„Aber ich bin doch auch schwer. Ich meine die Frauen auf den Zeitschriften..."

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„Ich ahne was deine Angst ist. Du nimmst die Worte von Olga für bahre Münze. Es hat ein Grund warum ich sie weder deine Mutter oder deine leibliche Mutter nenne, denn das sie nicht verdient. Sie hat das alles nur gesagt weil sie dir weh tun wollte. Du bist nicht hässlich und schon gar nicht dick, fett oder wie sie es sonst noch genannt hat. Ja, du hast zugenommen. Aber das ist nicht tragisch, denn nun hast du die Rundungen an den richtigen Stellen und Paul wird bald eine Menge Verehrer in die Flucht schlagen müssen. Dir kommt es vor als wäre es zu viel, aber so ist es nicht. Du hast nur noch nie in deinem Leben geregelte Mahlzeiten gehabt, daher speichert dein Körper extra Energie für den Fall dass du wieder hungern musst. Aber auch dass wird sich einpendeln, warte es nur ab. Aber ich rede hier wie ein Wasserfall, aber es fühlt sich einfach richtig an dir das alles zu sagen. Das hätte ich schon früher tun sollen. Aber von nun an werde ich dich immer wieder dran erinnern wie wundervoll du bist wenn du es wieder vergessen solltest.", damit endete auch Hannahs Video und ich heulte Rotz und Wasser.

„Mila?", scheinbar hatte ich eine Weile auf das Tablet gestarrt, denn als ich zu Robert blickte sah er mich besorgt an. „Mir geht es gut.", versicherte ich ihm und wischte mir die Tränenspuren aus dem Gesicht. „Sicher?", harkte der Therapeut nach und hielt mir eine Packung Taschentücher hin. „Soll ich die anderen drei auch bitten dich zu beschreiben?", wollte Robert wissen und ich wusste worauf er hinauswollte. „Ich vermute du denkst dass ich eine... ich glaube man nennt es Essstörung habe. Aber das hab ich nicht.", stellte ich klar und legte das Tablet neben mir ab.
„Bist du dir da sicher?", kam es vom Therapeuten und ich runzelte meine Stirn. „Wann hast du das letzte mal gegessen ohne gleich daran zu denken wie du es abtrainieren kannst? Wann hast du das letzte mal eine harmlose Umarmung genossen ohne den Bauch einzuziehen? Wann hast du das letzte mal neben Paul im Bett gelegen, ohne dich zu fragen ob du zu schwer für ihn bist?", stellte Robert die Fragen vor denen ich die meiste Angst hatte. Da ich schwieg zog er die Augenbraue hoch als wäre meine Verhalten schon eine Antwort.
„Aber ich bin doch auch schwer. Ich meine die Frauen auf den Zeitschriften...", fing ich an und verstummte als Robert mit seinen Augen rollte. „Diese Fotos sind bearbeitet. Die Frauen sehen in Wirklichkeit nicht so aus wie auf den Covern der Zeitschriften. Eben weil die Herausgeber der Schandblättern denken dass niemand ihre Zeitschrift kaufen würde, wenn eben keine bis aufs äußerste bearbeitete Frau auf dem Cover zu sehen ist.", fluchte mein Therapeut und ich sah ihn überrascht an. „Verzeih mir meinen Gefühlsausbruch.", entschuldigend fuhr sich Robert durch seine Haare.
„Aber Paul hat sich in die Mila verliebt die etliche Kilos weniger gewogen hat. Mein Vater ist groß und schlank. Jeder wird ihn doch auslachen wenn seine kleine dicke Tochter mit ihm um die Ecke kommt. Und Marie wünscht sich bestimmt eine dünne Tochter mit der sie shoppen gehen und die Kleidung teilen kann.", wand ich ein und spürte wie mir übel wurde. „Okay, dann brauchen wir auch die Meinungen der drei.", brummte Robert und stand auf. Als er das Wohnzimmer verließ, lehnte ich mich mit geschlossenen Augen an die Sofalehne zurück. Ich hatte das Gefühl als wäre ich wieder sieben Stunden gejoggt.
„Mila?", als ich Maries sanfte Stimme hörte, setzte ich mich wieder auf. „Robert meinte wir sollten reden.", fing meine Stiefmutter an und setzte sich ebenfalls auf das Sofa, ließ aber Platz zwischen uns.
„Mila, tu mir einen Gefallen und lass sie ausreden. Wenn sie dann den Raum verlassen hat, können wir gerne darüber reden. Das selbe gilt dann auch für deinen Vater und Paul.", bat Robert mich und sah dann zu Marie. „Ich möchte sie bitten Mila zu beschreiben. Sagen Sie einfach das was Ihnen einfällt. Aber seien sie zu hundert Prozent ehrlich.", wies er Marie an und nahm dann wieder sein Notizbuch in die Hand.
Verwundert sah Marie Robert an und setzte sich dann so hin, dass sie mir ins Gesicht sehen konnte.
„Okay, damit hab ich nicht gerechnet. Aber ich ahne was los ist. Ich bin zwar schon alt, aber auch ich war mal ein junges Mädchen, eine junge Frau, die von Selbstzweifeln geplagt wurde. Ich hab es mit meinen Schülerinnen und ja sogar Schülern erlebt. Durch die Sozialen Medien wird uns ein bestimmtes Bild vermittelt wie wir aussehen müssen. Die Maße neunzig-sechzig-neunzig sind noch immer Ideal. Der BMI wichtiger als eine glückliches Leben. Nur weil man eine große Nase hat oder vielleicht ein paar mehr Rundungen ist man doch nicht gleich weniger wert.", redete sich Marie in Rage und stoppte abrupt um tief durchzuatmen.
„Du, meine Liebe, bist schön. Vielleicht bin ich dabei etwas parteiisch, aber ich finde deine Augen schön. Deine Nase. Deine Lippen. Einfach alles. Du bist perfekt so wie du bist. Und ja, vielleicht hast du ein paar Kilos zulegt, und? Solange es nicht krankhaft ist und vor allem solange du dich damit wohl fühlst sollte dir egal sein was andere über dich denken. Paul liebt dich nicht nur weil du so aussiehst wie du aussiehst. Dein Vater liebt dich nicht nur weil du seine Augenfarbe geerbt hast. Ich liebe dich nicht nur, weil ich endlich weibliche Unterstützung im Haus habe und endlich jemanden mit dem ich das Girly-Zeug machen kann. Wir lieben dich weil du uns ganz machst. Wir lieben dich weil du uns zum lachen bringst, selbst wenn wir mies drauf sind. Wir lieben dich weil du uns wieder daran erinnerst was wir schon lange vergessen haben. Mich zum Beispiel hast du daran erinnert wie viel Spaß mir das unterrichten gemacht hat und wie sehr es mir fehlt. Ich hab mich immer gefragt ob der Job der Richtige für mich wäre. Aber die Zeit in der ich dir die Sachen beigebracht habe hat mir so einiges klar gemacht. Aber hier geht es nicht um mich, sondern um dich. Ich kann verstehen dass dich die Worte von Olga schwer getroffen haben. Dass du verunsichert warst und dann die Zeitschriften und Fernsehsendungen Öl ins Feuer gekippt haben. Aber du bist schön Mila. Und das sage ich nicht nur weil ich deine Stiefmutter bin. Das sage ich als Frau. Selbst mit den neuen Gewicht stellst du sämtliche Victoria Secret Models in den Schatten.", stellte Marie klar und lächelte mich liebevoll an, während mir wieder die Tränen über die Wange liefen.
„Danke Frau Fuchs, sie können nun wieder in die Küche gehen. Und bitte sagen sie ihrem Mann und Paul nichts hiervon. Ich möchte dass auch sie das sagen was ihnen als erstes einfällt.", entließ Robert meine Stiefmutter die wiederwillig aufstand und aus dem Wohnzimmer ging.

Unter dem Radar: Die Frau mit den Eisblauen AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt