„Dich hab ich nicht angerufen."

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„Schön dass sie alle wieder da sind. Sie sehen auch viel besser aus als vorgestern.", begrüßte Robert uns alle und sah bei seinem letzten Satz mich direkt an. „Mir geht es auch besser. Das Gespräch letztes Mal war gold wert.", schwärmte Hannah und nippte an ihrem Kaffee. „Geht mir ähnlich. Ich hab nach dem Gespräch noch lange mit meiner Frau geredet.", fügte Klaus hinzu und sah kurz auf seinen Ehering. „Das ist schön zu hören. Wie geht es Ihnen Herr Richter?", wand sich der Therapeut an meinen Freund. „Ganz gut. Ich merke dass der Schock so langsam nachlässt.", antwortete Paul knapp und sah zu mir.
„Ich hab da noch ein bisschen dran zu knabbern, wenn ich ehrlich bin. Aber meine Familie und Paul helfen mir dabei.", kam es leise von Marie die zwischen Paul und mir auf dem Sofa saß. „Das ist schön zu hören. Wie geht es dir Mila?", wand sich Robert nun an mich und sämtliche Anwesenden sahen mich an. „Ganz gut. Gehe später wieder joggen.", brummte ich und versuchte die Blicke zu ignorieren die die anderen sich zuwarfen. „Schon wieder?", entfuhr es Martin und ich nickte mit zusammen gepressten Lippen. „Im Grunde hab ich nicht mal Zeit und Lust auf diesen Termin.", informierte ich ihn patzig und bereute es im selben Augenblick.
„Ich würde mich dennoch freuen, wenn du dich an dem Gespräch beteiligst. Eben weil es ja nicht nur dich betrifft.", bat Robert und ich sah aus den Augenwinkeln wie mich meine Eltern streng ansahen.
„Wenn es sein muss.", brummte ich und griff nach meiner Kaffeetasse. Nach der Überdosis am vorherigen Tag achteten Paul, Martin und Marie genau darauf wie viele Tassen Kaffee ich trank. Erlaubt waren mir drei. „Das ist nett von dir.", scherzte Klaus und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
Trotz meines Versprechens hielt ich es vielleicht zwanzig Minuten aus und sprang auf als Stephan davon berichtete wie Olga ihn mit Franziska verkuppeln wollte. „Für mich reicht es heute. Klär den Termin morgen mit Martin ab.", rief ich in Roberts Richtung und lief in den Flur. „Wo willst du hin?", Paul war direkt hinter mir und hielt mit einer Hand die Haustür zu. „Joggen. Muss den Kopf frei bekommen. Hab das Handy in der Hosentasche wenn du mir hinterher schnüffeln willst.", fuhr ich ihn an und schubste ihn zur Seite. Von dieser Geste überrumpelt stolperte Paul wirklich ein paar Schritte zurück sodass ich die Haustür aufreißen und hinauslaufen konnte. So schnell wie ich konnte brachte ich die ersten drei Kilometer Abstand zwischen mich und dem Haus meines Vater und setzte mich dann auf einen Mauervorsprung.
Ich konnte mir mein Verhalten selber nicht erklären, aber ständig an die Ereignisse erinnert zu werden, tat mehr weh als sie zu verdrängen. Vor allem hatte ich mich heute morgen zum ersten mal nach der Grunduntersuchung gewogen und festgestellt das ich zehn Kilo zugenommen hatte. „Zehn Kilo innerhalb fünf Monate waren viel zu viel. Von diesem Gedanken angetrieben lief ich weiter bis ich irgendwann einem Hund ausweichen musste und mit dem Fuß umknickte. „Es tut mir leid. Kann ich Ihnen helfen?", eine Frau hockte sich neben mich hin und sah mich entschuldigend an. „Alles gut.", keuchte ich außer Atem und stand auf. Sobald aber mein linker Fuß den Boden berührte verzog ich mein Gesicht. „So sieht es aber nicht aus. Soll ich jemanden für sie anrufen? Einen Rettungswagen vielleicht?", harkte die Frau weiter nach und ich wusste das ich sie auch anlügen musste um schnell aus der Situation zu kommen. „Alles gut. Mein Freund und ich wollten uns eh gleich hier treffen. Machen Sie sich keine Sorgen.", erklärte ich ihr und trat als Beweis ein paar Mal mit dem linken Fuß auf den Boden, ohne dabei mein Gesicht aufgrund der starken Schmerzen zu verziehen. „Da bin ich ja beruhigt. Schönen Tag noch.", verabschiedete sich die Frau und eilte davon.
Testweise versuchte ich noch ein paar Meter zu joggen und lehnte mich an einen Baum. Als ich mich runter beugte und die Socke an meinem linken Fuß ein Stück weit runter zog, riss ich meine Augen auf. Der Knöchel wurde langsam blau und schwoll immer mehr an. Mein erster Gedanke war, dass ich trotzdem nach Hause laufen konnte, aber sobald ich meinen Fuß wieder auf den Boden setzte, tanzten Sterne vor meinen Augen.
So langsam ich konnte lief ich zu einer Parkbank und ließ mich darauf nieder. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und überlegte ob ich lieber meinen Vater oder meinen Freund um Hilfe bitten sollte. Meine Wahl fiel auf Paul, da ich mich insgeheim mehr nach seiner Berührung sehnte und wusste wie mein Vater sein konnte wenn ich verletzt war. Im letzten Augenblick entschied ich mich gegen das Anrufen von Paul und schrieb eher Stephan.
'Hey großer Bruder. Bist du gerade beschäftigt?', schrieb ich ihm und versuchte meinen linken Fuß auf die Parkbank zu heben, was mir leider nicht gelang. 'Für dich hab ich immer Zeit Trouble. Was ist los?', antwortete Stephan wenige Sekunden später und ich überlegte einen Augenblick ob ich ihn wirklich um Hilfe bitten sollte. 'Hatte einen kleinen Unfall mit einem Hund und jetzt ist mein Knöchel blau und tut weh. Ich will nicht das Papa und Paul sich umsonst sorgen machen.', weihte ich ihn ein und fühlte tief in meinem Inneren dass es die richtige Entscheidung war. „Ich mach mich sofort auf den Weg. Wo bist du?", versprach mein bester Freund und ich beschrieb ihm meine Umgebung. 'Alles klar, bleib wo du bist. Wir sind auf dem Weg.', wies mich Stephan an und ich stutze über das Wir. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr des Handydisplays fiel es mir wieder ein dass die Gruppen-Therapie Stunde noch nicht vorbei war und somit alle von meinem Unfall wussten.
Nach einigen Minuten stand ich auf und versuchte humpelnd weiter zu laufen, als ein Auto mit quietschenden Reifen und eingeschalteten Warnblinkanlage neben mir hielt. „Bleib stehen.", hörte ich Paul rufen und sah ihn besorgt auf mich zueilen. „Dich hab ich nicht angerufen.", brummend ließ ich mich trotzdem von ihm stützen. „Sei froh das er es ist und dein Vater Marie trösten muss.", wand Stephan ein und stellte sich an meine andere Seite. „Marie weint?", ich sah Paul mit großen Augen an. „Nicht wegen dir. Wir haben über das was deine leibliche Mutter gesagt hat, gesprochen. Marie fing an zu weinen, als sie davon erzählte wie du sie verteidigt hast.", zerstreute der Oberkommissar meine Sorgen und half mir mit Stephan zurück zur Parkbank.
„Ich schau mir mal deinen Knöchel an, dann entscheiden wir ob wir dich heim bringen oder in die Notaufnahme fahren.", erklärte Paul als er sich vor mich kniete und vorsichtig meinen verletzten Fuß in seine Hand nahm. „Es ist halb so wild.", presste ich zwischen meinen Zähnen hervor und griff nach Stephans Hand um sie fast zu zerquetschen. „Wenn du so weiter machst, muss ich euch beide gleich in die NA bringen.", murmelte mein Freund ohne seinen Blick von meinem Knöchel zu nehmen. Vorsichtig zog der mir erst den Schuh aus und danach die Socke. „Okay, das muss dringend geröntgt werden.", erklärte Paul und stand auf.
„Muss es nicht. Bisschen Eis und gut ist.", versuchte ich die Sache herunter zu spielen aber Paul schüttelte seinen Kopf. „Damit ist es wahrscheinlich nicht gut. Wenn du Pech hast, ist der Knöchel gebrochen.", erklärte er und hielt mir seine Hand hin. Ohne große Wiederworte ließ ich mich von ihm zu Stephans Auto bringen, der noch immer auf der Straße stand und stieg ein.

Kaum standen wir vor der Notaufnahme lief Stephan hinein und kam mit einem Rollstuhl wieder raus. „Drinnen wartet Frau Mertens schon auf dich.", informierte er mich als ich mich in den Rollstuhl setzte. „Bin ich dir nicht zu schwer zum schieben?", wollte ich besorgt von Paul wissen und sah ihn über meiner Schulter hinweg hin. „Nicht im Geringsten. Und so kann ich üben für den Fall das du in den Wehen liegst und ich dich in den Kreissaal bringe.", scherzte Paul und ich sah es in seinen Augen leuchten. „Bevor ihr jetzt aber anfangt dafür anders zu üben, lasst uns reingehen. Martin hat mir jetzt schon die dritte Nachricht geschickt.", lachte Stephan und hielt uns die Tür auf.

Unter dem Radar: Die Frau mit den Eisblauen AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt