72|vor allem beschützen

6.7K 314 136
                                    

„Na warte ab, wenn ich Seren nicht umbringe!", war das einzige was ich noch aus Kenans Mund hörte ehe Alina nach meiner Hand griff und mich wegzog.

~

Immer noch zappelte Baran schweigend mit seinem Bein während ich die Platzwunde an seiner Augenbraue verarztete.

Wir waren zuhause, in seinem Zimmer.
Jeder ging nachhause. Einige Studenten waren sogar kurz davor die Polizei zu rufen. Als Baran und Kenan das dann mitbekamen wollten sie auch auf die los. Beide waren so von ihrer Wut gelitten.
Alina hatte mich vorher weg gebracht, weil sie merkte, dass ich mich in einer Schockstarre befand.
Baran kam nur wenige Minuten später mit einer Platzwunde an der Augenbrauen und einem blauen Fleck an seinem Wangenknochen.

„Tut das weh?", fragte ich ganz leise und tupfte mit dem Desinfektionsmittel an seiner Wunde herum, doch er zuckte kein bisschen zusammen. Genauso zornig sah er einfach stumm zur Wand. Ich drückte etwas mehr um eine Reaktion zu erfassen.
Mit einem Mal griff er nach meiner Hand und ich zuckte zusammen. Seine tiefbraunen Augen sahen langsam zu mir und seine Atmung war recht schnell.

„Was hast du mit diesem Hund für ein Problem?", fragte er recht ruhig. Ich senkte meine Hand und er ließ mich los.
Mein Herz klopfte schneller und meine Hand zitterte, doch ich versuchte mich zu beherrschen und legte alles zurück in den erste Hilfekasten.

„Das.. Das ist eine lange Geschichte. Du hast bestimmt nicht so viel Zeit.", suchte ich Auswege, aber Baran sah mich bloß grimmig an. Ich stand auf und wollte gehen, aber Baran umgriff mein Handgelenk.

„Seren!", fauchte er. Geschlagen setzte ich mich wieder neben ihn auf sein Bett.

„Tamam Tamam..", murrte ich und sah auf meine Fingernägel.
(Okay okay..)

Ich überlegte wo ich anfangen sollte und was ich sagen sollte. Baran tippte an seinem Wangenknochen herum und zischte kurz auf.

„Eigentlich fängt das alles mit dem ersten Unitag an-..", fing ich an zu erzählen.
Ich erzählte jedes Detail. Alles! Vom Anfang bis jetzt und Baran hielt sich einige Male echt zurück um keine Wutanfälle zu bekommen.
Nachdem ich meine unendlich lange Rede beendet hatte sah ich erwartungsvoll zu ihm auf. Baran war die ganze Zeit über angespannt, aber hatte nicht ein Laut von sich gegeben. Ich wollte doch nur irgendwas von ihm hören.
Nur etwas.

„Willst du nichts sagen?", fragte ich und war den Tränen nahe, da Baran sich kaum bewegte. Bloß mit einem zornigen Blick nach vorne sah.
Wieso sagte er nichts? Er sollte etwas sagen! Ich schüttelte ihm gerade mein Herz aus und er sagte nichts. Ich erzählte von meinen Gefühlen! Meinen Gedanken! Wie ich mich die komplette Zeit über fühlte. Er hätte mich auch anschreien können, aber er tat nichts. Er hätte um sich schlagen können und wenn sogar mich! Er hätte alles tun können, doch er sollte bloß reagieren!
Aber was ich in diesem Moment am meisten brauchte war, eine Umarmung. Bloß eine simple Umarmung von ihm um zu wissen, dass er bei mir war.

Doch stattdessen stand er auf und verließ mit dem Zuknallen der Tür sein Zimmer.
Ich zuckte hoch und mir lief aus Schreck eine Träne runter.

Baran

Wütend lief ich die Treppen runter und verließ das Haus. Ich steckte meine Kopfhörer rein und spielte meine Playlist ab. Mit dem Anfang des ersten Liedes fing ich an zu laufen.

Ich lief einfach.

Scheiße, ich konnte sie schon wieder nicht beschützen!
Schon wieder kam ich zu spät!
Wieso konnte ich es nicht?
Wieso schaffte ich es nicht?

Seit Enes konnte ich sie nicht beschützen.

Ich hatte doch nur eine Aufgabe.
Ich war ihr großer Bruder und ich musste sie beschützen und sie vor Gefahren fern halten, aber allein das schaffte ich nicht.
Vor meiner Nase spielte sich das alles auch noch ab. Wie Kenan ihr das Leben zur Hölle machte. Sie beschmutzte, ihre Sachen und sie einsperrte.

Und ich Bastard merkte es nicht einmal!

Ich war mir doch so sicher, dass Seren mich nicht mehr brauchte.
Sie wurde nach diesem Wichser Enes so kalt zu mir. Sie veränderte sich. Sie ließ mich nicht mehr an sich ran. Sie hasste mich.
Und ich? Ich hatte jedes Mal nur Angst um sie. Wir lebten uns auseinander und das machte mir so unglaubliche Angst. Ich hatte Angst sie würde mir irgendwann komplett aus den Händen gleiten und mich nicht mehr brauchen. Ich hatte Angst ihr würde etwas passieren und deswegen benahm ich mich manchmal wirklich furchtbar, aber ich hatte doch bloß Angst.

Ich wusste doch alles von ihr doch heute? Heute kannte ich nicht einmal mehr ihr Lieblingsessen. Damals waren wir unzertrennlich. Niemand konnte mit Seren sprechen ohne das ich dabei war.
Wir waren eins!
Wir waren Bruder und Schwester!
Wir waren beste Freunde!
Ich versprach immer sie zu beschützen, doch ich war einfach nur schwach und blind!
Nur weil sie sich damals von mir entfernte, beließ ich es und entfernte mich selbst.
So viele Jahre waren vergangen.

Brauchte es wirklich erst Kenan, dass es mir auffiel? Musste er meine kleine Schwester erst verletzen?
Ich liebte sie doch vom ganzen Herzen, aber wieso schaffte ich es nicht es zu zeigen?
Wovor hatte ich denn noch Angst?

Sie konnte mich nicht abstoßen. Sie musste auf mich hören und mich sie beschützen lassen. Ich musste schützend vor ihr stehen und nicht wegsehen, wenn etwas geschah!

Ich blieb stehen und sah schweratmend die Straße runter. Langsam wurde es wirklich kalt.
Vor über zehn Jahren hatte ich zu diesem Zeitpunkt mit Seren ihre Sommersachen in den Keller getragen, da sie zu schwach war um es alleine zu schaffen und ihre Wintersachen einsortiert.
Ich nörgelte zwar immer, aber es machte mir Spaß. Wie sollte es auch nicht?
Mit Seren ihre Kleidung einsortieren war nicht langweilig. Sie erzählte zu jedem Kleidungsstück etwas anderes und tanzte herum, lachte und quetschte mich in die engen Sachen.
Es machte immer so einen unglaublichen Spaß mit ihr, aber heute gingen wir uns weitestgehend aus dem Weg.

Natürlich nervte sie mich auch und je älter sie wurde, desto schlimmer wurde es, aber ich liebte sie. Wie konnte man denn seine kleine Schwester aus tiefstem Herzen hassen?
Dachte Seren das?
Dachte sie ich hasste sie?

Frustriert fuhr ich mir durch meine Haare und zog an den Spitzen. Fuck, dieser Bastard! Ich musste sie beschützen.

Ich würde Seren wieder beschützen!
Egal was passierte, nun würde ich ihr nie wieder mehr von der Seite weichen, mag kommen was wolle.

Baran weiß nun auch alles.✨✨
Jetzt habt ihr mal ein Einblick in Barans Köpfchen.🧠
Wer ist denn eigentlich dieser Enes?
2/8

ALL I HATEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt