„Komm schon Mila. Für die anderen."

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Werden Martin, Paul und die anderen Mila noch rechtzeitig finden können?
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Ziellos lief ich in der Stadt herum und suchte nach einem Unterschlupf. Ich lief am Dom vorbei und sah vor meinem inneren Augen wie ich auf den Stufen saß und Paul und Stephan mich fanden. Wie sie sich mein Vertrauen erarbeiteten und mich mit zur Wache nahmen.
Ich sah wie wir sechs da saßen, kurz nachdem Paul sich mit Marcel geprügelt hatte. Wie erleichtert mein Freund mich ansah als ich ihn sanft geküsst hatte.

Als nächstes kam ich an der Gasse vorbei in der Martin mich gestellt hatte, als er erfahren hatte dass ich seine Tochter war. Nur war sie vollgestellt mit Müllcontainern. Dennoch sah ich auch diese Szene vor mir als wäre vor mir eine Leinwand. Als mir die Tränen über die Wange rannen, lief ich weiter.

Irgendwann fand ich mich vor der Wache wieder, alle Streifenwagen waren gerade unterwegs und ich sah das Licht im Büro meines Vaters leuchten. Wie lange es wohl dauern würde bis er meine Briefe fand? Oder würde Marie sie früher finden und Martin anrufen? Als hätte er meine Gedanken erahnt liefen in dem Moment Martin und Klaus aus der Wache und zum Privatwagen meines Vaters. Damit sie mich nicht entdeckten duckte ich mich hinter einen Altglascontainer und sah dem Wagen hinterher. Scheinbar hatte Marie die Briefe gefunden, ansonsten hätten die beiden die Wache nicht Hals über Kopf verlassen. Aber das bedeutete auch dass ich weniger Zeit hatte als ich dachte. So schnell ich konnte lief ich zum nahegelegenen Bahnhof und scannte die Umgebung nach Kontrolleuren ab.
„Warum müssen die Ausgerechnet heute so sehr kontrollieren?", brummte eine junge Frau ihrer Freundin zu als die beiden am Ticketautomaten standen. „Keine Ahnung. Aber einer der Kontrolleure meinte dass sie eine Frau suchen. Angeblich ist sie von Zuhause abgehauen", antwortete die zweite Frau und ich zog meine Mütze tiefer ins Gesicht. Was hatte ich mir auch gedacht, logisch dass alle nach mir suchten. Aber wenn ich die Stadt nicht verlassen konnte, musste ich irgendwie anders verschwinden.

Wieder irrte ich stundenlang in der Stadt umher und wich den umherfahrenden Streifenwagen geschickt aus. Überrascht stellte ich fest, dass die Automatismen von damals noch immer fest in meinem Unterbewusstsein verankert waren, denn ich fand mich vor dem Hochhaus wieder auf dem ich damals jede Nacht, die ich aus dem Haus durfte, saß und die Sterne beobachtet hatte.
Scheinbar hatte sich noch immer keiner um die kaputten Türen gekümmert denn ehe ich mich versah stand ich auf dem Dach und sah auf die hell erleuchtete Stadt zu meinen Füßen. Der Himmel war dunkel und die ersten Sterne waren zu sehen.
Den Rucksack legte ich neben der Kante ab und zog das Foto heraus. Mit zittrigen Fingern strich ich über die einzelnen Gesichter und hatte direkt die ersten Begegnungen mit den jeweiligen Personen vor mir. Wie mich Ben, Tom und Muri angelächelt haben, als sie mich gesehen hatten nachdem jemand das erste mal mein Zimmer verwüstet hatte. Wie Hannah und Jule mich zum shoppen mitgenommen hatte und ich mich zum ersten mal wohl in meinem Körper gefühlt hatte.
Wie Marie völlig nervös war, als ich das erste mal mit Martin nach Hause gekommen war.

Mit einem Mal war es als würde mein Gehirn all meine Emotionen abschalten. Als würde es nur noch die einzig richtige Handlung geben. Ich wusste dass ich so weit weglaufen konnte wie ich nur wollte, Hubert und seine Handlanger würden mich immer wieder finden. Und wenn nicht dann würden sie meine Familie dafür leiden lassen und dass konnte ich nicht zu lassen. Ich musste einen Weg finden um für immer zu verschwinden. Etwas tun damit das Leid meiner Familie für immer zu Ende war und sie nicht immer dachten sie würden mich irgendwo sehen. Nur mit einem endgültigen Ende würden sie wieder glücklich werden.
Meine Beine zitterten als ich auf die schmale Brüstung trat und runter sah. Das Gebäude hatte sieben Stockwerke, ich nahm an dass es somit um die 18 Meter hoch war. Wenn nicht mehr. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen als ich einen Stein hinunter warf und es gefühlte Ewigkeiten brauchte bis er unten aufschlug.
„Komm schon Mila. Für die anderen.", versuchte ich mir Mut zuzusprechen als ich die schwachen Sirenen hörte. Direkt sah ich wieder Paul vor meinen Augen. Wie er neben Klaus und meinem Vater stand und alle drei stolz ihre Uniformen trugen. Wie sie wohl reagierten wenn sie mich fanden? Ob sie froh waren dass sie mich los waren oder wären sie traurig? Wie würde Stephan und Hannah reagieren? Würde Stephan sich an meinen Rat halten und Jule endlich alles gestehen? Würde Hannah mich verstehen können?

In mir tobte ein Kampf. Ein Teil von mir wusste dass ich gehen musste. Am besten endgültig. Der andere Teil war sich sicher dass ich meinen Problemen so nicht entkommen konnte, ich würde sie nur auf die anderen Abwälzen. Dass meine Eltern, meine Freunde und vor allem Paul am Boden sein würden. Sie würden sich selber die Schuld geben und sich fragen was passiert wäre wenn sie sich anders verhalten hätten. Ich hoffe inständig dass ich alles in die Briefe geschrieben hatte, all meine Gefühle, meine Gedanken einfach all das was ihnen den Abschied erträglich machen könnte.

Unter dem Radar: Die Frau mit den Eisblauen AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt