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Als ich das Hotelzimmer betrat wurde mir klar, dass ich meine Waffe lieber hätte mitnehmen sollen. Langsam ging ich zum Tisch und stellte den Kaffee und die Papiertüte mit Croissants darauf ab. Kendra hatte noch geschlafen, also hatte ich Frühstück besorgt. "Es ist unhöflich jemanden mit seiner eigenen Waffe zu bedrohen.", sagte ich ruhig. Kendra zog eine Augenbraue hoch. "Ich richte eine Waffe auf dich und dein einziges Problem damit ist, dass es DEINE ist?! Wer, beziehungsweise WAS bist du?" Ich seufzte, nahm einen Schluck Kaffee und wandte mich der Tüte mit den Croissants zu. Gerade als ich die Hand ausstreckte spürte ich den kalten Lauf meines Colts im Nacken. Ich hielt den Becher noch immer in der Linken, als ich herumwirbelte, Kendras Handgelenk packte und es leicht verdrehte, sodass die Waffe auf den Teppichboden fiel. Verblüfft stolperte sie zurück, stieß mit den Kniekehlen gegen die Bettkante und setzte sich ungewollt hin. Ich grinste sie an. "Du hast gesehen wie ich eine feuerspeiende Bestie bekämpft habe, ohne einen einzigen Kratzer abzubekommen. Was hast du erwartet?" "Antworten.", erwiderte sie kühl. Wieder seufzte ich. Diese Frau war süß, aber verdammt anstrengend. "Also gut.", sagte ich. Es war an der Zeit Camaels Plan in die Tat umzusetzen. "Du kennst bestimmt Legenden über Werwölfe, Vampire, Drachen und andere Ungeheuer. Legenden über Engel und Dämonen. Tja, das sind nicht nur Geschichten und Legenden. Diese Wesen existieren wirklich. Und ich scheine mit jedem einzelnen davon eine Blutfehde zu haben." So gut wie möglich erklärte ich ihr alles, während sie gebannt an meinen Lippen hing. Erzählte ihr von meinen Kämpfen, zeigte ihr meine Siegel und Narben. Als ich schließlich geendet hatte, stand Kendras Mund leicht offen. Sie starrte mich an, ich konnte spüren wie ihre Gedanken rasten. Das war Schritt eins gewesen. Kendra schluckte, dann sagte sie, mehr zu sich selbst: "Der heiße Anhalter, der mich vor einer Wyvern gerettet hat, ist also der Sohn eines Engels." "Ich bin also heiß?", fragte ich grinsend. Kendra errötete leicht, dann schüttelte sie den Kopf. "Du bist doof.", sagte sie. Ich lachte und stellte meinen inzwischen kalten Kaffee ab. Kendra stand auf und ging zum Tisch. Zeit für Schritt zwei. Mit zwei raschen Schritten ging ich auf sie zu, legte ihr eine Hand in den Nacken und küsste sie leidenschaftlich. Gleichzeitig öffnete ich meinen Geist, spürte ihre Verwirrung über meine Worte und die freudige Überraschung über den Kuss. Dann schloss sie die Augen und gab sich mir hin, alles andere rückte in den Hintergrund. Diesen Moment wählte ich, um eine Hand an ihre Schläfe zu legen und den komplexen Zauber zu wirken. Der erste Teil sorgte dafür, dass sie mich, meine Worte und unsere Begegnung vergaß. Der zweite Teil drängte mein Wissen über das Übernatürliche in ihr Unterbewusstsein, versiegelt bis sie es mal brauchen würde. Mehr Schutz konnte ich ihr nicht bieten, jeder andere Zauber wäre aufspürbar. Dann wirkte ich den letzten Teil meines Zaubers. Kraftlos sackte Kendra in meinen Armen zusammen. Vorsichtig legte ich sie aufs Bett und deckte sie zu. Ihr tiefer, ruhiger Atem bestätigte, dass ich Erfolg gehabt hatte. Sie schlief und wenn sie aufwachte würde sie nichts mehr wissen und den Drang haben sofort aufzubrechen. So war es besser. Am besten konnte ich sie beschützen, indem ich sie von mir fernhielt. Ich betrachtete Kendra ein letztes Mal und schnappte mir meine Waffe und meinen Rucksack. Einen kurzen Moment lang wünschte ich mir, alles hinter mir zu lassen und mit Kendra nach Los Angeles zu fahren. Doch dann dachte ich an Emilia und ein warmes Gefühl durchströmte meinen Körper, gemischt mit Schuldgefühlen. "Vielleicht in einem anderen Leben.", flüsterte ich und öffnete das Fenster. Vorsichtig stieg ich die Feuerleiter nach unten. Dann trat ich auf die Straße und mischte mich unter die Menschen. Kurz hatte ich überlegt meinen Mantel anzuziehen, aber ich war schließlich in Nevada, ein schwarzer Mantel wäre viel zu warm. Also spazierte ich durch die Gegend. Schatten gab es zwar genug, aber ich
brauchte ein wenig Zeit zum Nachdenken. Camaels Worte kamen mir in den Sinn. "Das Gedächtnis der Menschen ist komplex. Einfach daran rumzuspielen kann schwerwiegende Folgen haben. Deine Instinke werden dich leiten, aber erst musst Du dafür sorgen, dass sie alles was geschehen ist ausblendet." Deshalb der Kuss. Etwas besseres war mir auf die Schnelle nicht eingefallen. Aber jetzt würde ich mich erst mal ablenken. Als ich meinen Blick schweifen ließ, entdeckte ich ein Casino. Etwas daran zog mich magisch an. Bislang hatte hinter allem, was mich angezogen hatte etwas gesteckt, das das dringende Bedürfnis zu haben schien, die Wände mit meinen Eingeweiden zu dekorieren. Aber wieso sollte ich nicht mal Glück haben? Und wieso nicht in einem Casino?

Rogue HeroWo Geschichten leben. Entdecke jetzt