Kapitel 97

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Nell's Sicht:

Die letzten Stunden waren hektisch verlaufen. Mario hatte sich im Hotel noch bei mir entschuldigt, weil er mich zuvor so angefahren hatte. Die Nacht verbrachte ich aber trotzdem nicht bei ihm, sondern bei Marco, er ließ mir nämlich keine Ruhe. Ich musste ihm alles bis ins kleinste Detail auflisten, als was sich seine Verletzung herausstellen könnte. Inklusive Behandlung und dementsprechender Spielpause. Er war ja auch mein bester Freund, also saß ich bis in die frühen Morgenstunden auf seinem Bett und massierte vorsichtig seinen linken Fuß, um diesen zu entlasten. Dabei machte ich genau wie Marco kein Auge zu. Als er wohl irgendwann doch über seinem Handy eingeschlafen war, entfuhr mir ein Gähnen. Die Müdigkeit brach jetzt über mich ein. Ich rollte mich seitlich auf dem Bett zusammen, kümmerte mich aber weiterhin um Marco's Fuß. Zumindest bis meine Augenlider dann zu schwer wurden, und endgültig zufielen. Ich hatte das Gefühl, gerade zwei Minuten zu dösen, da wurde sanft an meiner Schulter gerüttelt. "Nell?" "Lass mich." murrte ich. Ohne Umschweife wurde ich gewaltsam aus dem Bett gerissen. Als ich vor Schreck meine Augen aufschlug, blickte ich in die grau-grünen von Marco, in dessen Armen ich mich befand. "Spinnst du?! Denk doch mal an deinen Fuß!" erinnerte ich ihn aufgebracht. "Das tue ich. Wir müssen jetzt nämlich ins Krankenhaus. Außerdem tut er schon nicht mehr so weh. Deine Massage hat geholfen, schau!" meinte er fröhlich und streckte den linken Fuß hoch, um ihn vor meinen Augen ein Wenig kreisen zu lassen. Dabei verzog er dann aber doch vor Schmerz das Gesicht. "Marco, lass mich jetzt runter." befahl ich ruhig. Er tat wie geheißen und setzte mich wieder auf dem Bett ab. Er blickte niedergeschlagen zu Boden. Ich zog ihn neben mich. "Es bringt nichts, sich jetzt alles schönzureden und zu riskieren. Egal was es ist: Es wird wieder. Du bist 25 und hast nach deinem jetzigen Stand noch 10 Jahre zu spielen!" munterte ich ihn auf. Oder versuchte es zumindest. "Jeder Tag, den ich nicht spielen darf, ist einer weniger. Und die 10 Jahre sind auch nur möglich, wenn es gut läuft. Ich bin nicht Miro." widersprach er. Ich seufzte ergeben. "Komm, wir gehen. Du brauchst deine Diagnose." verkündete ich. Er nickte. Ich schlich zu Mario ins Zimmer. Er schlief noch. Ich schlich zum Bett und drückte ihm einen Kuss auf, dann ging ich duschen. "Ich hab dich heute Nacht vermisst." erklang plötzlich Mario's Stimme. Ich drehte mich in der Dusche halb um. Er lehnte am Waschbecken und beobachtete mich. "Mit einem Spanner will ich nicht im selben Bett schlafen." gab ich zurück. Er lachte kurz leise. "Wie geht's Marco?" wollte er direkt wissen. Ich stellte das Wasser ab, worauf Mario ein Handtuch nahm und es mir durch die Glastür reichte. Ich wickelte es um meinen Körper und trat neben ihn. "Mal abgesehen davon, dass er mit Gewalt versucht, stark zu bleiben und mich davon vom Schlafen abhält, gehen wir gleich ins Krankenhaus zur Kernspintomographie." klärte ich ihn auf. "Du gehst mit?" fragte er verwundert und starrte auf die Wassertropfen, die von meinem Haar über mein Dekoltée rannen. "Natürlich, das ist mein Job." antwortete ich. "Mhmm..." gab er nur von sich. Obwohl das schon wieder ein Zeichen seines komischen Verhaltens in letzter Zeit war, überspielte ich es gekonnt. "Da weißt du jetzt nicht, wen du mehr vermissen sollst: Marco oder mich!" lachte ich und wandte mich zum gehen. Er schlang seine Arme von hinten um mich und zog mich zurück. "Das ist richtig mies! Man(n) darf sich nicht zwischen einer Frau und seinem besten Kumpel entscheiden!" meinte er schmollend. Ich nickte ironisch. "Ach ja, stimmt. Wie heißt euer Kodex? Bros before Hoes?" Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er rot wurde. "Okay, lassen wir das." lachte ich. Ich zog mich dann an und verabschiedete mich von Mario. Gemeinsam mit Marco fuhr ich zum Krankenhaus. Obwohl es ungerecht war, durfte sich Marco vor die anderen Patienten drängeln und kam auch gleich dran. Die Untersuchung wurde vorbereitet und ich informierte den behandelnden Arzt über Marco's Zustand. Ich wollte während der Untersuchung wieder raus, um in der Cafeteria oder sonst wo zu warten, weil ich diese Atmosphäre nicht ertrug. Ja, ich war Ärztin und wollte meinen Doktortitel aber wer fühlte sich in einem Krankenhaus schon wohl? Außerdem hatte ich das in der vergangenen Zeit oft genug gesehen. Kurz gesagt: Ich hasste Krankenhäuser. Doch der Arzt hielt mich auf. "Frau Neuer, vielleicht wäre es besser sie würden hier bleiben und ihm die Anweisungen und so weiter persönlich durchgeben, dann ist der Herr Reus vielleicht entspannter." meinte er. Wenigstens war er etwas einfühlsam und nicht so einer, der auf sein Professor Doktor Doktor was-weiß-ich bestand. Ich nickte. Durch die Glasscheibe sah ich, wie die Schwestern Marco in die Röhre beförderten. Dann verschwanden sie aus dem Raum. Über den Computer wurden alle Daten programmiert und die Untersuchung gestartet. "Fragen Sie ihn, ob alles in Ordnung ist. Reine Routine." befahl mir der Arzt. Ich drückte auf den Knopf, damit Marco mich durch den Lautsprecher in dem Raum hören konnte. "Marco?" "Nell, bist du das?" sprach er. "Ja, ich bin's. Bleib einfach ruhig. Alles in Ordnung bei dir?" fragte ich. "Können die mich auch hören?" wollte er stattdessen wissen. Ich warf einen Blick zu dem Arzt, der mir zunickte. Ich nahm die bereitgelegten Kopfhörer und stöpselte sie in dem Gerät ein. "Jetzt nicht mehr." sprach ich dann. "Mir geht's beschissen. Ich hab 'ne scheiß Angst. Die sollen endlich anfangen." meinte er schließlich. Ich gab dem Arzt ein Zeichen, damit er die Untersuchung startete. "In etwa einer halben Stunde wissen wir mehr. Dein Bericht geht sofort zu den Experten." erklärte ich ihm. "Mir wäre es lieber, du würdest dir das anschauen." entgegnete er. Ich atmete tief durch. "Mach ich, Marco." sagte ich, was dann aber womöglich sowieso nicht mehr bei ihm ankam, weil das laute Klopfen des Kernspin einsetzte. Ich setzte die Kopfhörer ab und tigerte während der gesamten halben Stunde in dem kleinen Raum auf und ab. "Sie duzen sich?" erkundigte sich der Arzt plötzlich. "Ja, wir sind gut befreundet." erwiderte ich. "Stört das nicht das professionelle Verhältnis?" bohrte er weiter. "Mit einem professionellen Verhältnis kommt man da nicht weit. Die Spieler vertrauen mir und ich vertraue ihnen. Nur so kann ich sie richtig behandeln." meinte ich stur. Er nickte. "Er kann raus." verkündete er dann. Ohne ein weiteres Wort folgte ich den Schwestern zu Marco und wartete, bis diese ihn aus diesem Ding befreit hatten. Er stand auf und zog seine Schuhe wieder an, die er aufgrund der Magnetstrahlung ausziehen musste. Er sah überhaupt nicht gut aus. Der Arzt kam nochmal und wollte sich von seinem prominenten Patienten verabschieden. "Ich will, dass sie die Ergebnisse bekommt." sagte Marco entschlossen und deutete auf mich. Der Arzt blickte auf mich herab. "Wir haben hier Spezialisten Herr Reus." meinte er. "Sie dürfen sich meinem Wille nicht wiedersetzen, oder?" konterte Marco. Der Arzt nickte nur und verschwand. "Was sollte das, Marco? Die sind doch viel besser auf ihrem Gebiet als ich!" meckerte ich. "Aber dir kann ich trauen. Und damals haben sie die zweite Verletzung auch nur durch dich bemerkt. Außerdem kommen die nur mit Fachbegriffen, die kein Mensch versteht." gab er zurück. Ich seufzte nur. Ich wartete mit Marco in der Cafeteria, wo er mir eine Tasse Kaffee ausgegeben hatte. Schwarze, lauwarme Brühe für 1€ pro Tasse. Nach einiger Zeit kam die Durchsage, ich solle ins Sprechzimmer kommen. Der Arzt überließ mir seinen Stuhl und verließ auf das Drängen von Marco sogar den Raum. Marco konnte es kaum erwarten, bis ich ihm endlich etwas genaues sagen würde, hielt aber glücklicherweise trotzdem den Mund. Nach geschlagenen zwei Stunden vollster Konzentration war ich mir sicher. "Und?" fragte Marco genau in diesem Moment. "Also, da dich das wahrscheinlich am ehesten interessiert: Es ist nicht das Syndesmoseband. Ausfallen wirst du geschätzte vier Wochen." Marco stieß geräuschvoll die Luft aus. Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Trauer, Wut, aber trotzdem Erleichterung. Er trug es mit Fassung. Also erklärte ich ihm die genaue Verletzung.

Liebe stirbt nicht {Mario Götze u.A.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt