„Nenn mich bitte nicht so. Er hat es getan."

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Immer stärkerfing ich an zu weinen während Marie mich auf ihrem Schoß hin undher wiegte. Durch mein lautes Schluchzen hörte ich es nicht, wiemein Vater an die Tür klopfte und seinen Kopf in den Raum steckte.„Gebt uns noch ein paar Minuten. Und bring mir bitte eineJogginghose von Mila und einen dicken Pullover.", raunte Marieihrem Mann zu, der sich direkt an den Weg machte.

„Ich kann dasPapa nicht erzählen. Er hat mir mir so oft gesagt dass ich aufpassensoll und trotzdem ist was passiert.", erklärte ich mit brüchigerStimme, da ich genau wusste, was meine Stiefmutter mich fragen würde.„Ich werde dich zu nichts zwingen, aber ich glaube die beidenkönnen sich bereits denken was passiert ist.", versicherte siemir, als es wieder an der Tür klopfte.
„Hier bitte. Nehmt euchdie Zeit die ihr braucht. Paul und ich warten im Wohnzimmer aufeuch.", informierte Martin uns und legte die Kleidung neben Marieund mir ab. Da ich meine Augen zusammen kniff sah ich den fragendenBlick meines Vaters nicht, spürte aber wie Marie nickte.
Esvergingen wieder ein paar Minuten, in denen ich in den Armen meinerStiefmutter lag, bis die Tränenbäche versiegten. Ich streckte einenArm aus und zog den Pullover an mich. „Das ist doch Papas...",nuschelte ich als mir sein Duft in die Nase stieg. „Willst dulieber einen andern?", harkte Marie nach, aber ich schütteltemeinen Kopf. Mit vorsichtigen Bewegungen zog ich mir erst den großen,weichen, Pullover an und danach die Jogginghose.
„Bereit?",Marie hielt mir ihre Hand hin und lächelte mich liebevoll an.„Bereit.", hauchte ich, nahm ihre Hand in meine und ging mit ihraus dem Badezimmer. Als wir in das Wohnzimmer kamen, sah ich Paul aufdem Sofa und Martin auf seinem Sessel sitzen. Beide hatten ihreEllenbogen auf die Knie gestützt und starrten stumm geradeaus.
Umsie auf uns bemerkbar zu machen, räusperte sich Marie.Augenblicklich schossen die Köpfe von den beiden Polizisten zu uns.„Wollt ihr was essen?", wollte mein Vater unbeholfen wissen undstrich sich mit den Händen über die Hose. „Kannst du mirvielleicht eine heiße Schokolade machen?", bat ich und lehnte michan meine Stiefmutter. „Natürlich. Wir haben auch noch Kekse imSchrank.", das Gesicht meines Vaters hellte auf da er nun wusstewie er mir was Gutes tun konnte. „Die Straße runter ist doch einSupermarkt. Sag was du willst und ich hole es dir.", Paul stand aufund sah mich abwartend an, als Martin bereits in die Küche ging.„Ich weiß nicht.", antwortete ich nuschelnd und Paul nickte.„Ich besorg dir einfach alles.", erklärte er und eilte ebenfallsaus dem Raum. „Komm, leg dich unter die Decke.", Marie zog michzum Sofa und legte mir, nachdem ich mich gesetzt hatte, die Bettdeckeum. „Ich glaube die beiden sind mit der Situation völligüberfordert. In ihrem Job lernen sie regelmäßig die Opfer vonKo-Tropfen kennen und malen sich jetzt die schrecklichsten Dinge ausdie dir passiert sein könnten. Damit will ich auf keinen Fall, dasswas dir passiert ist, klein reden aber ich bin froh dass nicht mehrpassiert ist.", Marie hockte sich vor mir hin und vermied es meinenBeine zu nahe zu kommen. Müde nickte ich und kuschelte mich tieferin die Decke ein.
Fünf Minuten später kam mein Vater mir einerextragroßen Tasse wieder in das Wohnzimmer und ich konnte schon vonweitem den Sahneberg und die Streusel darauf erkennen. „Paul hatgerade geschrieben, er ist steht schon an der Kasse und kommt gleichwieder.", informierte er uns und setzte sich in seinen Sesselnachdem er die Tasse vor mir abgestellt hatte. Ich bis mir auf dieUnterlippe und warf Marie einen raschen Blick zu, bevor ich nach derTasse griff und mich damit wieder in die Decke hüllte. Nur meinemleisen Schlürfen war es totenstill im Raum bis es an der Haustürklingelt und Paul wieder in das Haus kam.
„Ich wusste nicht wasdu willst oder brauchst, also hab ich gegoogelt und einfach dasgekauft.", erklärte Paul und hielt vier große Tüten in der Hand.„Willst du dass ich fett werde?", scherzte ich um ihm etwas vonder Sorge um mich zu nehmen. „Nein. Aber für mich wirst du immerwunderschön sein.", erwiderte Paul und sah mich besorgt an als ichmein Gesicht verzog. „Nenn mich bitte nicht so. Er hat es getan.",bat ich nuschelnd und nahm einen weiteren Schluck der heißenSchokolade. „Es tut mir leid.", entschuldigte sich mein Freunddirekt und sah Marie hilfeersuchend an.
„Pack doch erst mal dieTüten aus. Ich bin gespannt was Dr. Google in solchen Situationenrät.", forderte Marie und rieb sich neugierig die Hände. „Ähm...Okay.", Paul stellte die Tüten ab und zog nach und nach die Sachenheraus, „Ich hab Chips in verschiedenen Versionen. Kekse mit undohne Schokolade. Schokolade mit jedem erdenklichen Kakaogehalt.Welche mit Oreo, Schokoladenlinsen, Marshmallows oder Früchten undFruchtgummis in Süß und sauer geholt. Außerdem hab ich gefühlteine halbe Obstabteilung geholt.". Zum Schluss hielt er diekleinsten der vier Tüten hoch. „Hier drin ist Eis. Ebenfalls inverschiedenen Versionen. Am besten packe ich das eben in eurenTiefkühler.", nach einem kurzen Blick zu Martin ging Paul in dieKüche und mein Vater folgte ihm direkt.
„Was haben die beidenvor?", wand ich mich an Marie die nur nichts wissend mit denSchultern zuckte. „Ich muss denen gleich alles erzählen.",flüsterte ich ihr zu und stellte die nun leere Tasse auf denCouchtisch. „Du musst es nicht. Aber es wird dir gut tun, darüberzu reden.", erwiderte sie ebenfalls flüsternd und griff nachmeiner Tasse. „Martin? Milas Tasse ist leer!", rief sie und hieltmeine Tasse hoch. Überrascht sah ich sie an und Sekunden spätereilte mein Vater zu uns, riss seiner Frau beinahe die Tasse aus derHand und verschwand wieder in der Küche.

Während Martin undPaul in der Küche hantierten sammelte ich meinen Mut zusammen umihnen von den Geschehnissen der Party zu berichten. „Also es nichtdas spektakulärste, aber definitiv ein Seelen-Tröster-Essen.",Martin kam in den Raum und hielt neben einer aufgefüllten Tasseheißer Schokolade auch zwei Schüsseln in der Hand. Paul kam hinterihm her und hielt ebenfalls zwei Schüsseln fest. „Was ist dasdenn?", wollte meine Stiefmutter wissen und nahm Martin eine Schaleab. „Vanille-Eis mit frischen Früchten.", antwortete Paul undstellte eine seiner Schüsseln neben die Tasse. Unschlüssig stand erneben mir und biss sich auf die Unterlippe. „Setzt dich ruhig.",ich lächelte ihn zaghaft an. Mein Freund kam meiner Aufforderungdirekt nach und setze sich mit ausreichend Abstand zu mir auf dasSofa.
Martin, Marie und Paul machten sich direkt über den Inhaltihrer Schalen her und ich atmete noch einmal tief durch bevor ich zuerzählen begann.
„Er schien am Anfang total nett aber als eranfing mir immer wieder Komplimente zu machen hatte ich ein komischesBauchgefühl. Es hat ihn auch nicht interessiert dass ich ihm gesagthabe das ich mit den anderen da war und ein Freund habe. Irgendwannhat er mich gepackt und weg gezogen, meinte aber dass er sich nurentschuldigen wolle. Dann ist vieles verschwommen.", berichtete ichin meine Eisschale und zerquetschte ein Himbeere mit meinem Löffel.
„Er hat mich auf die Dachterrasse gebracht und meinte wirsollten da auf Hannah und die anderen warten. Aber irgendwann hat ermir seine Hand auf das Knie gelegt und mir widerliche Dingezugeraunt, wie das ich das auch wollen würde oder das Frauen esimmer und überall wollen würden. Als seine Hand dann... Ich binaufgesprungen und wollte von ihm weg. Dann war auf mal Paul da. Mehrweiß ich nicht.", ich sah weiterhin in meine Schale und versuchteden neuen Brechreiz zu unterdrücken.
„Ich muss es fragen. Hater mehr getan als dich zu begrapschen?", harkte mein Vater mitzitternder Stimme nach. „Nein, aber seine Finger waren....", ichbrach ab und sah panisch zu Marie. „Soll ich?", ging sie aufNummer sicher und ich nickte. „Er hat seine Hand unter ihr Kleidgeschoben bis er an ihrer intimsten Stelle war.", vollendete siemeinen Satz und ich schloss meine Augen.

Unter dem Radar: Die Frau mit den Eisblauen AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt