Ja?" erklang die Stimme meiner Mutter. Ich trat langsam ein. Nell lag auf der Schlafcouch. Meine Mutter saß daneben im Sessel mit einem Buch. Als sie mich sah, legte sie es weg und erhob sich. Nah vor mir blieb sie stehen und legte ihre Hand auf meine Brust. "Ich war die ganze Zeit bei ihr. Sie hat ein bisschen Fieber, aber nichts gravierendes. Allerdings ist sie nicht wirklich ansprechbar, hat Fieberträume." flüsterte sie mir bedauernd zu. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich versuchte, meine Verzweiflung zu unterdrücken. Sonst würde ich noch zusammenbrechen. Meiner Mutter entging das selbstverständlich nicht. "Alles in Ordnung?" erkundigte sie sich. Wie ich diese Frage hasste. "Ja. Danke, dass du dich um sie gekümmert hast." lenkte ich hab. "Kein Problem." lächelte sie. Es blieb kurz still und ich wartete darauf, dass sie mich mit Nell alleine ließ. "Mario, du weißt irgendetwas, das spüre ich. Und obwohl ich es gar nicht leiden kann, wenn du mich anlügst, ist deine Freundin momentan wichtiger. Sie braucht dich. Also sei für sie da." raunte sie mir schließlich zu und schlüpfte durch die Tür, bevor ich etwas erwidern konnte. Ich schluckte noch einmal und ging dann zu Nell rüber. Sie war blass und ihr klebten die Haare an ihrer verschwitzten Stirn. Außerdem hingen Tränen in ihren Wimpern, die vermutlich von den Fieberträumen stammten. Sie hatte den Kopf leicht in den Nacken gelegt, die Kehle entblößt, als hätte sie längst aufgegeben und würde nur noch auf den erlösenden Biss warten. Zudem hatte sie die Lippen leicht geöffnet. Ich schob meine Hand vorsichtig unter ihren Hinterkopf. Dann beugte ich mich herunter und küsste sanft ihren Hals. Ihre Haut war kochend heiß. Sie stöhnte kurz schmerzvoll auf. Sie winkelte ein Bein an und ich hörte, wie sich ihr Herzschlag bei dieser kleinen Bewegung ziemlich beschleunigte. "Nell, ich bin's. Du brauchst keine Angst haben." murmelte ich und drückte einen weiteren Kuss auf ihren Hals. Ihre Finger zuckten. "Ma-o." wisperte sie, bevor sie in einen heftigen Hustenanfall ausbrach. Sie krümmte sich, aufgrund der Erschütterung ihres schwachen Körpers.
Nell's Sicht:

Mein ganzer Körper brannte höllisch und doch fror ich. Ich wusste, dass Mario bei mir war, aber ich nahm ihn nicht war. Jede seiner Berührungen fühlte sich an wie 1000 Nadelstiche und doch erfüllten sie mich mit ein Wenig mehr Stärke. Er konnte mich wohl nicht länger so sehen. Ich spürte die Nadelstiche unter meinen Brüsten, den Druck auf meinen Rippen, als er mich aufsetzte. Mein Kopf drehte sich und sogar mit geschlossenen Augen war mir so schwindlig, dass ich mich am liebsten übergeben hätte. "Nell, bitte." flehte Mario. Was meinte er? Was wollte er? Für einen kurzen Moment spürte ich meinen leblosen Körper in seinen Armen. Und genau das war seine Sorge. Ihm tat es weh, mich so zu sehen. "Tu mir das nicht an. Du warst immer stark. Sei es jetzt auch. Für mich." bettelte er weiter. Ich atmete seinen Geruch ein. Ich roch sein Aftershave ganz deutlich, also lag mein Kopf an seiner Halsbeuge. Es kostete mich unheimlich viel Kraft, die Kontrolle über meinen Körper zurückzugewinnen. Als ich dies schließlich schaffte, hob ich die Hand zu seinem Gesicht. Meine Nerven waren taub, ich nahm die Bartstoppeln auf seinem Gesicht nicht einmal war. Aber ich spürte, dass er meine Hand nun mit seiner umschloss. Ich wusste, dass ich nicht viel herrausbringen würde, was seine Sorge lindern konnte, also überlegte ich gut. "I-h lie-e di-h." krächzte ich. Mario lachte hysterisch auf und ich spürte Tropfen, die durch meine Haare auf meine Kopfhaut trafen. "Das hast du auch in Brasilien gesagt, bevor du den Herzstillstand hattest." schluchzte er. "Mario, komm. Du machst dich nur kaputt." erklang plötzlich eine andere Stimme. Mario hob ruckartig den Kopf. Er hatte wohl ebenso wenig bemerkt, dass jemand den Raum betreten hatte. Schritte. Dann streiften ein paar Finger meine Hand, als sie Mario's Hand von meiner herunterzogen. Meine Hand rutschte sofort herunter, weil ich zu schwach war. "Mario, lass sie los. Du kannst ihr nicht helfen." befahl die Person wieder. Mario wurde von mir weggezogen. "Nein. Nein. Dad, sie schafft es nicht. Guck sie dir an." schluchzte Mario nur wieder. "Mario, schau mich an." drängte Jürgen. Mario schniefte nur. "Schau mich an." wiederholte er. "Sie schafft das. Aber erst musst du dich wieder beruhigen. Mach ihr Hoffnung, keine Angst. Und vertrau dich endlich jemandem an." meinte er dann. Jemandem anvertrauen? Was denn anvertrauen? "Manu kommt vorbei." murmelte Mario. "Okay. Sag ihr noch, dass du gehst." forderte Jürgen. Ich hörte keine Schritte, also wartete er auf Mario. Dieser kam nochmal zu mir. Seine Wange berührte meine. "Ich werde deinem Bruder alles sagen. Und du erfährst es irgendwann auch. Auch wenn es dir nicht gefallen wird." flüsterte er in mein Ohr. Dann legte er seine Lippen auf meine. Ich schmeckte seine Tränen. Dann ging er raus. Ich schlug die Augen auf.
Mario's Sicht:

Kaum war ich unten, klingelte es bereits an der Haustür. Ich wusste nicht, ob es wirklich so sinnvoll war, jetzt auch noch mit Manu darüber zu sprechen. Ich war sowieso schon am Ende. Die Mischung aus Hass und Entsetzen machte mich fertig. Ich riss die Tür auf und sah direkt in Manu's misstrauisch dreinblickende Augen. "Was ist? Wo ist Nell? Warum seid ihr überhaupt hier?" überhäufte er mich direkt mit Fragen. Ich biss mir auf die Unterlippe. "Schiebler." nuschelte ich schließlich und wich dann zur Seite, damit er eintreten konnte. Er lief direkt durch ins Wohnzimmer. Wahrscheinlich musste er sich beherrschen, vor meinen Eltern nicht sofort auszurasten. Meine Eltern und Manu saßen jetzt gemeinsam mit mir auf der Couch. "Möchtest du etwas trinken?" fragte meine Mutter höflich. "Nein, danke." lehnte Manu mit einem erzwungenen Lächeln ab. "Also vorab mal zu Nell.", begann ich und sah dabei Manu an, weil meine Eltern über ihren Zustand ja informiert waren, "Ihr ging es in letzter Zeit ja nie wirklich gut, aber seit heute hat es... gravierende Ausmaße. Ihr geht es ziemlich schlecht. Fieber, Schweißausbrüche und so weiter. Richtig schlimm wurde es erst,nachdem sie heute mit ihrem Vater in einem Café war." Manu sah jetzt schon ziemlich schockiert aus. Ich atmete tief durch und erzählte weiter. "Ich bin deshalb zu dem Café gefahren, in der Hoffnung, ihr Vater könnte mir sagen, ob sie möglicherweise etwas zu sich genommen hat, das ihr nicht bekommen ist. Und ich hab ihn dort auch angetroffen. Allerdings nicht allein. Schiebler saß mit ihm am Tisch." Meine Eltern und Manu sahen sich gegenseitig an. "Ich dachte zuerst, Schiebler würde auch ihn bedrohen, aber dann hab ich das Gespräch zwischen ihnen belauscht. Sie stecken unter einer Decke. Euer Va-... Herr Neuer hat irgendetwas geplant. Ich glaube, er will Nell's Vertrauen gewinnen, indem er sie in  der Zeit, in der Schiebler ihr auflauert, beschützt. Sie wollen uns alle unterkriegen. Ich weiß nicht, was im Endeffekt passieren soll, aber was die da tun, ist mehr als kriminell." Manu stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. Er brodelte innerlich, das sah man ihm an. "Und was ist der Grund, dass es ihr so schlecht geht?" fragte meine Mutter in die drückende Stille hinein. Ich fackelte nicht lange. "Sie haben Nell vergiftet." erklärte ich. Jetzt konnte sich Manu nicht mehr zurückhalten. "Bitte was?! Dieses dreckige Arschloch! Zum Teufel nochmal, ich wusste es!" brüllte er vor sich hin. "Ich habe belauscht, wie dein Vater davon sprach, dass sie Nell damit ans Bett fesseln wollen." füge ich als Bekräftigung meiner Aussage hinzu. "Hast du 'nen Knall?! Was sollen diese Hirngespinnste?" erklang auf einmal Nell's Stimme. Wir alle wandten uns der Treppe zu, wo sie oben am Geländer stand...

Liebe stirbt nicht {Mario Götze u.A.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt