Kapitel 119

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Mario's Sicht:

Weil alle anderen sich nicht rühren, löste ich mich von meinem Standpunkt ung schritt zur Tür. "Wenn das mein Vater ist, schick ihn weg." gab Nell mir mit. Ich sah sie kurz an, ließ dann aber meinen Blick zu Manu schweifen. Er verschränkte die Arme, wobei seine blauen Augen kurz aufblitzten. Er verstand immer noch nicht, warum Nell wegen ihres Vaters so gelassen blieb. Aber mittlerweile verstand ich sie auh nicht mehr. Dieser Blickwechsel zwischen uns verriet, dass wir - sollte tatsächlich Herr Neuer vor der Tür stehen - trotzdem ruhig bleiben würden. Wegen Nell. Aber auch nur ihretwegen. Ich öffnete auf alles gefasst langsam die Tür, war dann aber doch überrascht, als ich den Besuch erblickte. Zwei Polizisten in Uniform standen vor der Tür. Ich fühlte mich erst recht wie in einer Krimiserie, als beide synchron ihren Dienstausweis vorzeigten. Ich starrte kurz darauf, bevor ich die beiden fragend ansah. "Guten Tag. Sind wir hier richtig bei Elena Neuer?" sprach der eine nun. "Äh... ja." stammelte ich, bewegte mich aber nicht von der Stelle. Manu trat auf einmal neben mich. Mit einem freundlichen Nicken begrüßten die Polizisten auch ihn. "Könnten wir denn mit ihr sprechen?" kehrte der andere nun zum Thema zurück. "Sie hatte einen Herzinfarkt. Ich weiß nicht, ob das geht." zweifelte Manu. "Keine Sorge Herr Neuer, wir haben bereits eine Bestätigung des behandelnden Arztes erhalten. Sonst hätten wir uns sicherlich nicht die Mühe gemacht, direkt herzufahren." erklärte der Polizist in einem verständnisvollen Tonfall. Manu und ich sahen uns kurz an, bevor wir beide zur Seite traten. Beziehungsweise lief ich direkt zu Nell's Bett und setzte mich an ihre Bettkante. Sie blickte erst zu mir auf, bevor ihre Aufmerksamkeit auf die Polizei gelenkt wurde. Ihr Mund klappte leicht auf und sie starrte die Beamten teils verwirrt, teils empört an. Die Empörung galt allerdings nicht wirklich ihnen. "Wer hat die Polizei informiert?" wollte sie wissen und ließ anklagend ihren Blick über uns schweifen. Ich tat es ihr nach, schließlich war ich es nicht. Nur ratlose Gesichter. Bis auf Marco, der schuldbewusst zu Boden blickte. "Du?" gaben Nell und ich gleichzeitig von uns. Marco sah sie entschuldigend an. "Ich hab es doch gesehen Nell. Es tut mir leid, aber irgendwann reicht es." meinte er. "Frau Neuer, Herr Reus hat definitiv das Richtige getan. Nur wenn wir einen Anhaltspunkt haben, können wir ermitteln und es ist nunmal unsere Pflicht, das Opfer schnellstmöglich zu befragen, damit fälschliche Erinnerungen nicht in die Ermittlung aufgenommen werden." mischte sich einer der Polizisten ein. Marco warf mir einen hilfesuchenden Blick zu, worauf ich ihm aufmunternd zunickte. "Sind Sie bereit, auszusagen?" wollte derselbe Polizist nun wissen. "Ich kann mich an das, was passiert ist, sowieso kaum erinnern." murmelte Nell. "Wir nehmen alles, was wir kriegen können. Außerdem war Herr Reus ja auch dabei und kann uns vielleicht etwas sagen." entgegnete der Polizist. Kurze Stille trat ein. Nell verdrehte schließlich die Augen und nickte wohlwollend. "Gut. Würden Sie bitte einmal alle den Raum verlassen? Bis auf Herrn Reus. Es dauert nicht sehr lange." verkündete der andere Polizist.

Nell's Sicht:

Mario küsste zärtlich meine Hand, bevor er mit seiner Familie und meinem Bruder den Raum verließ. Marco nahm nun Mario's Platz ein. Normalerweise war es für ihn als meinen besten Freund selbstverständlich, aber diesmal zögerte er, bevor er nach meiner Hand griff und sie vorsichtig umschloss. Meine andere Hand war nun aber für einen der Polizisten bestimmt, den großen, dunkelhaarigen. "Mein Name ist Bauermeister. Mein Kollege Meyer." stellte er sich vor und deutete dann auf den anderen. Ich schüttelte zögerlich seine Hand. "Also Frau Neuer, woran erinnern sie sich?" wollte Meyer wissen. "Ich weiß nur noch, dass mein Vater mich unter Druck gesetzt hat und mein Herz viel zu schnell geschlagen hat." sagte ich. Bauermeister schrieb etwas auf. "Womit hat er sie unter Druck gesetzt?" erkundigte er sich. "Ich hab ihm schon ein paar Mal Geld gegeben und er hat mir wieder sein Leid geklagt, aber ich habe direkt verneint. Er ist sauer geworden und hat mir vorgeworfen, ich würde ihn im Stich lassen, wenn ich ihm kein Geld gebe." erzählte ich bereitwillig. Marco neben mir gab ein schockiertes Keuchen von sich, als er das hörte. Den Polizisten blieb das nicht verborgen. "Stimmt etwas nicht?" wollten sie von Marco wissen. "Nein, ich... naja wissen Sie, Nell ist die Einzige, die bisher auf Seiten ihres Vaters stand." sagte er. Die Beamten wurden nun hellhörig. "Wieso das? Weil er vorbestraft ist?" hakten sie nach. "Nein, weil Mario herausgefunden hat, dass-..." plapperte Marco weiter, als ich ihm einen warnenden Blick zuwarf. "Frau Neuer, er darf die Aussage als Zeuge nicht verweigern, also lassen Sie ihn reden." wies mich Meyer zurecht. "Das sind banale Anschuldigungen, die er da macht." murrte ich trotzig. "Nell, ist das dein Ernst? Dein Vater bringt dich beinahe um und trotzdem ziehst du Mario's Theorie nichtmal ansatzweise in Betracht?" fuhr Marco mich an. Ich wich seinem Blick aus. "Worin besteht denn Mario's Theorie?" brachte Bauermeister sich nun wieder ins Gespräch ein. "Er hat Herr Neuer und Herr Schiebler belauscht. Sie hecken irgendeinen Racheplan aus, weil Nell beide bereits ins Gefängnis gebracht hat. Herr Neuer hat ihr deshalb mehrmals dieses Zeug untergemischt. Und bei dem Gespräch sagte Schiebler irgendetwas davon, dass sie bald zum Pflegefall werden würde." erzählte Marco. Meine Gesichtsmuskeln entglitten mir. So wie Marco mir das noch einmal vor Augen führte, machte es irgendwie doch Sinn. Es schien mir auf einmal so logisch. Warum sollte Mario plötzlich so eine Geschichte erfinden und kurz danach mischte mir mein Vater tatsächlich etwas unter - was ja zweifelsohne nachgewiesen wurde. Das wäre mehr als ein Zufall. Oder eben einfach die Wahrheit. Desto weniger Dinge mir einfielen, die gegen eine Zusammenarbeit Schiebler's mit meinem Vater sprachen, desto mehr Angst kam in mir auf. Mein Vater hatte mich misshandelt, Schiebler mich beinahe vergewaltigt - mehrmals. Das in Kombination... "Frau Neuer? Alles in Ordnung?" durchbrach Bauermeister meine Gedanken. Ich blickte zwischen den drei Gesichtern hin und her, die mich anstarrten. "Ja." nuschelte ich leise. "Er hat Recht, oder? Sie glauben auch daran und fürchten sich vor Ihnen." las er meine Gedanken und deutete auf Marco. Ich folgte seinem Wink und sah in Marco's Augen. Mitleidig erwiderte er meinen Blick. "Ich... ich weiß es nicht. Vielleicht..." gab ich schließlich nach. Marco atmete beinahe erleichtert aus und strich mit seinem Daumen über meinem Handrücken. Der Polizist nickte und tauschte einen Blick mit seinem Kollegen. "Sie sind sich aber darüber bewusst, dass es schwere Folgen für Sie hat, wenn ihr Verdacht nicht berechtigt ist. Herr Schiebler befindet sich schließlich im Zeugenschutzprogramm." fuhr Meyer fort. Ich nickte. "Können wir nicht Mario dazu holen? Er hat das Gespräch schließlich persönlich gehört." meinte Marco. Bauermeister sah Meyer fragend an, welcher nickte. Also stand er auf und verließ den Raum, um kurz darauf mit einem sichtlich aufgewühlten Mario zurückzukehren. Die beiden Polizisten bedeuteten Marco und mir, ihn aufzuklären. Da ich aber selbst zu verwirrt von meinen eigenen Gedanken war, ergriff Marco das Wort. "Nell... sie glaubt dir. Glaube ich..." sagte Marco knapp und warf mir einen Blick zu, als wäre ich eine komplizierte Matheaufgabe, die er zu lösen hatte. Mario sah mich dementsprechend überrascht an. "Herr Götze, erinnern Sie sich an irgendetwas konkretes, das die beiden Herren überführen konnte?" mischte sich Meyer wieder grob ein. Mario überlegte. Er kaute auf seiner Unterlippe, während er das Gespräch vermutlich Revue passieren ließ. Nach einiger Zeit zuckte er trotzdem ratlos mit den Schultern. "Wir brauchen Beweise." setzte Bauermeister erneut an und wandte sich an mich. "Frau Neuer, fühlen Sie sich in der Lage - natürlich erst wenn Sie wieder gesund sind - für uns als Lockvogel zu-..." Weiter kam er nicht. "Nein. Das kommt nicht in Frage. Das haben wir schon einmal versucht und alles ist schiefgelaufen." widersprach Mario. "Aber diesmal würde sie ja unter polizeilicher Betreuung stehen, Herr Götze. Wir planen das bis ins kleinste Detail. Und mit der entsprechenden Technik können Sie sich auch selbst von dem korrekten Ablauf überzeugen. Wir würden zum Beispiel hier eine kleine Kamera anbringen, die in eine Halskette eingebaut wurde und ein Mikro..." versuchte Bauermeister zu erklären und deutete an die entsprechenden Stellen meines Körpers, doch Mario baute sich nun mit dem Rücken zu mir vor mir auf. "Sie werden gar nichts. Nehmen Sie den Affen doch einfach fest! Ist mir scheißegal, was der für Schutz bezieht. Ich habe ein Recht darauf, meine Freundin zu schützen." zischte Mario ohne Scheu vor den Polizisten. Bauermeister wollte ihn beruhigen und hob die Hände. "Herr Götze, wir wissen, was wir tun. Beruhigen Sie sich." bat er. Mario schüttelte seine Hände ab. "Wie soll ich mich bei so unfähigen Lackaffen beruhigen, die es nicht auf die Reihe kriegen, eine junge Frau vor zwei  Schwerverbrechern zu schützen, die breiter als der Türsteher sind?!" regte sich Mario weiter auf. Er kochte und war außer sich. Währenddessen beobachtete ich, wie Meyer's Hand langsam zu seinem Gürtel wanderte, wo er die Finger um die Dienstwaffe legte, die er bei sich trug. Nicht, dass er Mario erschießen wollte, nein. Es war nur seine Pflicht, Mario zurecht zu weisen, wenn es so nötig war. "Mario, jetzt hör aber mal auf oder willst du auch noch ne Anzeige wegen Beamtenbeleidigung?" mischte sich auch Marco ein. Ich verfolgte die ganze Szenerie nur stumm. "Beamtenbeleidigung sind so Typen wie die." fauchte Mario und deutete mit dem Kinn abwertend auf Meyer und Bauermeister. "Können wir dieses Gespräch möglicherweise auf später vertagen?" trug ich nun auch meinen Teil dazu bei. Alle sahen mich an. Ich machte extra ein bisschen auf erschöpft. "Sicher. Wir kommen heute abend noch einmal, wenn es Ihnen recht ist." meinte Bauermeister. Ich nickte und die beiden verließen das Zimmer. "Marco, würdest du uns bitte auch kurz allein lassen?" richtete ich mich auch an ihn. Ohne auch nur irgendeine Reaktion zu zeigen, ging er nach draußen. "Bekomm ich jetzt 'ne Standpauke?" fragte Mario mürrisch. Ohne auf seine Frage einzugehen setzte ich mich auf, nahm seine Hände und zog ihn her. Er stand nun vor mir und sah mich mit immernoch demselben mürrischen Blick an. Trotzdem bemerkte ich den fragenden Ausdruck in seinen Augen. "Motz, so viel du willst, ich nehm gar nichts zurück." meinte er noch. Ich schüttelte nur leicht den Kopf, bevor ich meine Hände um sein Gesicht legte und ihn einfach küsste. Er war merklich überrascht und erwiderte den Kuss nicht. Er löste sich von meinen Lippen und sah mir in die Augen. Er musste wohl bemerkt haben, dass das kein Plan war, ihn zu beruhigen, sondern dass mir momentan einfach nach seiner Nähe war. Deshalb nahm er mich einfach in den Arm, drückte meinen Kopf an seine Brust und verteilte Küsse auf meinem Haar. "Es ist voll süß, dass du mich beschützen willst." murmelte ich an seinem Hals. "Das klingt nach einem Aber." entgegnete er. Seine Stimme klang jetzt ruhig. Ich seufzte. "Beamtenbeleidigung sind so Typen wie die?" wiederholte ich seine Worte. Er drückte mich noch fester an sich. "Ich will doch nur, dass das alles endlich ein Ende hat. Und das soll nicht damit enden, dass du zum X-ten Mal im Krankenhaus landest oder Schlimmeres." meinte er. "Ich weiß." murmelte ich nun wirklich erschöpft. "Willst du schlafen?" fragte er sofort. Ich schüttelte leicht den Kopf. "Bleib bei mir." bat ich. Ich konnte sein Lächeln förmlich spüren. Ohne mich loszulassen ließ er sich auf der Bettkante nieder. Ich küsste leicht die Stelle, an der meine Lippen seinen Hals berührten. Seine Muskeln lockerten sich augenblicklich. Ich fuhr also fort. Er gab ein wohliges Seufzen von sich. Ich löste mich grinsend von ihm und sah ihm in die Augen. "Sexverbot ist scheiße." jammerte er halb lachend. "Ich muss sowieso noch eine Weile hier bleiben." sagte ich. Er grinste nun auch. "Das wäre mir sowas von egal." meinte er. Ich schlug ihm auf die Brust. "Dazu müsstest du erst mal deine Freundin fragen." erinnerte ich ihn. "Die krieg ich immer rum." erwiderte er verführerisch und küsste mich verlangend. "Mario..." nuschelte ich gegen seine Lippen. "Oh ja Baby, stöhn meinen Namen." scherzte er. Ich musste so lachen, dass wir uns voneinander lösen mussten. Er stieg nun mit ein. Irgendwann beruhigten wir uns wieder. Mario hatte die Füße hochgelegt und ich lag in seinem Arm. "Vielleicht sollten wir den anderen Mal Bescheid geben." sagte ich irgendwann. Mario wandte mir sein Gesicht zu. "Warum?" lächelte er. "Denkst du, Marco hat ihnen schon von dem Plan der Polizei erzählt?" entgegnete ich. Mario runzelte die Stirn. "Du willst das doch nicht etwa durchziehen?" wollte er wissen. Ich verdrehte die Augen. Mario schlang den Arm um mich. "Nell bitte, tu das nicht. Ich will nicht, dass dir etwas passiert." flehte er. "Sehe ich auch so." erklang plötzlich Manu's Stimme an der Tür. Mario und ich sahen ihn beide an. "Was haben wir denn für eine Wahl?" sprach ich. "Auf jeden Fall nicht diese." murrte Manu. "Ihr könnt mir das nicht verbieten. Außerdem wäre es egoistisch, diesen Menschen frei herumlaufen zu lassen und damit andere zu gefährden." widersprach ich. "Aber hast du denn keine Angst?" wollte Mario wissen. "Doch. Todesangst. Aber ich weiß dass ich den besten Freund und den besten Bruder der Welt an meiner Seite habe. Und Marco." antwortete ich. Manu und Mario tauschten Blicke aus. Manu lief nun herüber und nahm meine Hand. In seinen Augen standen Tränen. "Ich würde es mir nie verzeihen, wenn er dir noch einmal wehtut, Nell. Weil... weil... mir alles so leid tut... Dass ich dich damals...allein bei ihm gelassen habe...und deine Beziehung mit Mario und... das, was... in letzter Zeit schief gelaufen ist... Aber Nell, du musst mir eins glauben... Ich bin nicht so wie er. Ich bin ein anderer Mensch als unser Vater... Und ich hätte dich nie geschlagen. Egal...was passiert, ich hätte dir nie wehgetan. Bitte glaub mir." schluchzte er auf einmal. Ich setzte mich ruckartig auf und sah ihn aufgewühlt an. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, wie sehr meine Worte ihn getroffen hatten. "Manu, das weiß ich doch. Es tut mir so leid, was ich dir da an den Kopf geworfen habe. Ich hab dich doch lieb, großer Bruder." sagte ich und brach dann selbst in Tränen aus. Manu schlang seine kräftigen Arme um mich. Er schnürte mir beinahe die Luft ab, aber das war egal. Ich hatte ihn noch nie so aufgelöst gesehen. "Aber Manu, genau deshalb wird es Zeit, dass wir beide die Wahrheit erfahren. Und zwar die ganze. Ich muss das tun. Damit wir endlich Gewissheit haben, was wirklich passiert ist. Damals mit Mum und heute mit Schiebler." wimmerte ich an seinem Ohr. "Okay." brachte er nur hervor. Eine Hand berührte meinen Rücken und ich wusste sofort, dass es Mario war. Ich blickte kurz zu ihm und streckte einen Arm nach ihm aus. Er rückte näher heran, worauf Manu uns beide direkt in den Arm nahm. Mario war sichtlich ünerrascht. Aber ich war mir in diesem Moment sicher: Wenn das alles endlich überstanden war, wäre endlich alles perfekt. Aber eben erst danach...

Liebe stirbt nicht {Mario Götze u.A.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt