Kapitel 109

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Ich stand noch ziemlich unter Schock von dem, was gerade passiert war. Ich hatte wirklich eine Waffe auf jemanden gerichtet. Hätte ich geschossen, wenn es keinen Ausweg mehr gegeben hätte? Darüber wollte ich jetzt lieber nicht nachdenken. Der Hass auf Schiebler hatte sich tief in mir festgesetzt. Jetzt wusste ich, dass er vor nichts - vor nichts auf dieser ganzen Welt - zurückschrecken würde. Ich war nicht mehr in der Lage, uns im Auto zur Polizei zu bringen, deshalb fuhr Marco. Wobei der jetzt nicht sehr viel entspannter schien. Besser wurde es auch nicht, als wir dann bei der Polizei von drei Beamten angestarrt wurden, während diese eine Pistole sicherstellten. Da wir nun möglicherweise Beweise in Form von Fingerabdrücken besaßen, erzählten wir alles von vorne bis hinten. Ich hielt Nell davon ab, sich zu weit in ihre Erinnerungen fallen zu lassen, denn sonst brach sie in Tränen aus und konnte sowieso nicht weitersprechen. Die Tatsache, dass Schiebler ja bereits aufgrund von versuchter Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung - ebenfalls an Nell - im Knast gesessen hatte, bestärkte unsere Aussage. "Frau Neuer, Herr Neuer, Herr Reus, dürften wir Sie noch einen Moment nach draußen bitten?" verlangte der Polizist, der gegenüber am Schreibtisch saß, irgendwann. Nell warf mir einen Blick zu. "Ich habe keine Geheimnisse." sagte ich und hob unschuldig die Hände. Der Polizist nickte freundlich. "Selbstverständlich, es ist nur unsere Vorschrift." erklärte er. Nell wurde langsam unruhig. Sie erhob sich. "Er hat mich doch nur verteidigt. Er hätte nicht geschossen." meinte sie aufgewühlt. Einer der beiden anderen Polizisten löste sich jetzt von seiner Position neben der Tür und legte seine Hand behutsam auf Nell's Rücken. "Frau Neuer, wir wollen ihrem Lebensgefährten lediglich ein paar Fragen stellen." beruhigte er sie. Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie einmal, worauf sie auf mich hinab blickte. Ich versuchte ihr zu vermitteln, dass das in Ordnung war. Sie verstand wohl, denn sie schüttelte die Hand des Polizisten ab und beugte sich zu mir herunter, um ihre Lippen auf meine zu legen. Ich legte eine Hand an ihre Wange und erwiderte den Kuss kurz, bevor wir uns voneinander lösten und die drei verschwanden. Während die Tür offen stand, hörte ich vom Gang einen aufgebrachten Manu, der offenbar in der Zwischenzeit informiert wurde. Der Polizist schloss die Tür und positionierte sich wieder daneben. Ich wandte mich wieder an den anderen. Er und sein Kollege grinsten mich an, vermutlich weil Nell und ich uns eben einfach geküsst und uns dabei nicht hatten stören lassen. Der eine Polizist, der hinten an der Wand lehnte, deutete jetzt grinsend auf seinen Mund und dann auf mich. Ich musste ebenfalls grinsen und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund. Lippenstift. Aber zurück zum Thema. "Wenn es um eine Geldstrafe geht, weil ich diesen Perversen mit einer Knarre bedroht habe, ich werde natürlich zahlen." verkündete ich sofort. "Nein nein. Ihre Freundin hat schon recht, das war Notwehr. Es geht um etwas anderes." meinte er. Ich richtete mich in meinem Stuhl auf. "Aha. Und worum?" wollte ich gespannt wissen. "Nun ja, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es ist so: Ihre Freundin wurde nach ihren Aussagen und nach der Aktenlage ja bereits mehrmals von Herrn Schiebler belästigt und sexuell genötigt. Für die versuchte Vergewaltigung hat Herr Schiebler seine Freiheitsstrafe bekommen, die aber nach einiger Zeit zur Bewährung ausgesetzt wurde." begann er. Ich hob die Augenbrauen. "Worauf wollen sie hinaus?" drängte ich. "Eine Frau - vor allem im Fall ihrer Lebensgefährtin - wird bei sowas einer schweren psychischen Belastung ausgesetzt. Da kann man schon mal Rachegelüste entwickeln, nicht?" meinte er ernst. Ich schüttle ungläubig den Kopf. "Ist das Ihr Ernst?! Sie werfen mir vor, meine Freundin zu einer Falschaussage geraten zu haben, damit dieses Arschloch ins Gefängnis wandert?!" wurde ich bereits lauter. "Herr Götze, ich bitte Sie. Halten Sie sich etwas zurück. Das war keine Verdächtigung. Es könnte dennoch sein, dass Ihre Freundin die ganze Sache etwas schlimmer sieht, wenn nicht überdramatisiert, was in solch einer Situation durchaus verständlich ist." versuchte er mich zu beruhigen. "Nell ist vollkommen klar im Kopf und sie hat berechtigterweise Angst, wenn ein Mensch frei herumläuft, der sie schon mehrmals 'sexuell genötigt' hat, wie Sie es so schön ausgedrückt haben. Es ist Ihr Job, für ihre Sicherheit zu sorgen! Polizei, mein Freund und Helfer!" motzte ich. "Das würden wir ja gerne, aber das ist nicht so einfach." widersprach er. "Warum?!" wollte ich wissen. Der Polizist warf einen Blick zu seinem Kollegen, der unmerklich nickte. Dann lehnte er sich auf dem Schreibtisch vor, um mir endlich vertrauliche Informationen zu liefern. "Herr Schiebler ist vor einigen Jahren selbst Opfer eines Terroranschlags geworden und befindet sich seitdem im Zeugenschutzprogramm. Ohne 100%ige Beweise können wir ihn nicht festnehmen." offenbahrte er mir. Ich lehnte mich zurück. "Nein." ist das Einzige, was ich auszusprechen wagte. "Es tut mir ehrlich leid, aber sie müssen wohl vorerst selbst für das Wohl ihrer Freundin sorgen. Sie vertraut Ihnen und ich denke das kann sie auch." entschuldigte er sich. Was ich in diesem Moment dachte, sprengte jeglichen Vorwurf der Beamtenbeleidigung, deshalb hielt ich mich zurück. "Kann ich jetzt bitte gehen?" bat ich gezwungen. Er nickte, worauf ich mich erhob und zügig den Raum verließ. Im Gang fiel mir direkt Nell um den Hals. Sie ließ ihre Hände von meinem Nacken auf meine Wangen gleiten und sah mich besorgt an. "Was wollten die?" erkundigte sie sich. "Ach, nur nochmal Fingerabdrücke wegen der Pistole." log ich, um sie nicht noch mehr zu verängstigen. Dann schlang ich fest die Arme um sie. Zuerst vergrub ich das Gesicht in ihren Haaren, doch Marco's Gesichtsausdruck zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Er wusste genauso gut wie ich, dass man ihn dann auch danach gefragt hätte, schließlich hatte er die Waffe auch in der Hand. Auch Manu bemerkte diesen Blickwechsel und sah uns warnend an. Er wollte Antworten. "Ja, Manu und ich gehen dann mal." verkündete Marco. Nell löste sich von mir. "Kann ich dich noch kurz sprechen, Mario?" forderte Manu. Ich nickte nur, worauf er mich etwas beiseite zog. "Du passt auf meine kleine Schwester auf, kapiert?! Sonst bring ich dich um. Und lass sie nicht mehr alleine raus, erst recht nicht mit dem!" knurrte er eindringlich und deutete auf seinen eigenen Vater. Ich nickte nur, worauf er verschwand. Wir brachten Nell's Vater noch nach Hause, wo Nell ihn umarmte. Ich traute diesem Menschen immernoch nicht. Aber das war momentan mein kleinstes Problem. Wir fuhren zu mir nach Hause. Es war mittlerweile schon Abend und ich versuchte mich darin, uns beiden Essen zu machen. Als die Spaghetti fertig waren, die ich gerade noch so zu Stande brachte, ging ich ins Schlafzimmer, wessen Anblick mir erstmal einen ordentlichen Schrecken einjagte. Nell's Koffer lag auf dem Bett und sie warf gerade ihre Klamotten hinein. Ich ging auf sie zu und schlang meine Arme um ihre Taille. "Nell, du bist hier sicher vor Schiebler. Bitte zieh nicht aus." flehte ich. Sie drehte sich um und sah mich fragend an. "Ausziehen? Ich will doch garnicht ausziehen." meinte sie. "A-aber der Koffer?" stotterte ich. Sie lächelte mich an. "Du Dummerchen, wir müssen noch diese Woche nach Moskau!" erinnerte sie mich. "Nach Moskau? Du willst mit zum Spiel?" wiederholte ich. "Äh, ich bin eure Ärztin?" lachte sie. "Ja, aber du bist krank geschrieben!" widersprach ich. "Falsch. Ich war krank geschrieben. Aber jetzt braucht ihr mich wieder." lächelte sie. Dann löste sie sich aus meinen Armen und packte weiter. "Aber das, was heute passiert ist..." "...will ich vergessen. Und wie könnte ich das besser als mit meinen Weltmeistern?" freute sie sich. "Bist du dir sicher?" wollte ich wissen. Sie hörte jetzt endlich auf und kam auf mich zu. Sie zog mich am Kragen zu sich. "100%ig." flüsterte sie noch, bevor sie mich küsste. Sie ließ sich auf das Bett fallen und zog mich mit. Dann vergrub sie die Finger in meinen Haaren. "Nell..." unterbrach ich sie. Ich spürte ihren Atem auf meinem Gesicht und genoss das einfach einen Moment. Dann kehrte ich in die Realität zurück. Ich ging von ihr runter. "Ich hab Essen gemacht." fiel mir ein. Sie seufzte und folgte mir in die Küche. Ich fand noch eine Flasche Rotwein. Gemeinsam mit zwei Gläsern stellte ich diese auf den Tisch.

Liebe stirbt nicht {Mario Götze u.A.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt