„Warum habt ihr mich nicht angerufen?"

651 21 1
                                    

„Sag mal Marie? Gibt es nicht auch eine Schule für Erwachsene?", wollte ich von meiner Stiefmutter wissen, als ich am nächsten Nachmittag mit ihr in der heimischen Küche saß. „Es gibt eine Abendschule, warum?", harkte Marie nach und rührte im Kochtopf herum. „Irgendwo muss ich doch alles lernen. Ich meine, ich hab mich nach dem Einbruch wie ein kleines Kind bei Martin auf den Schoß gequetscht, dabei bin ich fast 30.", erklärte ich meine vorherige Frage und spielte mit dem Tischset vor mir. „Zu aller erst ist das völlig normal das du aufgelöst warst und dein Vater nimmt es dir bestimmt nicht übel, dass du auf seinem Schoß saßt. Was das lernen angeht, kann ich dir helfen. Ich war lange Lehrerin.", schlug meine Stiefmutter vor und lächelte mich breit an. „Aber warum arbeitest du nicht mehr als Lehrerin?", rutschte mir schneller raus als ich wollte, aber Marie schien mir die Frage nicht übel zu nehmen. „Ich hab mich nicht mehr in meiner Schule wohl gefühlt. Die Schüler wurden nur auf ihre Noten reduziert und es ging immer nur darum wie gut die Schule nach außen hin wirkte. Das die Kinder dabei einem zu großen Druck ausgesetzt worden waren, war scheinbar allen egal. Ich hab lange mit deinem Vater darüber geredet und wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass ich erst mal ein paar Jahre Pause mache und dann weiter schaue.", berichtete Marie und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. „Also würdest du mir alles beibringen? Von Anfang an?", ging ich auf Nummer sicher und Marie nickte lächelnd. „Wenn du willst können wir morgen anfangen. Ich hab noch ein paar Schulsachen oben in meinem Schrank. Martin wird sich freuen, wenn du ihm davon erzählst.", prophezeite meine Stiefmutter, aber ich schüttelte meinen Kopf. „Sag ihm und den anderen bitte noch nichts. Ich will erst mal schauen ob das was für mich ist und wie das läuft. Und falls das alles nichts wird, möchte ich ihn nicht enttäuschen.", bat ich und Marie schien einen Augenblick zu überlegen, bevor sie zustimmte.

„Mila Fuchs! Sofort runter kommen!", Martins Stimme dröhne kurz nach 19 Uhr durchs Haus. Stirnrunzelnd schloss ich das Mathebuch, das Marie mir nach unserem Gespräch gegeneben hatte, und stand aus dem Bett auf. Als ich die Treppe hinunter kam, sah ich meinen Vater, mit vor der Brust verschränkten Armen, im Flur stehen. „Wann wolltest du mir davon erzählen?", fuhr er mich direkt an und ich zog einen Augenbraue hoch. „Wovon redest du?", ich bleib stehen und sah zu Marie die nur mit den Schulten zuckte. „Davon das Paul sich gestern in seiner Wohnung geprügelt hat und nun ein Veilchen und eine Platzwunde hat. Davon dass ihr euch nicht an euer Versprechen gehalten habt und ich es erst heute auf der Wache erfahren habe. Davon dass ich verdammt froh bin das dir nichts passiert ist und Paul nichts schlimmeres.", am Anfang der Aufzählungen war Martin noch laut und sauer gewesen, wurde aber immer ruhiger und ließ auch seine Arme sinken. „Weil es im Grunde keine wilde Sache war. Wir haben noch einen Spaziergang gemacht und dann war alles gut.", versuchte ich ihn nun vollständig zu beruhigen. „Mit anderen Worten du bist wieder abgehauen und es fünf Oberkommissare gebraucht hat um dich zu finden.", korrigierte mein Vater mich und kam einen Schritt auf mich zu. Ohne es zu wollen wich ich zurück und Martin sah mich geschockt an. „Hast du Angst vor mir?", seine Stimme war ruhig dafür lag in seinen Augen eine Mischung aus Sorge und Trauer. „Nein. Das war ein Reflex, das musst du mir glauben. Ich weiß das weder du noch Paul, Marie oder jemand von deiner Wache mir so weh tun würde wir Hubert und Olga.", erklärte ich und ging einen Schritt auf meinen Vater zu. „Da kannst du dir sicher sein.", brummte Martin, griff einer meiner Hände und zog mich in seine Arme.
Nach dem gemeinsamen Abendessen, bei dem ich Marie von den Geschehnissen am vorherigen Abend berichtete, zog ich mich wieder in mein Zimmer zurück. Nur noch ein leichter rosa Film auf dem Kunststoffrahmen der Balkontür und des Fensters zeugten von der Tat der Einbrecher. Die Wände strahlten wieder so weiß wie vorher. Da ich mein Handy vorhin auf meinem Bett liegen lassen hatte, sah ich erst jetzt dass Paul versucht hatte mich zu erreichen und mir auch einen Haufen Nachrichten geschrieben hatte.
'Ich hab deinem Vater alles erzählt. Er scheint sauer zu sein.', war die erste Nachricht, gefolgt von 'Wenn was sein sollte, ruf mich an. Ich komme direkt vorbei.' und 'Scheinbar ist Martin schon zuhause. Melde dich bitte bei mir, ich mache mir Sorgen.'. Mit dem Handy in der Hand ließ ich mich nach hinten, auf dem Bett, fallen. Gerade als ich nach dem Mathebuch greifen wollte, fing mein Handy wieder an zu vibrieren. Mit einem Blick auf das Display setzte ich mich ruckartig auf. „Das ist nicht sein Ernst.", brummend lief ich die Treppe hinunter um meinen Vater vorzuwarnen. Auf dem Weg die Treppe hinunter versuchte ich die Tastensperre zu entfernen, war aber zu nervös dass ich mich immer wieder vertippte. „Paul kommt gleich, weil er denkt du würdest ausrasten.", fiel ich direkt mit der Tür ins Haus, als ich ins Wohnzimmer platzte. „Bitte?", Martin sah mich überrumpelt an und Marie löste sich aus seinen Armen und setzte sich kerzengerade hin. „Ja, ich hab mein Handy vorhin oben gelassen, als du mich gerufen hast und dann haben wir ja gegessen. Weil ich nicht auf seine Anrufe oder Nachrichten reagiert habe, ist Paul auf dem Weg hier her um mir zu helfen.", informierte ich die beiden und Martin fing an zu lachen. „Gut so.", freute er sich und lehnte sich wieder auf dem Sofa zurück. „Bitte?", stammelten Marie und ich wie aus einem Mund und sahen Martin verwirrt an. „Na, das bedeutet das er weiß, dass es Mist war dass ihr mich nicht gleich informiert habt. Und das er Respekt vor mir hat ist ein Bonus.", erklärte mein Vater und zog Marie wieder in seine Arme. „Also lässt du ihn, nach einer anstrengender Schicht, quer durch die Stadt fahren, weil du ihm eine Lektion erteilen willst?", fassungslos sah meine Stiefmutter ihren Mann an, der stolz nickte. Von der Reaktion verwirrt ließ ich mich auf den Sessel sinken und starrte mein Handy an.
In der Sekunde in der es an der Tür klingelt, fing Martin an die Wand vor ihm anzubrüllen. „Was fällt dir eigentlich ein? Denkst du ich kauf dir die Entschuldigung ab?!", rief er und deutete Marie an das sie dir Tür öffnen sollte. Kopfschüttend kam sie seiner Bitte nach, während mein Vater seine Schauspielkünste unter Beweis stellte. „Glaubt ihr wirklich ich bin so blöd? Warum habt ihr mich nicht angerufen? Ich sollte dich in dein Zimmer sperren und dir Stubenarrest geben, bis du 80 bist.", brüllte er und grinste mich dabei an. Sofort hörten wir wie jemand auf das Wohnzimmer zulief. „Martin beruhig dich. Das ist meine Schuld!", Paul kam ins Wohnzimmer geeilt und fiel fast hin als er abrupt stehen blieb. „Oh hallo Paul. Was verschafft uns die Ehre?", wie die Unschuld vom Lande sah Martin seinen Kollegen an, der uns völlig außer Atem anstarrte. „Was war das gerade?", wollte er wissen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Eine kleine Kostprobe von dem was passiert, wenn du das nächste mal deine Versprechen nicht hältst.", kam es trocken von meinem Vater und Paul atmete tief durch. „Mila? Alles gut?", wand sich mein Freund an mich und ich konnte nur nicken, denn ich war noch immer fassungslos über Martins Schauspiel. „Nimm Martin den Streich nicht übel.", bat Marie, die gerade in das Wohnzimmer kam, und reichte Paul eine gekühlte Wasserflasche. „Aber jetzt wo du hier bist, können wir uns die nächste Folgen unserer Serie ansehen.", schlug ich vor und stand auf. „Nichts lieber als das.", mit breiten Lächeln im Gesicht folgte mir Paul mir in mein Zimmer, wo ich das Mathebuch unbemerkt unter das Bett fallen lies.

Unter dem Radar: Die Frau mit den Eisblauen AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt