80.

638 32 2
                                    

P.

Es klirrte, ich schaute runter und die Teller zersprangen auf dem Steinboden. Als ich wieder aufsah war sie verschwunden. Marlie, sie war es. Sie musste es gewesen sein. Ich sah zwar nur die Augen, es waren aber ihre Augen. Nie im Leben würde ich diese Augen vergessen können, sie vergessen können. Nachdem ich mich gesammelt hatte, lief ich raus in den Flur. Nirgends war sie zu sehen und ich begann das Kloster abzusuchen. Weder in den Gemäuern noch auf den Außenanlagen fand ich sie. Hatte ich mir das eben nur eingebildet? Enttäuscht machte ich mich auf den Rückweg zu meinem Zimmer um mich für die Nachtandacht mit Bernárd umzuziehen als ich Bruder Laurent in die Arme lief. Wir hatten uns bereits bei der Ankunft heute Mittag kurz kennengelernt. „Michael Patrick, ist alles in Ordnung mit Ihnen?" „Ja, nein, ich weiß auch nicht, ich dachte ich hätte eben jemanden gesehen, jemand der mir sehr viel bedeutet, aber anscheinend hat mir mein Unterbewusstsein einen Streich gespielt." „Brauchen Sie was? Kann ich was für Sie tun?" „Nein danke..." Völlig durch den Wind ließ ich mich auf mein Bett fallen. Das war doch kein Traum gewesen. Ich wusste doch was ich gesehen hab. Es war definitiv Marlie gewesen, meine Marlie...
Durch ein lautstarkes Klopfen wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und öffnete die Türe. „Bernárd?", leicht irritiert starrte ich ihn an. „Paddy, wo bist du?" „Hier, warum?" „Die Nachtandacht? Du wolltest die  Evangelium mit mir lesen?! „Fuck!" „Paddy!" „Pardon..." „Ist passiert etwas, das du bist so windig?" „Ja, nein, ach ist nicht so wichtig. Komm lass los."
Die Messe begann, ich war mit meinen Gedanken ganz woanders, was auch Bernárd bemerkte. Er stieß mich richtig an und zischte: „Paddy, das Evangelium nach Lukas! Du bist dran!" Wie ein Geist meiner selbst schritt ich nach vorne und blickte auf die Menschen. Unter 1000den hätte ich sie erkannt. Sie saß in der letzten Reihe, den Kopf gesenkt und nahm mich nicht war. Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Ich schmiss das geplante Evangelium über Bord und erinnerte mich an das Hohenlied. Und anstatt auf französisch zu lesen, kam es wie selbstverständlich auf deutsch aus meinem Mund.

DAS HOHELIED SALOMOS
(2.8-2.16 und 8.6-8.7)

Horch! Mein Geliebter! Sieh da, er kommt. Er springt über die Berge, hüpft über die Hügel. Der Gazelle gleicht mein Geliebter, dem jungen Hirsch. Ja, draußen steht er an der Wand unsres Hauses; er blickt durch die Fenster, späht durch die Gitter. Der Geliebte spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, so komm doch! Meine Taube im Felsennest, versteckt an der Steilwand, dein Gesicht laß mich sehen, deine Stimme hören! Denn süß ist deine Stimme, lieblich dein Gesicht. Der Geliebte ist mein, und ich bin sein; Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm! Stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt. Ihre Gluten sind Feuergluten, gewaltige Flammen. Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen; auch Ströme schwemmen sie nicht weg. Böte einer für die Liebe den ganzen Reichtum seines Hauses, nur verachten würde man ihn.

Dieser Text kam wie automatisch über meine Lippen und von der ersten Sekunde an konnte ich nicht meine Augen von ihr lassen. Ich hatte die ersten Zeilen nicht ganz vorgetragen schnellte ihr Kopf hoch und sie starrte mich mit aufgerissenen Augen an. Meine Stimme begann leicht zu zittern, und ich versuchte vehement mich zu konzentrieren. Sie stand auf, wollte wohl gehen, wurde aber wieder von der Person neben ihr runtergezogen. Es war Dorothee.
Ich beendete das Evangelium, ging zurück, lies meinen Blick zu ihr schweifen, aber sie war verschwunden. Also setzte ich mich zurück zu Bernárd der mich nur anstarrte. 
„Paddy, du wolltest Lukas lesen, nicht das Lied der Hohe. Der Priester hat mich gerade schon gefragt, was das sollte.", kam er zu mir in die Außenanlage. „Es tut mir leid..." „Mondieu, que t'est-il arrivé?" „Marlie..." „Marlie? Je ne comprends pas...!" „Sie ist hier!" „Qui?" „Bernárd! Marlie! Sie ist hier, hier in der Abtei!" „Woher weißt du das?" „Ich hab sie gesehen.... vorhin nach dem Abendessen und eben in der Messe..." „Deshalb le changé?" „Ja... das kam irgendwie automatisch... ich... ich..." „ Paddy, je te l'ai dir! Tu l'aimes!" „Kannst du mir helfen?" „Mit was?" „Kannst du mir sagen, wo ich sie finde? Wo ihr Zimmer ist? Ich muss sie sehen, ich muss mit ihr sprechen." „Non. Das darf ich nicht. Wir sind zwar eine moderne Abtei, dennoch sind die Zimmer in verschiedenen Korridoren. Du kennst es disch doch noch! Ce la même chose..." „Bitte Bernárd, du bist mein Freund..." „Paddy, ich komm in die Küche von Satan, wenn der Vorsteher das mitbekommt.... ich kann disch nicht verspreche, warte hier."
Ich wartete gefühlte Ewigkeiten, und inzwischen war ich ziemlich durchgefroren, als Bernárd zurückkam. „Und?", fragte ich umgehend nach. „Du hast Glück. Sie ist im Arm des Vogel!" „Du meinst im Flügel? Wie ich?" „Ja, durch die Ausflug der Kommunionkinder seit ihr beide im Zimmer für Ehen gelandet. Es ist sonst voll... sie hat Zimmer 4...." „Merci mon ami!", rief ich ihm zu und wollte keine weitere Zeit verschwenden. „Paddy! Ne foire pas!", schallte es mir nach.
Mittlerweile stand ich betimmt schon eine Viertelstunde vor ihrer Tür und traute mich nicht zu klopfen. Zweimal war sie vor mir geflohen. Vielleicht wollte sie auch gar nicht mit mir reden, geschweige denn mich sehen. Plötzlich sprach mich eine weibliche Stimme an. „Patrick, geh rein. Sie hört dein Klipfen nicht. Sie hat ihre IPods im Ohr und hört Musik..." „Hope...", kam es unterbewusst von mir, bevor ich aufblickte. „Ja!", kam nur von Dorothee, wobei sie mir auffordernd zunickte. „Geh, du hast nichts zu verlieren!"
Vorsichtig öffnete ich ihre Türe einen Spalt und sah hindurch. Ganz ruhig lag sie auf dem Doppelbett, ihre Beine angewinkelt mit Blick zum Fenster. Dorothee hatte recht gehabt... sie hörte Musik. Ich schloss die Türe hinter mir, zog meine Schuhe aus und ging Richtung Bett. Sollte ich das wirklich tun? Ganz langsam legte ich mich aufs Bett, rutschte zu ihr... Ich konnte nicht anders und legte meinen Arm um sie und zog sie ganz nah an mich ran... ihr Geruch... alle Erinnerungen waren plötzlich präsent und unterstützen nur noch mehr mein Gefühl der letzten Wochen und Monate... Marlie fehlte mir... sie fehlte in meinem Herzen.

Love AffaireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt