Part 167 ~ Geschwisterliebe

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Ich zuckte erschrocken zusammen, als mich eine Hand auf meiner Schulter aus dem Schlaf riss.
"Sie sollten jetzt wirklich gehen.", sagte der Polizist freundlich lächelnd zu mir. Ich schaute auf mein Handy, doch es hatte sich nichts verändert. Seit Stunden saß ich hier und wartete vergeblich darauf, dass Vladislav sich zurückmeldete.
"Wenn sie möchten, kann ich sie auch nach Hause fahren.", sagte der Polizist mitleidig.
"Das ist nett, wirklich. Aber das würde nichts bringen. Mein Freund hat den Schlüssel, und ich erreiche ihn nicht. Ohne ihn komme ich nicht rein.", sagte ich müde zu dem Beamten.
"Ich kann sie auch zu jemand anderem fahren. Was ist mit ihren Eltern?", schlug er vor, woaufhin ich nur schnell mit dem Kopf schüttelte.
"Ich hab da vielleicht noch wen, der mich holen könnte. Ich versuche mein Glück. Danke.", sagte ich zu dem Polizist, der mir lächelnd zunickte und dann wieder hinter seinen Thresen ging. Am liebsten hätte ich Granit oder Nima angerufen. Aber ich wusste von Samra, dass nicht in der Stadt waren. Und ich wollte sie nicht extra hier her bestellen. Ich musste eine andere Option wählen.
"Hi, hier ist Josy. Kannst du mich vielleicht bei der Polizei abholen? Ich erkläre dir dann alles.", sagte ich in mein Telefon und bekam die Reaktion, die ich erhofft hatte. Ich wartete weitere zehn Minuten auf dem selben Sitzplatz wie eben, bis die Tür aufging und ich endlich gehen konnte.
"Was ist los?", fragte Haider, der mich ernst musterte. Auf dem Weg zu seinem Auto erklärte ich ihm alles, was passiert war.
"Fuck.", sagte er und schlug gegen das Lenkrad.
"Das kannst du laut sagen.", seufzte ich und ließ mich in den warmen Sitz sinken.
"Und Capi geht nicht ran?", fragte er, nachdem wir bei ihm angekommen waren.
"Nein. Ich versuche es die ganze Zeit, aber ich komm nicht durch. Weder Whatsapp, noch Insta, noch per Telefon.", sagte ich genervt.
"Du kannst bei mir pennen, bis er sich meldet. Mein Bett ist groß genug.", sagte Haider grinsend, als ich meine Jacke auszog.
"Ich glaube, ich schlafe lieber auf der Couch.", sagte ich vorsichtig und hoffte, dass er nicht wieder wütend werden würde.
"Sorry Habibi, aber ich habe keine Couch. Zumindest im Moment nicht. Krieg ne neue, die kommt aber erst nächste Woche. Bleibt dir also nichts anderes übrig.", lachte er. Mit hingegen wurde schlecht und schwindelig zugleich, wenn ich daran dachte dass ich wirklich mit ihm in einem Bett schlafen müsste.
"Verdammt.", murmelte ich in mich hinein.
"Keine Sorge, ich lass die Hände über der Decke.", grinste er und ging an mir vorbei in seine Küche.
"Hast du Hunger? Ich kann uns was holen.", fragte er, schloss das Fenster und drehte sich dann wieder zu mir um.
"Eigentlich nicht.", sagte ich. Durch den ganzen Stress hatte ich mein Hungergefühl irgendwie unterdrückt.
"Ich bring dir einfach was mit. Du siehst aus, als könntest du was brauchen.", grinste er und schlenderte an mir vorbei. Ehe ich protestieren konnte, flog die Tür auch schon zu und ich stand alleine in der Wohnung von Samras Bruder. Ich atmete tief ein und aus, und beschloss dann mich ein bisschen umzuschauen. Die Wohnung war nicht sehr groß, aber trotzdem gemütlich. Abgesehen davon, dass die Couch im Wohzimmer fehlte. An der weißen Wand über dem Fernseher hingen einige Bilder, wo man Samra als Kind sehen konnte. Irgendwie musste ich schmunzeln, als ich bemerkte wie niedlich er aussah. Ob er als Kind auch schon so war, wie er jetzt ist? Oder ob er da noch normal war? Vielleicht ist in den Jahren irgendetwas passiert, dass er so geworden ist. Und damit meine ich nicht den Tod von Cataleya. Vielleicht wurde er früher gemobbt, dass er jetzt andere fertig machen musste? Oder vielleicht hatte er eine Persönlichkeitsstörung? Ich meine manchmal war er ja nett und alles. Aber meistens einfach ein Arschloch. Vielleicht gab es einen guten und einen bösen Samra? Mein Gott, über was man alles nachdenkt wenn man langeweile hat.
Ich schlenderte weiter in der Wohnung umher und nahm alles unter die Lupe, was ich finden konnte. Außer den paar Bildern hingen an der Wand auch ein paar Poster von Samra. Also nicht diese Poster aus der Bravo (falls er überhaupt schonmal in der Bravo war), sondern dieses schwarz weiße Cataleya-Poster, das auch in der Roadrunnerlounge hing. Und dann war da noch ein weitaus größeres Poster von ihm, das ich vorher noch nicht gesehen hatte. In der unteren linken Ecke sah ich seine Unterschrift, und ein Herz darunter. Süß. Ich ging weiter in das Schlafzimmer und sah mich dort um. Es war relativ unspekatkulär. Aber trotzdem irgendwie interessant.
"Suchst du was?", hörte ich plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir, die mich erschaudern ließ. Ich drehte mich mit rasendem Herzen um und schaute in das skeptische Gesicht von Samras Bruder.
"Nein, ich wollte mich nur umschauen.", sagte ich eingeschüchtert und trat einen Schritt zurück.
"Komm essen.", sagte er ohne darauf zu antworten und ging dann voran. Ich folgte ihm schweigend und setzte mich zu ihm an den kleinen Küchentisch.
"Ich hoffe du isst Döner.", sagte er und schob mir den in Alufolie eingepackten Klumpen zu. Ich nickte und packte dann das Essen aus, das er mir mitgebracht hatte.
"Also...du wolltest mir noch was erzählen. Jetzt haben wir Zeit.", sagte er nach dem ersten Bissen und blicke mich fordernd an. Ich überlegte kurz wie ich anfangen sollte - und erzählte ihm dann alles. Von Anfang an. Wie ich Vladislav kennen gelernt hatte, wie mein Verhältnis zu Samra war, und natürlich die ganze Geschichte mit Khalil. Während ich erzählte, hatte er mich nicht ein einziges mal unterbrochen. Er saß nur stumm da, aß seinen Döner und hörte mir gespannt zu. Als ich irgendwann fertig war mit erzählen, waren wir schon lange fertig mit essen.
"Wow.", sagt er perplex und knüllte das Papier von dem verputzten Döner zusamen.
"Mal abgesehen von der ganzen Khalil Sache. Was ist das mit dir und Hussein?", fragte er nachdenklich, wodurch mir augenblicklich komisch wurde.
"Wie, was meinst du? Er ist wie ein Bruder, hab ich doch gesagt. Was soll da sein?", fragte ich leicht gereizt, schnappte sein zusammengeknülltes Papierkügelchen und warf es in den Müll.
"Und deswegen bist du so nervös, wenn ich dich darauf anspreche?", fragte er grinsend und stand direkt vor mir, als ich mich wieder umdrehte.
"Wie kommst du darauf, dass ich nervös bin?", fragte ich ihn verwundert. Er streckte seine Hand aus und legte seinen Zeigefinger an mein Handgelenk, wo man den Pulsschlag spüren konnte. Er grinste triumphierend, als ich selbst bemerkte wie mein Puls raste.
"Das hat nichts zu bedeuten.", sagte ich, schob seine Hand weg und drängte mich an ihm vorbei.
"Josy, ich kenne meinen Bruder. Und ich kenne seinen Blick, wenn er Gefühle für jemanden hat. Den Blick hatte ich zuletzt bei ihm gesehen, als er mit Cateleya zusammen war. Wo ihr neulich hier gewesen seid, hatte er genau diesen Blick drauf.", Kam es von ihm, während ich den Tisch abwischte.
"Was willst du jetzt von mir hören?", fragte ich und drehte mich mit dem Lappen in der Hand wieder zu ihm um.
"Nichts. Aber er ist mein Bruder. Und wenn du meinem Bruder das Herz brichst, werde ich dein Herz brechen.", sagte er ruhig, nahm mir den Lappen aus der Hand und legte ihn in die Spüle.
"Was soll ich denn machen? Ich liebe Vladislav. Und Samra weiß das. Ich würde ihn niemals absichtlich verletzen. Wie gesagt, ich liebe ihn wie einen großen Bruder. Warum sollte ich ihm absichtlich das Herz brechen wollen? Denkst du wirklich, dass ich so ein Mensch bin? Das bin ich nicht, Haider.", verteidigte ich mich mit Tränen in den Augen und wollte mich abwenden, aber er packte mich sanft am Arm und zog mich zu sich zurück.
"Dann schau mir jetzt in die Augen und sag mir, dass du keinerlei Gefühle für ihn hast.", forderte er. Ich schniefte, und schaute ihm dann in die Augen. Diese Augen, die einen genauso in den Bann ziehen konnten wie die von Samra.
"Ich habe Gefühle für ihn, ja. Solche Gefühle, die du auch für ihn hast. Nicht mehr und nicht weniger. Ich kann ihm einfach nicht das geben, was er gerne hätte. Ich liebe Vladislav, und daran wird sich nichts ändern. Warum muss ich mich jedes mal rechtfertigen?", fragte ich schiefend, riss mich von ihm los und ging dann von ihm weg.
"Ich meine es nicht böse. Ich will nur meinen Bruder beschützen." Er kam mir hinterher und nahm neben mir Platz, nachdem ich mich auf sein Bett gesetzt hatte.
"Ich weiß.", murmelte ich traurig und wischte mir die kleine Träne weg, die wieder mal über meine Wange lief.
"Hast du nicht gesagt, du erreichst Capi nicht?", fragte er nach ein paar Minuten, während er auf sein Handy schaute.
"Ja, wieso?", fragte ich mit brüchiger Stimme und schaute auf sein Display.
"Er ist bei Vince.", sagte er und zeigte mir die Story, wo Vladislav den Ball in den Basketballkorb bei Vincent im Keller warf und sich dann freute wie ein kleines Kind.
"Sein ernst?", fragte ich enttäuscht und schaute in Vladislavs Story. Aber er hatte nichts gepostet.
"Vielleicht ist sein Handy aus.", sagte Haider und nahm sein Handy wieder an sich.
"Kannst du mich bitte zu Vincent fahren?"
"Klar. Wenn du Glück hast ist er noch da.", sagte er und stand mit mir zusammen auf.
Wie besprochen fuhr er mich zum Studio und parkte direkt an der Straße.
"Soll ich mitkommen? Oder willst du lieber alleine?", fragte er und schaute zu dem Gebäude, in dem sich Vladislav hoffentlich noch befand.
"Könntest du vielleicht warten, bis ich drin bin? Nur zur Sicherheit, dass uns keiner gefolgt ist."
"Mach ich. Bis dann.", sagte er und ich öffnete die Autotür.
"Achso, bevor ich es vergesse.", sagte ich und drehte mich nochmal zu Samras Bruder um.
"Vielen Dank. Für alles.", sagte ich und umarmte ihn noch einmal, bevor ich dann wirklich ausstieg.
Wieder beschleunigte sich mein Herzschlag, als ich vor der großen Tür stand. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Haider noch im Auto saß, klopfte ich gegen das kalte Metall und atmete tief durch. Nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür und Vincent stand vor mir, der mich komisch anschaute.
"Josy? Was machst du hier alleine?", fragte er verwundert.
"Ist Vladislav hier?"
"Ja, ist er. Komm rein.", sagte er und umarmte mich dann herzlich, bevor er die Tür hinter uns wieder schloss.
"Capi!", brüllte er, worafhin ich ihn von unten rufen hören konnte.
"Was los Bruderherz? Wer hat geklopft?", fragte er und als wir die Treppen herunter gingen, sah ich die plötzliche Verwunderung in seinem Gesicht.
"Baby, was machst du hier?", fragte er überrascht und eilte sofort zu mir.
"Das verstehst du also unter einem wichtigen Termin?", fuhr ich ihn wütend an und schubste ihn von mir weg, als er mir näher kam.
"Ich lass euch mal kurz alleine.", sagte Vincent und verschwand dann eilig nach oben.

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