„Bleib in Pauls Wohnung und bau ja keinen Mist, hast du verstanden Mila?"

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In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Es fühlte sich einfach falsch an, in dem Bett zu liegen, Pauls Arme um mich, und nicht zu wissen wo meine Eltern und auch Stephan und Hannah waren. Wie es ihnen ging und ob sie überhaupt noch am Leben waren. Ich wollte aufstehen und in der Wohnung umhergehen um meine Gedanken so zum schweigen zu bringen, aber immer wenn ich mich bewegte, drückte mich Paul an sich als hätte er selbst im Tiefschlaf Angst das ich mich wirklich allein auf dem Weg machen und Olga stellen würde.

„Keine Sorge Mila. Ich schaue nur eben nach der Post. Vor den Augen der Streifenkollegen. Mir kann nichts passieren.", versicherte Paul mir am nächsten Morgen als ich ihn nicht aus seiner Wohnung lassen wollte. „Kann ich nicht mitkommen?", harkte ich nach, aber Paul schüttelte nur lächelnd seinen Kopf. „Es wird schon nichts passieren, du kannst schon mal den Wasserkocher anstellen. Ich bin schneller da als das Wasser kocht.", versprach der Oberkommissar, drückte seine Lippen auf meine und eilte, nachdem er seinen Haustürschlüssel an sich genommen hatte, aus seiner Wohnung. Als die Tür ins Schloss fiel ging ich, wie er vorgeschlagen hatte, in die Küche und stellte den Wasserkocher an.
Während sich das Wasser langsam erhitzte und zu kochen begann, ließ ich die Wohnungstür nicht aus den Augen. Mit jedem Geräusch aus dem Treppenhaus schöpfte ich neuen Mut dass Paul wieder rein kam, wurde aber jedes Mal aufs neue enttäuscht. Mit einem kleinen 'Klack' meldete der Wasserkocher dass das Wasser vollständig erhitzt war, Paul war aber noch nicht da. Auch nicht als ich das Wasser weitere dreimal aufkochen ließ. „Okay, Mila. Noch einmal und dann darfst du durchdrehen.", versuchte ich mich selber zu beruhigen, kippte das heiße Wasser aus und füllte neues, kaltes, Wasser in den Wasserkocher um die Erkenntnis so lange es ging hinauszuzögern. Aber als auch das kalte Wasser kochte und Paul noch immer nicht wieder da war, wusste ich dass ich handeln musste.
Mit einer ganz miesen Vorahnung wollte ich erst aus der Wohnung eilen, entschied mich aber im letzten Moment dagegen und nahm das neue Handy vom Couchtisch, dass mir Robin und die anderen geschenkt hatte. Da ich wusste das ich weder meine Eltern oder Stephan erreichen würde, wählte ich die Nummer von Klaus. Ich ließ es bestimmt fünf Minuten lang klingeln und wählte dann die Nummer von Robin. In dem Moment als ich seine Stimme hörte atmete ich hörbar aus. „Was gibt es Mila? Habt ihr schon Sehnsucht nach uns?", lachte der Polizeikommissar und ich sah noch mal zur Haustür bevor ich ihm erzählte dass Paul die Post holen wollte und noch nicht wieder gekommen war. „Alles klar, Mila. Ich komme gleich mal rum und schau was Sache ist. Aber wieso hast du Klaus nicht runter geschickt?", harkte Robin nach und ich riss meine Augen auf.
„Wenn du mir jetzt sagst, dass Onkel Klaus auch verschwunden ist, dann... dann....", der Rest meines Satzes ging im Schluchzen unter.
„Ich bin auf dem Weg. Bleib in Pauls Wohnung und bau ja keinen Mist, hast du mich verstanden Mila?", hörte ich Robin noch rufen, als ich bereits die Haustür öffnete. Das Handy hatte ich auf dem Couchtisch abgelegt, denn dort wo ich hin wollte, würde ich es eh nicht gebrauchen können. Ich hoffte nur dass ich nicht zu spät kam. Die Beamten am Streifenwagen schienen zu schlafen, denn als ich am dem Wagen vorbei kam reagierten sie nicht und ich konnte, zu meiner Erleichterung, keine Verletzungen feststellen.
Auf dem Weg zu der Villa in der ich die ersten neunundzwanzig Jahre meines Lebens gelebt hatte zweifelte ich immer mehr an meiner Entscheidung, aber ich wusste dass es der einzig richtige Weg war. Denn ich konnte und wollte nicht zulassen dass Marie, Martin, Stephan, Hannah, Klaus und Paul nur eine Sekunde länger als nötig in Gefangenschaft leben mussten.
Kurz bevor ich in die Straße ging atmete ich noch ein paar mal tief durch und schloss meine Augen. Die Vögel zwitscherten und obwohl es Anfang Oktober war, war es angenehm war, sodass ich leicht in Pauls Jacke schwitzte. Auch wenn meine eigene an der Garderobe meines Freundes hing, hatte ich bei meiner Flucht automatisch nach einer von Paul gegriffen.
Kinderlachen schallte zu mir herüber und ich musste schmunzeln als ich mir direkt vorstellte wie Paul und ich mit unseren Kindern meine Eltern besuchte und Martin mit seinen Enkeln über den Rasen tobte. Aber das war alles nur ein Traum, denn wenn ich mit meiner Vorahnung recht behielt würde ich in wenigen Minuten tot sein.
Es fühlte sich so surreal an, in das Haus zurück zu kehren das nie mein zuhause war, aus dem ich geflohen war, zu dem von dem mich meine Familie und Freunde hatten beschützen wollen und dabei nun im Begriff waren ihr eigenes Leben zu riskieren.
Nach einem letzten tiefen Atemzug öffnete ich meine Augen und bog in die Straße ein. Die Vorgärten an denen ich vorbei kam waren ordentlich hergerichtet. Der Rasen kurz und die Blumen noch in voller Blüte. Wenn jemand Außenstehender hier spazieren gehen würde, würde er nie auf die Idee kommen, das hier ein Kind jahrelang misshandelt wurde. Das hier mehr Straftaten begangen wurden als man zählen konnte. Das die scheinbar glückliche Familie mit dem liebenden Vater, der aufopfernden Mutter und dem Musterkind von Tochter im privaten eigentlich Kriminell waren, mich jahrelang verprügelt hatten und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht vor einem kaltblütigen sechsfach Mord zurückschreckten um mich zu verletzten, um mich zu töten.

Scheinbar hatte Olga einen Gärtner eingestellt, denn vor meiner Flucht war ich Nachts in den Garten geschleppt worden um das Unkraut zu jäten und den Rasen mit einer Schere klein zu schneiden, denn einen Rasenmäher durfte ich nicht nutzen da die Nachbarn sonst Verdacht geschöpft hätten.
Ich schickte ein Gebet in den Himmel und zu all den Göttern von denen ich mal gelesen hatte, bevor ich auf den Klingelknopf drückte. Es dauerte nicht lange da wurde die Tür aufgerissen und Justin stand vor mir.
Mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht.

Unter dem Radar: Die Frau mit den Eisblauen AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt