Zu meiner Verwunderung zögerte er eine ganze Weile, bis er sich bewegte. Ich hatte die Augen geschlossen und hoffte irgendwie, dass er rechtzeitig zur Vernunft kommen würde.
"Ich will nur einen Beweis. Einen ganz kleinen.", hauchte er. Mein Herz drohte sich jeden Moment zu überschlagen. Jede Sekunde, in der nichts passierte, kam mir wie eine Ewigkeit vor. Und dann spürte ich seine heißen, weichen Lippen auf meinen. Sofort schmeckte ich den Alkohol und die Zigaretten, die er vorher geraucht hatte. Um uns herum schien die Zeit stehen geblieben zu sein. So sehr ich mich auch anstrengte, bei klarem Verstand zu bleiben - ich konnte es nicht. Meine Gedanken überschlugen sich, während ich ihm völlig unterlegen war. Alles worauf ich mich in diesem Augenblick konzentrieren konnte, waren seine Lippen. Seine Hand, die immernoch mein Kinn fest hielt. Und sein Bart, der zwar leicht kratzte, aber dennoch unfassbar weich war. Ich versuchte ihn sanft von mir weg zu schieben, aber er ließ nicht locker. Stattdessen ließ er mein Kinn los, um beide Hände an meinen Kopf zu legen. Er drückte sich noch enger an mich, wodurch eine unglaubliche Hitze in mir aufstieg. Ich befürchtete, er würde noch weiter gehen, als er leicht auf meine Lippe biss. So gut es ging hielt ich dagegen an, bis er sich endlich von mir löste.
"Hör auf. Bitte.", flüsterte ich außer Atem, während er mich anstarrte.
"Sag mir jetzt endlich die Wahrheit.", forderte er streng und und verkrampfte sich. Wieder versuchte ich ihn ein Stück von mir weg zu bewegen, indem ich gegen seinen Brustkorb drückte. Angespannt griff er nach meinen Handgelenken und hielt sie fest umklammert, trotz seiner Verletzung.
"Ich habe es dir doch gesagt. Ich liebe Vladislav. Khalil hat sich das ausgedacht. Warum glaubst du ihm mehr als mir?"
Sofort erkannte ich den tiefen Schmerz in seinen Augen. Er zog die Augenbrauen nach unten und musterte mich enttäuscht. Er überlegte kurz, wollte etwas sagen, verstummte dann aber wieder.
"Samra, es tut mir leid. Aber ich liebe Vladislav. Von Anfang an.", sagte ich traurig, als eine kleine Träne an seiner Wange herunter lief.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht legte er seine Hand an meinen Hals und übte unangenehmen Druck aus.
"Ich schwöre bei Gott. Wenn du irgendtewas hiervon jemandem erzählst, werde ich dich noch vor Khalil umbringen.", zischte er in mein Ohr und hielt inne, während ich nach Luft rang.
"Du kennst mich. Ich würde dich nicht verraten." japste ich und versuchte irgendwie, ruhig zu bleiben.
"Ich hoffe es für dich.", knurrte er angsteinflößend und ließ mich los. Er drehte mir den Rücken zu und raufte sich die Haare.
"Ich nehme dir das nicht übel. Ich verstehe dich.", sagte ich entschlossen, während ich immernoch an der Tür lehnte. Mein gesamter Körper zitterte immernoch, und meine Beine fühlten sich an wie Pudding.
"Was verstehen? Du hast überhaupt keine Ahnung! Erzähl mir nicht, dass du mich verstehen kannst, wenn ich mich selbst nicht verstehen kann!", brüllte er mich an und knallte die Schranktür neben mir zu, die noch offen stand. Es gab so einen lauten Schlag, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte und den Kopf einzog.
"Und ob du mir das übel nimmst oder nicht ist mir scheißegal. Hauptsache, du hälst die Fresse. Wenn ich mitbekommen sollte, dass das hier irgendjemand erfährt, dann..."
"Das wird niemand erfahren.", versuchte ich ihn irgendwie zu besänftigen.
"Anderenfalls würde es mir leid tun. Aber nicht für dich, sondern für Capi. Dein Grab wäre dann genau neben dem von..." Er sprach den Satz nicht zuende. Aber ich wusste, was er sagen wollte. Anscheinend hatte er in diesem Moment selbst gemerkt, dass er gerade ziemlich weit ausholte. Überfordert fuhr er sich mit der Hand über seinen Bart und setzte sich dann auf mein Bett, wo er die Hände in den Nacken legte und auf den Boden starrte. Ich traute mich nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Ich war froh, dass ich jetzt ausreichend Abstand zu ihm hatte. Ich wollte hier raus. In seinem Zustand wusste ich nicht, was er als nächstes machen würde. Aber selbst wenn ich jetzt los rennen würde, es hätte keinen Sinn. Die Haustür war abgeschlossen, und den Schlüssel hatte nur er.
"Samra...", setzte ich an, während er weiter stur auf den Boden starrte. Ich atmete tief durch, ging mit kleinen Schritten auf ihn zu und setzte mich dann neben ihn auf mein Bett.
"Ich kann nicht in dich reinschauen. Ich weiß nicht, was in dir vorgeht. Aber ich kann mich in deine Lage versetzen. Und ich kann mir vorstellen, wie schwer das für dich ist. Ich würde dir so gerne helfen...", sagte ich sanft und atmete dann einmal tief ein und wieder aus.
"Aber das kann ich nicht. Ich kann dir nicht das geben, was du brauchst.", sprach ich ruhig und legte meine Hand auf seine Schulter.
"Doch, das könntest du. Und ich könnte dafür Sorgen.", brummte er und hob seinen Kopf. Ich schluckte schwer, während er zur Tür starrte. Genau dort hin, wo ich eben noch gestanden habe. Vorsichtig zog ich meine Hand zurück und betrachtete ihn erschrocken. Er drehte seinen Kopf nach links und schaute mir direkt in die Augen. Ich betete innerlich, dass er das eben nicht ernst gemeint hatte. Er konnte das einfach nicht ernst meinen.
"Aber dann würde ich dafür in die Hölle kommen.", vervollständigte er seinen Satz und wandte seinen Blick dann wieder ab. wir saßen noch einige Minuten einfach nur so da. Keiner von uns beiden sagte etwas. Er starrte vor sich hin, während ich ihn anstarrte. Auch wenn ich ihn manchmal hasste. In dem Moment tat er mir einfach leid. Am liebsten würde ihn einfach nur in den Arm nehmen, und sagen, dass alles irgendwann besser wird. Aber soweit würde er es niemals kommen lassen. Und versprechen könnte ich ihm das ebenfalls nicht.
Irgendwann stand er auf und ging auf das Fenster zu. Er stützte seine Hände am Fensterbrett ab und schaute Gedankenverloren in die sternenklare Nacht hinaus.
"Hast du mit Capi geschrieben?", fragte er und riss mich damit aus meiner Geistesabwesenheit.
"Ja...aber nicht viel. Er hat gesagt, dass er morgen wieder kommt.", stotterte ich und griff mir mein Handy, welches Samra auf dem Bett abgelegt hatte.
"Gut. Das ist gut.", widerholte er sich und schaute weiter nach draußen.
"Was hat Khalil noch gesagt?", fragte ich ihn vorsichtig.
"Dass es ihm eigentlich nur darum geht, Capi Schaden zuzufügen. Aber da ich dich von ihm weg geholt und seinen Plan damit kaputt gemacht habe, bin ich jetzt genauso im Visier wie Capi.", erklärte er ruhig und drehte sich zu mir um.
"Also habe ich dich da mit rein gezogen.", schlussfolgerte ich und senkte betrübt den Kopf.
"Selbst wenn es nicht um dich gegangen wäre. Ich hätte mich so oder so eingemischt. Capi ist mein Bruder. Ich würde mein Leben für ihn hergeben, einfach aus Prinzip.", stellte er klar und schweifte mit dem Blick zur Seite ab, während ich ihn mit Gänsehaut anschaute.
"Ist nur mir so warm?", warf er plötzlich ein und schaute auf seine Hände, als würde er irgendetwas suchen.
"Samra?", fragte ich vorsichtig, als ich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn sehen konnte.
"Irgendwie ist es voll warm.", wiederholte er sich und schaute mich dann hilfesuchend an. Sein Gesicht hatte deutlich an Farbe verloren, und seine Hände zitterten leicht.
"Hast du die Schmerztabletten genommen, die dir der Arzt mitgegeben hat?", fragte ich mit klaren Verstand und schaute ihn fordernd an.
"Ja."
"Wie viele?"
"Kein Plan. Zwei oder drei.", sagte er leicht nuschelnd und realisierte langsam, warum sein Körper so reagierte.
"Fuck.", fluchte er und stieß sich vom Fensterbrett ab.
"Tabletten und Alkohol...", murmelte ich und musterte ihn eindringlich.
"Ich sollte pennen gehen.", entschied er und ging mit schweren Schritten an mir vorbei. Ohne darauf zu antworten blieb ich auf meinem Bett sitzen und wartete, bis er in seinem Zimmer verschwunden war. Ich hörte ihn durch seine offene Zimmertür fluchen, während ich immernoch da saß und gedankenverloren in den dunklen Flur starrte.
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Mademoiselle
Fiksi PenggemarJosy begegnet zwei Menschen, die ihr Leben komplett auf den Kopf stellen - und das nicht gerade auf die gute Weise. Zum einen Capi, der sie wegen seiner kriminellen Geschäfte immer wieder alleine lässt, und zum anderen Samra, der sie wie Dreck beha...