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Das grelle Licht hinter meinen Augen begann langsam zu verblassen, aber es dauerte noch einige, quälend lange Sekunden, bis ich wieder etwas erkennen konnte. Und diese paar Sekunden reichten, um mir bewusst werden zu lassen, dass ich im Moment gerade mal eine körperlose Gestalt war, unfähig zu handeln. Ich spürte die Macht des Zepters, spürte was es wollte. Ich sollte zusehen, keine Ahnung wieso, aber es musste wichtig sein. Irgendjemand wollte, dass ich erfuhr, was auch immer ich gleich erfahren würde, also sah ich zu.
Ich erblickte einen Mann, groß gewachsen, mit kurzen, blonden Haaren und hellblauen Augen, der wütend auf und ab lief. Seine strahlend weißen Gewänder waren elegant und vermutlich ziemlich unpraktisch, aber sein Gang war kraftvoll und federnd, wie der eines erfahrenen Kriegers. Schließlich blieb er stehen und stützte sich mit beiden Händen auf einem Tisch ab, an dem vier ähnlich gekleidete Männer saßen. In einer Ecke konnte ich noch eine Frau erkennen, deren Gesicht im Halbschatten lag, auch sie war vollständig in weiß gekleidet. "So kann es nicht weitergehen!", knurrte der Krieger, in einer mir vollkommen  unbekannten Sprache. Zu meinem Glück übersetzte meine Engelsseite, sonst wäre ich aufgeschmissen. Aber ein wenig mysteriös war es schon, ich hatte es mal getestet, mithilfe koreanischer und afrikanischer Filme. Und trotz all meiner neuen Fähigkeiten, hatte ich bislang nur die Sprachen verstanden, die ich auch früher schon gesprochen hatte. "Luzifer rüstet sich zum Krieg. Mehr als ein Drittel unserer Brüder und Schwestern ist ihm gefolgt und sie könnten jeden Moment angreifen. Wir müssen etwas tun!" Einer der Männer am Tisch erwiderte: "Das ist uns klar, aber wir dürfen nicht ohne den Willen des Herrn handeln. Unser Vater mag gütig zu uns sein, aber wenn wir uns ihm widersetzen, wird er uns verstoßen wie er es mit Luzifer tat. Du hast doch heute mit ihm gesprochen, konntest du nichts erreichen?" Ich täuschte mich wahrscheinlich, aber der Mann, der eben gesprochen hatte, kam mir bekannt vor. Und für gewöhnlich hatte ich ein ziemliches gutes Gedächtnis, besonders für Leute, die versucht hatten mich zu töten. Ich betrachtete die hohen Wangenknochen, die tiefblauen Augen und überlegte, während ich mir die anderen Männer anschaute, die ebenfalls groß, blond und blauäugig waren, auch wenn der blonde Schopf des einen am Ansatz etwas gräulich wirkte. War das etwa das alljährliche Treffen des Vereins der reinblütigen Arier? Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Bei dem Mann, der eben geantwortet hatte, handelte es sich um niemand anderen als Raguel, der Erzengel, der mir sein verschissenes Schwert in den Rücken gebohrt hatte. Und der Kerl mit dem grauen Haaransatz war Camael. Aber das musste bedeuten, dass mir gerade die Vergangenheit gezeigt wurde, schließlich war Camael schon vor Jahrhunderten gefallen. Und nun wurde mir auch klar, weshalb sich die Typen alle so ähnlich sahen. Bis auf Luzifer befanden sich alle Erzengel in diesem Raum. Hätte ich einen Körper gehabt, würden mir vermutlich die Haare zu Berge stehen, die Intensität der Macht in diesem Raum musste unglaublich sein. Der weibliche Engel stieß sich von der Wand ab, sah den Ersten an, der sich noch immer am Tisch abstützte und fragte: "Michael, wieso will Vater nicht, dass wir in den Krieg ziehen?" Mein Vertand brauchte noch einen Moment um das zu verarbeiten, aber diese Gesichtszüge und die ozeanblauen Augen hätte ich überall wiedererkannt. Leviathan. Aber wie konnte das sein, der Engel, der das unheilige Ritual vollzogen hatte war doch laut Aurus eine Seraphim gewesen. Es sei denn, der Himmel hatte verhindern wollen, dass es jemand erfuhr. Michael trommelte mit den Fingern auf den Tisch, seine Augen glühten und sein ganzer Körper war angespannt. "Vater weiß, dass dieser Krieg auch auf der Erde wüten würde und das missbilligt er. Er liebt die Menschen und will nicht, dass ihre junge Rasse durch einen Krieg ausgelöscht wird." Er stand auf, straffte den Rücken und ballte die Fäuste. "Aber ich habe einen Plan. Kein Mensch wird sterben, aber Luzifers Armee muss vernichtet werden. Ich werde nicht lange brauchen, höchstens zwei Tage. Raguel, Ariel, sorgt dafür, dass die Truppen bereit sind. Gabriel, Raphael, ihr verstärkt die Patrouillien. Camael, du unterrichtest Vater über unser Vorhaben. Lasst es im Himmel ausrufen: Wir ziehen in den Krieg!" Mit großen Schritten stürmte er aus dem Raum und meine Vision endete.
"Nath!", drang Leonie Stimme an mein Ohr. Ich stolperte fast zurück und musste mich am Altar festhalten um nicht zu stürzen. Meine Schläfen pochten und ich spürte, wie jahrtausendealtes Wissen durch meinen Kopf strömte. Wissen um das Zepter, um seine Macht und seine Funktionsweise. Es war die selbe Sprache, in der sich die Erzengel unterhalten hatten und wieder übersetze ich es wie automatisch. Aber diesmal erkannte ich wenigstens die Runen auf dem Zepter. Henochisch, die Sprache der Engel. Auf einmal stand Leonie neben mir und stützte mich. "Ist alles in Ordnung?", fragte sie mit leichter Besorgnis in der Stimme. "Klar", erwiderte ich. "Das war nur die Bedienungsanleitung. Magische Artfekte sind verdammt komisch." Ich schüttelte kurz den Kopf, dann warf ich einen Blick auf Magnus und die beiden Trolle Tak und 17. Leonie hatte sie inzwischen gefesselt und geknebelt. "Was sollen wir mit denen machen?", fragte die Wirtin, griff in den Rucksack, den sie auf dem Rücken trug und warf mir meine Umhängetasche zu. "Wir lassen sie hier", erwiderte ich, warf mir die Tasche um und öffnete sie. "Bereit?" Leonie nickte und ich schob das Zepter in die Tasche und verschloss sie. In diesem Moment wurde der Zauber des Zepters beendet, vermutlich hatten wir noch knapp fünf Minuten Zeit, bis es auffallen würde, je nachdem, ob Magnus jemandem davon erzählt hatte. Grinsend rückte ich die Umhängetasche zurecht und ging Richtung Treppe. Bevor wir zum Berghain aufgebrochen waren, hatte Jasmin die Tasche nach meinen Wünschen verzaubert. Sie schirmte nicht nur magische Artefakte ab, sondern war auch innen deutlich größer als von außen zu vermuten war. Im Grunde konnte ich darin alles aufbewahren, was durch die Öffnung passte. "Hey, Nath", sagte Leonie, die Tak und 17 betrachtete. "Weißt du eigentlich, wie unfair das ist?"  Als ich sie fragend ansah, fuhr sie fort: "Ich wurde seit meinem sechsten Lebensjahr im Kampf gegen das Übernatürliche ausgebildet. Als ich ein kleines Mädchen war, hat mein Vater mir von den brutalsten Vampiren der Geschichte erzählt. Geschichten über Vlad den Pfähler, der Menschen zum Spaß töten und foltern ließ, sich Blutsklaven hielt und ganze Dörfer niederbrannte. Geschichten über die ungarische Gräfin Elisabeth Báthory, die so viele junge Frauen getötet hat, dass man ihr nachsagte, sie würde in Blut baden. Als ich meinen Eltern erzählte, dass ich im Dunkeln Angst habe, gaben sie mir eine geladene Armbrust und in Weihwasser getauchte Pflöcke. Damals war ich acht Jahre alt! Seit elf Jahren trainiere ich ständig, versuche besser und stärker zu werden und du schaltest mühelos einen Hexenmeister und zwei Trolle aus, kämpfst gegen die mächtigsten Wesen der Schöpfung. Und egal wie stark ich werde, ich werde nie so mächtig werden wie du." Inzwischen waren wir im Büro angelangt und ich schloss die Geheimtür hinter uns. "Denkst du, es ist leicht für mich?", fragte ich. "Klar, ich bin verdammt stark, aber genau das ist ja das Gefährliche! Ich ziehe Ärger magisch an, durch mich leiden Menschen. Die Akademie wurde ausgelöscht, meine Mum ist… fort und hätte ich keinen Deal mit dem Tod gemacht, wäre Emilia immer noch tot. Meine Macht bringt nicht nur Verantwortung mit sich, sondern hauptsächlich einen Arsch voll Schmerz. Deine Eltern mögen vielleicht deine Kindeheit ruiniert haben, aber ich trage das Blut Luzifers in mir. Ich werde nie ein ruhiges Leben haben, egal wo ich bin, irgendein übernatürliches Mistvieh wird sich mit mir anlegen!" Leonie wirkte etwas betreten, als sie erwiderte: "Es… es tut mir leid. Um ehrlich zu sein, habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht wie es für dich sein muss. Du wirkst meistens einfach... locker und machst Witze." Ich grinste schief und ging zum Lichtschalter, wobei ich Leonie mit mir zog. "Naja, was anderes bleibt mir ja nicht wirklich übrig. Irgendjemand muss ja das Ende der Welt verhindern. Und jetzt los, ich hab da noch ein paar Dinge, die ich vorbereiten muss", sagte ich so fröhlich ich nur konnte. Ehe Leonie den gequälten Ausdruck in meinen Augen sehen konnte, schaltete ich das Licht aus und rief die Schatten. Für Selbstmitleid und Gefühlsduseleien hatte ich jetzt keine Zeit.

Rogue HeroWo Geschichten leben. Entdecke jetzt